«Ehrliches» Bottom-up-System führt ins erste klimaneutrale Basiscamp

Der Klimagipfel in Landquart zeigte, dass klimaneutrale Landwirtschaft ein Systemdenken verlangt – von Ernährung und Produktion über betriebliche Praxis bis hin zu politischen Rahmenbedingungen. Der Bündner Weg liefert erste Antworten und macht Mut für den nächsten Schritt.
Zuletzt aktualisiert am 4. Dezember 2025
von Renate Hodel
12 Minuten Lesedauer
2025 Klimaneutrale Landwirtschaft Graubuenden Klimagipfel Fachtagung Giorgio Hoesli
Am 28. und 29. November 2025 fand in Landquart im Kanton Graubünden der Klimagipfel für Landwirtschaft und Esskultur statt. (zvg)

Klimaneutrale Landwirtschaft beginnt nicht erst im Stall oder auf dem Feld, sondern auch auf dem Teller. Genau diese Systemsicht prägte den Auftakt des Klimagipfels in Landquart: Was essen wir künftig – und wie muss sich die Produktion dafür verändern?

Ernährung 2050: Die grossen Hebel liegen nicht nur auf dem Acker

Gabriele Schachermayr, Vizedirektorin des Bundesamts für Landwirtschaft, stellte gleich zu Beginn klar: Wer frage, «wie wir uns 2050 ernähren», frage nicht nach einer Prognose aus der Kristallkugel – sondern nach Leitplanken. Entscheidend sei, dass Ernährung Gesundheit und Umweltwirkungen gleichzeitig beeinflusst. Der Bund setze deshalb stärker auf eine Ernährungsstrategie, die Nachhaltigkeit ausdrücklich mitdenkt, auf einen Aktionsplan gegen Food Waste und auf die «Klimastrategie Landwirtschaft und Ernährung 2050», die das Ernährungssystem erstmals als Ganzes betrachtet.

Warum der Druck hoch ist, besser früher als später Lösungen zu finden, zeigt sie auch mit Blick auf das Klima: Die Schweiz erwärmt sich überdurchschnittlich stark und Extremereignisse, mehr Hitzetage und Trockenstress setzen unter anderem auch die Produktion unter Druck. In dieser Lage ist «klimaneutral bis 2050» laut Gabriele Schachermayr nicht nur politisches Ziel, sondern seit 2025 auch gesetzlich verankert. Für Landwirtschaft und Ernährung werden die Ziele in der Klimastrategie konkretisiert: Beitrag zur Versorgungssicherheit, deutlich weniger Emissionen entlang der Ernährung und eine Reduktion der landwirtschaftlichen Produktionsemissionen um 40 Prozent gegenüber 1990.

Das Einsparpotential sei gross, wenn mehrere Hebel zusammenkommen: weniger Food Waste, mehr Effizienz in der Produktion, gezieltere Nutzung der ackerfähigen Flächen für direkte menschliche Ernährung sowie eine Wiederkäuerhaltung, die zum Grasland passt. Gabriele Schachermayrs Kernbotschaft dabei: Das schafft keine Branche allein – es braucht Politik, Branche, Handel und Konsum.

Wie kann die Landwirtschaft zur Energiewende beitragen?

Wie gelingt die Energiewende in einem Bergkanton wie Graubünden – und welche Rolle spielt die Landwirtschaft dabei? Der Energiebedarf im Winter, Nutzungskonflikte rund ums Wasser und neue Ideen auf dem Hof zeigen: Die Wende braucht Systemdenken, Praxisbezug und regionale Lösungen.

 

Mehr Sonne, mehr Wind – und die Landwirtschaft mittendrin

Für Graubünden ist die Energiewende vor allem eine Winterfrage: Im Winter fehlt Strom, im Sommer gibt es eher Überschüsse. Thomas Schmid, Leiter des kantonalen Amts für Energie und Verkehr, zeigte, was das konkret bedeutet. Um Atomausstieg und den Abschied von Öl und Gas zu schaffen, müsse die Produktion erneuerbarer Energie stark wachsen. Für Graubünden leitete er ein zusätzliches Ausbauziel von rund 3 TWh ab: Bei der Wasserkraft etwa 0,8 TWh zusätzlich bei heute rund 8 TWh Produktion, dazu viel Solar und im Vergleich ein hoher Windanteil. Gleichzeitig machte er klar, warum das anspruchsvoll wird: Viele Gewässer seien bereits genutzt; weitere Projekte werden konfliktreicher – etwa wegen Gewässerschutz und Biodiversität. Und der Klimawandel verschärfe Nutzungskonflikte, besonders um Wasser: Zwischen Stromproduktion, Bewässerung und Beschneiung.

