Ira und Vlad blicken in eine unsichere Zukunft

Die Geschwister Ira und Vlad weilen für unbestimmte Zeit in der Schweiz – solange in der ukrainischen Heimat der Krieg tobt, ist kaum an eine Rückkehr zu denken. Auf dem Riedenholzhof in Zürich haben die beiden bei Küchlers ein temporäres Zuhause gefunden.
Zuletzt aktualisiert am 13. Oktober 2022
von Renate Hodel
5 Minuten Lesedauer
Riedenholzhof Vlad Ira Rho

Ira und Vlad kommen aus Novopetrivka, einem Dorf in der Oblast Mykolajiw im Süden der Ukraine, rund 60 Kilometer von der Stadt Cherson entfernt, die von Russland illegal annektiert wurde (Anmerkung der Redaktion: Die russischen Truppen zogen nach Verfassen des Artikels aus der Stadt Cherson ab und die ukrainischen Streitkräfte konnte die Stadt und die umliegenden Dörfer befreien). Mutter und Vater sowie viele Freunde sind noch dort und sind fast täglich mit Bombardierungen konfrontiert.

«Es wird fast jeden Tag geschossen und unsere Familie muss immer wieder Schutz im Keller suchen», erzählt Vlad. Ira und Vlad telefonieren möglichst jeden Tag mit ihren Eltern und müssen sich jeden Tag von neuem mit der Situation auseinandersetzen, dass zuhause das schlimmste passiert sein könnte. Während die beiden am Küchentisch auf dem Riedenholzhof in Zürich sitzen, lässt sich nur erahnen, wie schwierig es für die beiden tatsächlich ist.

Finanzielle Unterstützung aus der Ferne

Vlad kam im September 2021 über Agrimpuls für ein vierzehnmonatiges Landwirtschaftspraktikum in die Schweiz. Er möchte in seinem Heimatland später einmal in der Landwirtschaft arbeiten. «Er hat meinen Mann Sepp schon manchen Abend gelöchert und mit ihm angeregt über Grassamenmischungen und Bodenzusammensetzung diskutiert», erzählt Sonja Küchler vom Riedenholzhof. Nach dem russischen Überfall letzten Februar war Vlad allerdings drauf und dran, seine Sachen zu packen und zurück in die Ukraine zu reisen, um sich der ukrainischen Armee anzuschliessen und gegen das russische Militär zu kämpfen.

Die Betriebsleiterfamilie vom Riedenholzhof rund um Sonja und Sepp Küchler konnten ihn schliesslich überzeugen, in der Schweiz zu bleiben und seiner Familie zu helfen, indem er ihr Geld schickt. «Wir haben Vlad kurzerhand auch anerboten, seiner Schwester das Gastrecht zu gewähren, damit er sie in die Schweiz holen konnte», erklärt Sonja. Denn als der russische Angriffskrieg begann, studierte Ira noch Wirtschaft in Kyjiw. Sie flüchtete dann nach Polen, von wo aus ihr Vlad schliesslich einen Flug in die Schweiz organisiert hat.

Behördliche Hürden

Während der Aufenthalt von Vlad aber über Agrimpuls schon Monate vorher geregelt und nach geltendem Arbeitsrecht und Ausländerregelung aufgegleist wurde, gestaltete sich die Situation rund um Ira undurchsichtiger: «Wir beschäftigen neben Vlad noch einen weiteren Angestellten aus der Ukraine und von daher waren der Bedarf und die finanziellen Mittel, die wir in diesem Bereich aufbringen können, schon ausgereizt», erklärt Sonja Küchler.

Die junge Frau einfach auf dem Hof wohnen zu lassen und sie ein bisschen im Haushalt mithelfen lassen, war aber auch keine Option – aus Angst vor möglichen Sanktionen. «Als Landwirtschaftsbetrieb werden wir nicht gleich behandelt wie Private, die in ebendiesen Zeiten auch Geflüchtete aufgenommen haben und die in den Haushalten ihrer Gastfamilien sicher auch ab und zu aushelfen», führt die Bäuerin aus. Auf dem Betrieb werde regelmässig kontrolliert, ob die arbeitsrechtlichen Gesetze eingehalten würden. «Wenn eine Kontrollperson bei einem solchen Besuch Ira beim Erdbeerpflücken angetroffen hätte und wir keine eingeholte Arbeitsbewilligung hätten vorlegen können, hätte man uns womöglich Schwarzarbeit oder gar Ausbeutung vorgeworfen und uns mit einer hohen Busse belegt», schildert Sonja Küchler.

Als Landdienstlerin im Einsatz

Entsprechend hätten sie sich um eine geregelte Situation bemüht und diese temporär in Form eines Agriviva-Einsatzes gefunden. Bis dahin war es aber ein holpriger Weg: Als Ira im Mai auf den Riedenholzhof kam, bemühte sich Sonja Küchler sofort darum, für sie den Schutzstatus «S» zu beantragen. «Schon die Anmeldung und die Registration waren aber kompliziert und in Zürich war alles ausgebucht», erzählt die Bäuerin und ergänzt: «Zum Glück kennen wir ein pensioniertes Ehepaar, das mit Ira nach Basel gefahren ist, um die Anmeldung zu machen und uns somit enorm entlastet hat.» Allerdings habe es dann bis Juli gedauert, bis sie den entsprechenden Ausweis und alle Dokumente endlich bekommen hätten und Ira schliesslich den zweimonatigen Agriviva-Einsatz beginnen konnte. «Wenn Ira mir vorher jeweils etwas half, war es immer sehr schwierig abzuschätzen, ob wir dabei mit dem Gesetz in Konflikt kommen oder nicht», erläutert Sonja Küchler. Die geregelten Abmachungen im Rahmen des Agriviva-Einsatzes habe genau diese Grauzone abgedeckt: «Sie wohnt bei uns, hilft aber auch etwas mit und kriegt dafür neben Kost und Logis ein kleines Sackgeld.»