Thomas Schmid gab der Landwirtschaft dabei ein starkes Selbstverständnis mit: Sie sei längst Teil der Energiewende, weil sie über Photosynthese Energie bindet und in Biomasse umwandelt – und diese in Nahrungsmittel «veredelt». Der Beitrag liege deshalb nicht in der Nahrungsmittelkonkurrenz der anderen Art – «Essen gegen Energie» –, sondern in klugen Entscheiden, die zum Betrieb passen: Photovoltaik auf Dächern und Infrastrukturen, Holzenergie, punktuell Biogas oder Wärmenutzung – und gleichzeitig ein kritischer Blick aufs Input-Output-Verhältnis in der Produktion.

 

So gelingt Energieeffizienz am Betrieb

Wie das auf Betriebsebene angepackt werden kann, zeigte Energieexperte Michael Sattler. Energie sei nur ein Teil der landwirtschaftlichen Treibhausgasemissionen, aber ein Bereich, in dem Betriebe relativ direkt handeln können – oft mit finanziellem Nutzen, ordnete er ein. Dabei seien Effizienz und saubere Abläufe, Elektrifizierung und Eigenstrom von Bedeutung für die Betriebe. Wichtig werde zudem die Flexibilität: Strom ist nicht immer gleich günstig und nicht immer gleich klimafreundlich, weil Preis und CO₂-Belastung je nach Tageszeit und Saison schwanken – und weil dynamischere Tarife wahrscheinlicher werden.

Michael Sattler illustrierte das mit Projekten aus dem Klimaprojekt: Ein elektrisch betriebenes Arbeitsgerät ersetzt fossil betriebene Kleingeräte, kann mit Solarstrom geladen werden und reduziert Lärm sowie Bodendruck. Auf einem anderen Betrieb wurde der Futtermischwagen an die Photovoltaikproduktion gekoppelt: Eine Steuerung startet den Prozess erst, wenn genügend Solarstrom vorhanden ist und nutzt so Eigenstrom bis in die Betriebsabläufe hinein. Beim Thema Biogas betonte er die langen Vorläufe und Knackpunkte wie Substrate, Bewilligungen und Wärmenutzung – verwies aber auch auf den strategischen Vorteil: Biogas liefert steuerbaren Strom, also Energie genau dann, wenn sie gebraucht wird. Ergänzend thematisierte er Winterstrom und den Schnee als Produktionsbremse sowie den Klimanutzen von Bauen mit Holz und dem Weiterverwenden bestehender Bausubstanz.

 

Energie clever nutzen auf dem Hof

Wie sich Energieoptimierung im Alltag anfühlt, zeigte Landwirt Andrea Flütsch aus St. Antönien. Der Biobetrieb in über 1’400 Metern Höhe ist auf Grünland und Mutterkuhhaltung ausgerichtet, kauft kein Futter zu und will unabhängiger werden. Andrea Flütsch bezifferte seinen externen Energieeinsatz unter anderem mit rund 1’670 Litern Diesel und 400 Litern Benzin pro Jahr. Optimieren heisst für ihn: Weniger Transporte wie etwa durch ein grösseres Ladegerät und dadurch deutlich weniger Fuhren, kürzere Distanzen, in dem betriebsnahe Flächen priorisiert oder Land abgetauscht wird und strategische Entscheidungen im System – etwa die Arbeit stärker auf Heu auszurichten und so Diesel zu sparen, auch wenn dafür mehr Strom und Holz für die Trocknung nötig werden. Gleichzeitig setzt Andrea Flütsch auf Eigenproduktion und Elektrifizierung, inklusive bidirektionalem Laden, dessen Batterie als «Powerbank» selbst produzierten Solarstrom in die Nacht verschiebt.

Warum Graubünden ein eigenes Projekt startete

Gianluca Giuliani, Co-Leiter des Projekts «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden», erklärte, weshalb Graubünden einen eigenen Weg ging. Graubünden spiele traditionell eine Pionierrolle – auch, weil ein Bergkanton oft gezwungen sei, Wettbewerbsvorteile über Innovation zu suchen. Gleichzeitig seien die Voraussetzungen im Kanton aussergewöhnlich gut: Behörden, landwirtschaftliche Organisationen und Akteure arbeiten eng zusammen, dazu kommt eine politische und gesellschaftliche Unterstützung, die Experimente ermöglicht.

Das Projekt ist als Lernreise aufgebaut: Pilotphase als «Freiluftlabor», danach Expansion und langfristig ein neues Gleichgewicht bis 2050. In der Pilotphase machten 50 Betriebe freiwillig mit. Ziel war nicht, sofort die ganze Landwirtschaft mitzunehmen, sondern zuerst Knowhow und Vertrauen aufzubauen. Parallel wurden betriebliche Ideen dort unterstützt, wo sie entstehen: auf dem Hof.

Wachsen und trotzdem besser werden

Die ersten Bilanzierungen zeigten: Die grossen Emissionsblöcke liegen bei Vorleistungen wie etwa Futtermittel, Methan aus der Rindviehhaltung, Beiträge aus Böden sowie fossile Energie. Senken und erneuerbare Energie tauchen zwar als Plus auf – aber nicht im Ausmass, das die grossen Brocken einfach «wegzaubert». Genau deshalb spricht er von vielen kleinen Stellschrauben und einem systemischen Ansatz.

Besonders aufschlussreich waren die Fallbeispiele: Manche Betriebe senkten Emissionen klar durch strukturelle Änderungen. Andere wuchsen, emittierten absolut mehr, wurden aber pro Produkteinheit besser. Und einige investierten stark, sahen aber kaum Bilanzeffekte, weil bestimmte Wirkungen wie beispielsweise Humusaufbau kurzfristig schwer mess- oder anrechenbar sind. Für die nächste Phase – die Expansion Richtung 500 Betriebe – leitete Gianluca Giuliani ab, dass Freiwilligkeit zentral bleibe, Massnahmen zum Betrieb passen müssten – und dass es ohne angemessene Entschädigung nicht geht.

Wie gelingt die Transformation zu einer klimafreundlichen Nutztierhaltung?

Kühe sind Symbol der Landwirtschaft und des Alpenraums – und zugleich als Klimaproblem. Rund ein Drittel der landwirtschaftlichen Treibhausgasemissionen stammt aus der enterischen Fermentation, also aus der Verdauung der Wiederkäuer. Doch gerade in Graubünden prägen sie die Landschaft, halten Grasland offen und liefern hochwertiges Eiweiss aus Flächen, die sonst kaum genutzt werden könnten. Die Transformation zu einer klimafreundlichen Nutztierhaltung ist daher kein Entweder-oder, sondern eine Frage des Wie.

 

Methan senken – mit Futter und Feingefühl

Markus Rombach von der Agridea fasste es beim Klimagipfel so zusammen: «Wir haben Lösungen – aber sie bestehen nicht aus einer einzigen grossen Schraube, sondern aus vielen kleinen.» Neben Haltungsbedingungen und Tiergesundheit rückt die Fütterung in den Fokus. Sie entscheidet wesentlich darüber, wie viel Methan im Pansen entsteht.

Ein Ansatz sind Futtermittelzusätze. Seit 2023 darf in der Schweiz der Zusatz «Bovaer» eingesetzt werden. Er hemmt gezielt ein Enzym in der Methanbildung und kann laut Studien den Methanausstoss um 15 bis 30 Prozent senken. Im Bündner Klimaprojekt wird der Zusatz aktuell auf drei Milchviehbetrieben getestet. Das Ziel ist nicht nur, die Wirkung im Stall zu beobachten, sondern auch die Akzeptanz und Wirtschaftlichkeit zu prüfen – etwa, ob sich Leistung oder Milchqualität verändern und ob die Zusatzkosten tragbar sind.

Markus Rombach betont jedoch, dass die Fütterung insgesamt optimiert werden müsse, nicht nur durch Zusätze. Bereits kleine Schritte – etwa eine verbesserte Grundfutterqualität, angepasste Kraftfutterrationen oder eine gezielte Jungviehaufzucht – könnten die Effizienz erhöhen und Emissionen senken. «Kälber, die optimal mit Biestmilch starten, sind später gesünder und produktiver und jede Kuh, die länger lebt und mehr Milch aus dem gleichen Futter produziert, ist automatisch klimafreundlicher», betonte er. Ebenso wichtig sei es, importiertes Futter zu reduzieren und Nebenprodukte aus der Lebensmittelverarbeitung sinnvoll einzusetzen.

 

Zucht: Langfristiger Hebel mit grossem Potential

Während Fütterung kurzfristig wirkt, setzt die Zucht auf den langen Atem. Beat Bapst von der Qualitas AG machte klar: «Eliminieren lässt sich Methan nicht – reduzieren schon.» Die Forschung arbeitet daran, Tiere zu identifizieren, die von Natur aus weniger Methan ausstossen. Grundlage ist das Projekt «CH4COW», das von Bund und Kantonen – darunter auch Graubünden – mitfinanziert wird.

Dazu werden auf 64 Milchviehbetrieben in der Schweiz sogenannte Sniffer-Sensoren installiert, die den Methanausstoss im Melkroboter messen. Diese Daten werden mit Leistungs- und Gesundheitsmerkmalen verknüpft, um genetische Unterschiede sichtbar zu machen. Erste Ergebnisse zeigen: Zwischen einzelnen Tieren bestehen grosse Variationen – bis zu 100 Gramm Methan Unterschied pro Tag bei Holsteinkühen. Die Erblichkeit liegt bei 0,1 bis 0,35 – also in ähnlicher Grössenordnung wie bei Zellzahl oder Fruchtbarkeit. Damit sei eine gezielte Zucht auf «effizientere» Kühe langfristig möglich.

Solche Ansätze brauchen jedoch Zeit: Zwischen Zuchtwertdefinition und sichtbarem Effekt vergehen mehrere Generationen. Wichtig sei zudem die Verknüpfung mit anderen Merkmalen wie Futtereffizienz oder Gesundheit, um Zielkonflikte zu vermeiden. Beat Bapst betonte, dass Methanreduktion in der Zucht kein Ersatz, sondern eine Ergänzung zu Management- und Fütterungsmassnahmen sei.

 

Der Betrieb als Lernfeld

Wie diese Ansätze praktisch ineinandergreifen, zeigt der Pilotbetrieb von Fritz Mani in Chur. Der Landwirt beteiligt sich am Klimaprojekt und erprobt «Bovaer» als Futterzusatz in seiner 40-köpfigen Brown-Swiss-Herde. Das Mittel wird dem Mineralsalz beigemischt, um länger im Pansen zu wirken. Fritz Mani wollte unter anderem wissen, ob sich Unterschiede zwischen Winter- und Sommerfütterung zeigen.

Für Fritz Mani ist klar: «Wir Landwirtinnen und Landwirte sind die Ersten, die den Klimawandel spüren – also sollten wir auch etwas dagegen unternehmen.» Bereits vor dem Projekt hatte er Massnahmen umgesetzt: Schleppschlauchsysteme, ammoniakreduzierende LED-Lampen, eigene Eiweisserbsen im Futterbau. Auf der Alp fressen seine Kühe ausschliesslich Gras, was zwar geringere Milchleistung bedeutet, dafür aber weniger Ammoniak verursacht und Ackerfläche für die menschliche Ernährung freihält.

Fritz Manis Blick auf die «ideale Kuh» ist pragmatisch: Eine gesunde, langlebige, alptaugliche Brown-Swiss-Kuh mit guter Fruchtbarkeit und 8’500 bis 9’500 Kilogramm Milchleistung pro Jahr. Er verbindet also Wirtschaftlichkeit mit Tierwohl – und mit Klimaverantwortung.

Hoffnung aus der Praxis

Meisterlandwirt Marcel Heinrich vom Biohof Las Sorts und sein ehemaliger Lehrling Clau Deplazes gaben dem Thema eine persönliche, praktische Ebene. Clau Deplazes beschrieb die Spannung: Hoffnung geben, ohne die Klimakrise kleinzureden.

Marcel Heinrich nannte den Hitzesommer 2003 als Wendepunkt. Er wollte den Betrieb widerstandsfähiger machen und Emissionen senken. Ein Hebel ist für ihn die Vermeidung von Food Waste, gerade in der Direktvermarktung. Zentrum seiner Arbeit ist ausserdem der Boden. Er schilderte, dass Bodenbiologie in der Praxis oft unterschätzt wird. Im Projekt halfen Austausch und neue Ansätze wie beispielsweise der Einsatz von Komposttee und mikrobielle Anwendungen. Neben möglichen Effekten auf Pflanzengesundheit und Stallmilieu hatte das für ihn einen wichtigen Nebeneffekt: Man beobachte genauer, gehe wieder häufiger hinaus und diskutiere Erfahrungen.

Clau Deplazes betonte den Wert von Arbeitskreisen: Dort könne man offen über Misserfolge sprechen. Zudem entstand eine engere Verbindung zu Forschung und Beratung. So wird der Hof zu einem Ort, an dem Wirkung besser messbar wird – und wo Praxis und Wissenschaft voneinander lernen. Die Hoffnung liege nicht in einfachen Schwarz-Weiss-Lösungen, sondern in kluger Einbettung und Systemdenken.

Was kommt nach fünf Jahren «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden»?

Am Ende des Klimagipfels stand kein Schlussstrich, sondern ein Übergang. In der Podiumsdiskussion wurde deutlich: Die fünfjährige Pilotphase hat nicht «die» klimaneutrale Landwirtschaft geliefert – aber sie hat ein Fundament geschaffen, auf dem sich weiterbauen lässt. Und sie hat gezeigt, was es braucht, damit aus ambitionierten Zielen reale Veränderungen werden: Orientierung, Vertrauen und Rahmenbedingungen.

Welche Bedeutung hat der Boden in Zeiten des Klimawandels?

Boden ist mehr als «Untergrund»: Er produziert Futter und Lebensmittel, speichert Wasser, puffert Extremwetter – und er entscheidet mit, ob Kohlenstoff im System bleibt oder als CO₂ in die Atmosphäre zurückgeht. Am Klimagipfel wurde deutlich: Wer Klimaanpassung und Klimaschutz auf dem Hof ernst nimmt, kommt am Boden nicht vorbei.

 

Tiefe Wurzeln – starker Boden

Landwirt Chris Gilli aus Sufers näherte sich dem Thema sehr praktisch. Sein Betrieb liegt grösstenteils im Dauergrünland, viel davon über 2’000 Meter über Meer – Flächen, die eher Biodiversität als Ertrag maximieren. Im Klimaprojekt wurden auf 17 Betrieben Bodenproben gezogen: Dabei zeigte sich, dass Dauergrünland im Schnitt deutlich höhere Humusgehalte hat als Ackerflächen – teils 10 Prozent oder mehr. Für Chris Gilli war das die erste wichtige Erkenntnis: Im Grünland ist der Humus oft schon «gut», aber man darf sich darauf nicht ausruhen.

Aha-Momente brachte ihm vor allem der Blick in die Tiefe. An zwölf Standorten wurden Bodenprofile erstellt. Auf seinem Betrieb zeigte das Profil: Unter rund 20 bis 25 Zentimeter humosem Oberboden geht es weiter – Wurzeln reichen bis etwa 60 Zentimeter. Diese Tiefe ist entscheidend, wenn Trockenphasen häufiger werden. Entscheidend ist zudem, wie man den Boden behandelt: Spatenprobe, Aggregatstabilität und Infiltrationstest machten Unterschiede sichtbar, die man an der Oberfläche kaum sieht. Gerade Verdichtungen sind tückisch: Dann kann Wasser lange stehen bleiben, statt zu versickern – mit Folgen für Erosion, Befahrbarkeit und die Wasserversorgung der Pflanzen.

Chris Gilli zog daraus ein klares Praxisfazit: «Dauergrünland ist das Beste, was man einem Boden antun kann» – wegen dauernder Begrünung, hoher Durchwurzelung, Biodiversität und ohne Bodenbearbeitung. Potential sieht er trotzdem, vor allem im Management: Ein Gleichgewicht aus Nutzung und Düngung, eine gute Hofdüngeraufbereitung, sowie konsequentes Vermeiden von Bodenverdichtung – auch mit «leichten» Maschinen, wenn die Bedingungen zu nass sind. Eine besonders bodenwirksame Stellschraube ist die Nutzungsintensität: Zu tiefes Weiden oder Mähen zwingt die Pflanzen, Reserven aus den Wurzeln zu ziehen, statt Wurzeln aufzubauen. Mehr Wurzelwachstum heisst aber mehr Stabilität und bessere Trockenheitstoleranz.

 

Klimaschutz unter der Grasnarbe

Was sagt die Wissenschaft dazu? Alex Mathis von der ZHAW nahm den «Humushype» ernst, ordnete ihn aber nüchtern ein. Böden enthalten global betrachtet etwa doppelt so viel Kohlenstoff wie die Atmosphäre. Wichtig ist aber: Nicht jeder eingebrachte Kohlenstoff bleibt langfristig. Organische Substanz wird zu einem grossen Teil wieder abgebaut und «veratmet» – dauerhaft stabil wird vor allem der Anteil, der über Wurzeln und Bodenmikrobiologie in stabile Formen übergeht. Neue Forschung zeigt, dass abgestorbene mikrobielle Biomasse wesentlich zum langfristigen Humusaufbau beitragen kann – also nicht nur Pflanzenreste, sondern das Bodenleben selbst.

Alex Mathis machte zugleich auf Zielkonflikte aufmerksam. Sobald organisches Material gelagert oder kompostiert wird, entstehen Treibhausgase wie Lachgas und teils Methan sowie Ammoniakverluste – abhängig von Temperatur, Feuchtigkeit und Sauerstoff. Kompostierung kann klimatisch trotzdem Vorteile bringen, vor allem weil bei der Ausbringung auf dem Feld weniger problematische Emissionen auftreten als bei frischem Mist und weil sich Nährstoffe besser nutzen lassen. Entscheidend seien Systemgrenzen und die Herkunft des Kohlenstoffs: Zukaufen und «verschieben» ist nicht dasselbe wie echte CO₂-Entnahme aus der Luft.

 

Kompost als Strategie

Wie Kompostierung als Bodenstrategie gelebt wird, zeigte Biolandwirt Flurin Frigg aus Rodels. Für ihn ist Kompost kein Soloprojekt, sondern ein Zahnrad im Betriebssystem: Tiergerechte Graslandnutzung, reduzierte Bodenbearbeitung, standortangepasste Fütterung – und dazu «Bodennahrung» in Form von hochwertigem Kompost. Auf der landwirtschaftlich geführten Kompostanlage verarbeitet der Betrieb Grüngut, Mist und Strukturmaterial. Ziel ist eine aerobe Kompostierung in eher kleinen Mieten, damit keine Sauerstoffarmut entsteht. Als «Starter» kommt alter Kompost dazu, um Mikrobiologie in neue Mieten zu übertragen.

Der Nutzen zeigt sich für Flurin Frigg vor allem im Boden und in der Praxis: Kompost ist ein Langzeitdünger, lässt sich flexibler ausbringen, verbessert die Bodenstruktur und unterstützt die Wasserspeicherung – genau das, was bei Starkregen und Trockenphasen zählt. Klimaschutz und Anpassung laufen hier zusammen: Ein lebendiger, gut durchwurzelter Boden ist die beste Versicherung gegen Wetterextreme – und ein Fundament, damit die Landwirtschaft ihren Klimapfad überhaupt gehen kann.

Erfolg messen – und die Grenzen von Zahlen verstehen

Ein wiederkehrendes Thema war die Bilanzierung. Daniel Bretscher von Agroscope erinnerte daran, dass Landwirtschaft kein Motor ist, bei dem man hinten Abgase misst und damit alles erklärt. Er verglich Klimabilanzen mit Navigation auf See: Zahlen sind ein Kompass – hilfreich zur Orientierung, aber immer mit Unsicherheiten, Momentaufnahmen und externen Einflüssen verbunden. Gerade deshalb dürfe man sie nicht als Urteil verstehen, sondern als Werkzeug, um den Kurs zu justieren. Gleichzeitig betonten die Diskutierenden, warum Zahlen politisch so wichtig sind: Wo öffentliche Mittel fliessen, werden Wirkungen eingefordert – und die müssen verständlich kommunizierbar bleiben.

Séverine Curiger vom Landwirtschaftsbetrieb Gravas in Tinizong brachte die Perspektive aus dem Alltag ein: Für ihren Betrieb war die «Klimabrille» besonders wertvoll bei grossen Entscheiden – etwa beim Stallumbau. Der Prozess habe geholfen, nicht einfach auf maximale Tierplätze zu planen, sondern den Betrieb gesamthaft weiterzudenken. Und: Viele Schritte gelingen nur, wenn man Verbündete hat – Nachbarn, Fachleute, Partnerbetriebe. Damit rückte sie ein zentrales Projektergebnis in den Vordergrund: Vertrauen, Zusammenarbeit und Mut, Dinge auszuprobieren.

Noch nicht auf dem Klimagipfel, aber im Basecamp – die Reise geht weiter

Daniel Bretscher sprach denn auch nicht von einem erreichten Ziel, sondern von einem Basecamp: Der Rucksack sei gepackt, Wissen aufgebaut, ein gutes «Wetterfenster» geschaffen. Nachhaltigkeit sei eine Tour über viele Etappen – man nähert sich ihr an, ohne je einen Endpunkt zu setzen. Peter Vincenz, Direktor am Plantahof, knüpfte daran an und beschrieb, wie viel Energie in den Arbeitskreisen und Jahrestreffen spürbar wurde: Wenn etwas funktioniert, entstehen sofort neue Ideen. Dieses Feuer zu erhalten – durch Austausch, Weiterbildung und sichtbare Beispiele – wurde als Schlüssel für die nächste Phase genannt.

Führt der Weg zur klimaneutralen Landwirtschaft über Einzelmassnahmen oder über ein Umdenken im System?

Auf dem Weg zur klimaneutralen Landwirtschaft stehen meist zuerst Massnahmen im Vordergrund: mehr Effizienz, weniger Emissionen, neue Technik. Am Klimagipfel in Landquart zeigte sich jedoch: Einzelmassnahmen wirken oft nur dann nachhaltig, wenn sie Teil eines grösseren Systemdenkens werden. Drei Beiträge machten diese Spannung greifbar – Agroforst als Strukturwechsel auf der Fläche, regenerative Landwirtschaft als Perspektivenwechsel im Boden und eine Betriebsleiterin, die beschrieb, wie ein Projekt die eigene Haltung verändert hat.

 

Agroforst: Massnahme mit Systemeffekt

Sonja Kay von Agroscope ordnete Agroforst als eine der wenigen Landnutzungssysteme ein, die gleichzeitig Klimaschutz und Klimaanpassung adressieren können. Agroforst bedeutet die gezielte Integration von Bäumen oder Gehölzen in landwirtschaftliche Nutzflächen – als Baumreihen im Acker, als Weidesysteme mit Beschattung oder als Heckenstrukturen. Sonja Kay betonte: Agroforst ist kein exotisches Zukunftsmodell, sondern in der Schweiz traditionell verbreitet – etwa in Feldobstbeständen, Wytweiden oder Kastanienselven. Insgesamt machen traditionelle Agroforstsysteme laut einer Schätzung von Agroscope noch rund 8 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche aus und moderne, mechanisierungsoptimierte Systeme umfassten aktuell etwa 600 Hektaren – Tendenz steigend.

Spannend war der wissenschaftliche «Realitätscheck»: Eine grosse Literaturauswertung aus 42 Meta-Analysen mit rund 1’500 Einzelstudien zeigt für viele Indikatoren überwiegend positive Effekte – besonders bei Bodenqualität und Bodengesundheit, aber auch bei Biodiversität, Erosionskontrolle und teils Produktion. Gleichzeitig bleiben Wissenslücken, etwa bei Ökonomie und sozialen Effekten. Aus der Praxis wurden als Vorteile neben Klimaleistungen auch Tierwohl durch Schattenspendung, Landschaftsqualität und Produktdiversifizierung genannt – als Hürden dagegen vor allem Komplexität im Management, mehr Arbeitsaufwand und administrative Fragen.

Mareike Jäger von der ZHAW ergänzte mit Zahlen aus der Bündner Begleitforschung: Schon bei einer theoretisch kleinen Ausdehnung von Ackerfläche und Dauergrünland, die agroforstlich genutzt würden, lasse sich über Jahrzehnte messbar CO₂ in holziger Biomasse speichern. Zusätzlich zeigten Biodiversitätsuntersuchungen im Umfeld junger Agroforstparzellen erste Hinweise auf mehr Habitatvielfalt, etwa bei Wildbienen und Bodenarthropoden nahe den Baumstreifen.

Agroforst ist damit mehr als «eine Massnahme»: Bäume verändern Mikroklima, Wasserhaushalt, Biodiversität und langfristig auch Kohlenstoffspeicherung – also mehrere Systemebenen gleichzeitig.

 

Regenerative Landwirtschaft: Vom Rezept zur Haltung

Simon Jöhr, Berater und Landwirt, erklärte, weshalb regenerative Landwirtschaft viele Produzierende fasziniert: Sie ist weniger ein fixes Paket als ein Rahmen, der den Fokus auf die Regeneration von Böden und Ökosystemen legt. Zentral ist für ihn nicht die Grünmasse, sondern die Wurzelmasse: Humusaufbau geschieht vor allem über Wurzeln im Zusammenspiel mit Bodenleben. Daraus folgen Prinzipien wie ganzjährige Bodenbedeckung, vielfältige Begrünungen, Mischkulturen und Untersaaten – und die klare Ansage: Wenn Boden zu lange nackt ist, leidet das Bodenleben massiv.

Simon Jöhr plädierte auch für einen Kulturwandel in der Praxis: wieder mit Spaten beobachten statt nach Schema bewirtschaften, Überfahrten und Verdichtungen vermeiden, Hofdünger aufbereiten, Gründüngungen rechtzeitig integrieren. Er betonte, dass präzisere Bodendaten und echtes Hinschauen oft mehr bringen als «Pflichtanalysen», die nur für Kontrollen gemacht werden. Seine Botschaft: Regenerativ ist nicht «weniger Landwirtschaft», sondern mehr Biologie, mehr Beobachtung und mehr Systemverständnis.

 

Wie ein Projekt Menschen verändert – und damit Systeme

Wie Systemdenken in einem Betrieb ankommt, schilderte Susan Grest. Ihre Ziegenmilch ist zwar gefragt, doch sie stellte sich die Frage, ob das Modell mit viel Kraftfutter ökologisch und wirtschaftlich Sinn macht. Sie schrieb vor dem Projekt für jede Ziege Futterpläne, setzte Kraftfutter und Leistungsfutter ein – und merkte: Die Mehrmilch deckt zwar Futterkosten, aber nicht die zusätzlichen Aufwände, Gesundheitsrisiken und die Belastung in intensiven Phasen. Ihr Schritt war radikal und zugleich konsequent: Umstellung auf hofeigenes Grundfutter. Im Klimaprojekt suchte sie Gleichgesinnte – und fand im Thema Boden «das fehlende Puzzleteil».

Susan Grest beschreibt, wie Bodenkurse zur regenerativen Landwirtschaft ihren Blick veränderten: Wenn Bodenleben und Mikrobiologie aktiviert werden, können Pflanzen nährstoffreicher werden – als Basis für Futter ohne Kraftfutter und für Lebensmittel mit höherer Nährstoffdichte. Entscheidend war für sie, dass Effekte sichtbar werden: messen, vergleichen, lernen. Sie setzte auf Massnahmen wie etwa «Mob Grazing» mit Übersaat oder die Fermentation von Mist mit Mikroorganismen, Kohle und Gesteinsmehl. Für Susan Grest ist das zentrale Ergebnis: Sie arbeitet nicht gegen Naturprozesse, sondern mit ihnen – und erlebt dadurch mehr Freiheit, Resilienz und Motivation.

Was jetzt folgen muss: Mehr Spielraum, weniger Angst vor Fehlern

In der Diskussion wurde offen ausgesprochen, dass Transformation nicht am Wissen scheitert, sondern oft an fehlender Luft zum Atmen: Zeit, Geld, Risikoabsicherung. Daniel Bretscher nannte es einen Marathon, für den alle trainieren müssen – Betriebe, Politik, Konsum und Verarbeitung. Damit Betriebe den «Abenteuergeist» entwickeln können, brauche es Handlungsspielräume und die Möglichkeit, auch Rückschläge auszuhalten. Peter Vincenz betonte in diesem Zusammenhang die Rolle des Plantahofs als Vorbild- und Bildungsort: nicht nur erklären, sondern befähigen – mit Demonstrationen, Beratung und einer Lernkultur, die Scheitern nicht bestraft, sondern als Teil der Entwicklung versteht.

Auch Daniel Buschauer vom Amt für Landwirtschaft und Geoinformation des Kantons Graubünden blickte nach vorn: Die Pilotphase habe Innen- und Aussenwirkung entfaltet, das Thema sei in der Landwirtschaft angekommen. Nun gehe es darum, die Grundlagen für das Ausrollen zu nutzen und das Projekt mit den politischen Rahmenbedingungen zu verzahnen – etwa mit dem kantonalen Klima- und Innovationsgesetz. Wichtig sei, neue Förderungen so zu gestalten, dass kein administratives «Nebensystem» entsteht, sondern dass man so nah wie möglich an bestehende Instrumente andockt. Gleichzeitig sollen Forschung und Entwicklung weiter Teil des Weges bleiben – als «Freiluftlabor», in dem Massnahmen getestet, angepasst und in die Breite übersetzt werden können.

Ein gemeinsames Bild für die nächsten Jahre

Zum Schluss zeichnete das Podium eine Zukunft, die nicht durch eine einzelne Technologie geprägt ist, sondern durch Vernetzung – zwischen Boden und Pflanze, Betrieb und Forschung, Produktion und Gesellschaft. Klimaschutz in der Landwirtschaft, so Daniel Bretschers Fazit, ist nicht nur eine technische Frage, sondern vor allem eine Frage des Mindsets. Die Pilotphase hat dieses Mindset in Graubünden sichtbar gemacht. Was nun folgt, ist die eigentliche Bewährungsprobe: Aus Pionierarbeit eine breite Bewegung zu machen – Schritt für Schritt, mit Mut, Wissen und einem System, das Veränderung ermöglicht.

Denn der Bündner Weg ist kein Shortcut. Aber er zeigt, wie Klimaziele, Betriebspraxis und Lernen zusammenkommen können – wenn man Emissionen nicht nur zählt, sondern Veränderung ermöglicht.

Inhalte zu diesem Thema

Angebote zum Thema

Dossiers zum Thema