Riedenholzhof Ira Vlad Sonja Kuechler Rho

Ukrainische Küche auf dem Riedenholzhof

Tatsächlich ist Ira die erste «Landdienstlerin» aus der Ukraine, die einen solchen Einsatz absolvierte, nachdem das zuständige Amt des Kantons Zürich die Bewilligung erteilt hat. «Ich habe vor allem im Garten, in der Küche und im Hofladen ausgeholfen», erklärt die junge Frau. Und Ira hat auf dem Riedenholzhof auch die ukrainische Küche eingeführt – sehr zur Freude ihres Bruders. «Was nun nach dem Einsatz kommt, wissen wir allerdings nicht» sagt Sonja Küchler und bedauert, dass der Agriviva-Einsatz nach maximal acht Wochen nicht verlängert werden kann: «So wäre sie automatisch unfallversichert und wir wären arbeitsrechtlich abgesichert.»

Ira selbst möchte über den Agriviva-Stage hinaus auf dem Riedenholzhof bei ihrem Bruder bleiben. «Die Frage ist allerdings nicht, was ich will, sondern was überhaupt möglich ist», sagt sie. Damit sie mehr Perspektiven hat, könnte Sonja Küchler sich vorstellen, dass Ira vielleicht noch einen Deutschkurs besucht. «Zu Beginn mussten wir noch auf Übersetzungsprogramme zurückgreifen, mittlerweile versteht sie aber schon ganz gut Deutsch», schmunzelt Sonja.

Arbeitskontingent ist beschränkt

Bei Vlad hat in der Zwischenzeit das Rösschenspiel rund um die Beantragung des Schutzstatus «S» auch gegonnen – noch hat er das Papier nicht erhalten. «Auch hier erlebten wir mit den Ämtern ein bisschen einen Bürokrieg – wir wurden ständig weiterverwiesen und uns wurde gesagt, dass Vlad den Schutzstaus ‹S› erst beantragen könne, wenn das Praktikum vollständig abgelaufen sei», schildert Sonja Küchler. Agrimpuls habe sich schliesslich helfend eingeschaltet, damit die Beantragung noch vor Praktikumsende aufgegleist werden konnte und Küchlers damit eine Arbeitsbewilligung beantragen konnten, um Vlad auch weiter beschäftigen zu können. Anstatt einen neuen Praktikanten einzustellen, behalten ihn Küchlers als landwirtschaftliche Arbeitskraft auf dem Hof. Auch Ira kann mit dem Schutzstatus «S» in der Schweiz arbeiten, auf dem Hof können sie Küchlers nach dem Agriviva-Stage allerdings nicht mehr anstellen.

Unsichere Zeiten

Trotzdem darf auch Ira weiter auf das Gastrecht bei Küchlers zählen: «Ira kann sicher hier wohnen bleiben, wir müssen einfach die arbeitsrechtliche Situation im Auge behalten und dafür eine Lösung finden», sagt Sonja Küchler. Und dass seine Schwester bleiben kann, ist natürlich auch für Vlad eine enorme Erleichterung. «Für mich ist wichtig, dass Ira hierbleiben kann – ob und wo sie allenfalls arbeiten kann, sind Probleme, die wir Schritt für Schritt lösen», meint er und ergänzt: «Wenn wir weiter zwischendurch ukrainisch essen können, fühlt es sich ausserdem ein ganz wenig an wie zuhause.»

Trotzdem bleibt die Situation unsicher und sehr belastend – sowohl für Ira und Vlad als auch für Küchlers. «Wir bekommen wenig mit, was bei ihnen zu Hause läuft und wollen sie auch nicht immer daran erinnern», erzählt Sonja. Oft sei aber an ihrer Stimmung abzulesen, ob die Situation gerade besonders angespannt sei oder nicht. «Das Schlimmste ist, dass wir nicht wissen, wann wir wieder zurückkönnen», ergänzt Ira. Gleichzeitig sei es müssig, über Perspektiven nach dem Krieg zu diskutieren, meint Vlad: «Nach dem Krieg wird in unserer Heimat wohl sowieso alles anders sein.»

Interview mit Monika Schatzmann, Leiterin Agrimpuls

Interview mit Monika Schatzmann, Leiterin Agrimpuls

LID: Die Praktikantinnen und Praktikanten für das drei- bis viermonatige Agrimpuls-Praktikum stammen in der Regel mehrheitlich aus Osteuropa – unter anderem aus der Ukraine und Russland. Wie hat Agrimpuls die Situation nun nach Ausbruch des Kriegs dort erlebt?
Monika Schatzmann: Die meisten der rund 70 von uns vermittelten Praktikantinnen und Praktikanten aus der Ukraine, die bei Ausbruch des Krieges bereits hier waren, haben den Schutzstatus «S» beantragt und sind geblieben. Wir waren immer in Kontakt mit unseren Partnerbüros in der Ukraine und haben nun auf den Herbst hin auch wieder vereinzelt Praktikantenstellen vermittelt – allerdings nur an Ukrainerinnen, da Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise nach ukrainischem Kriegsrecht aktuell ja grundsätzlich verboten ist, ausser sie hätten Kinder.

LID: Welche Rückmeldungen hatte Agrimpuls von den Praktikanten und ihren Praktikumsbetrieben?
Monika Schatzmann: Die Rückmeldungen waren sehr unterschiedlich und decken sich wohl mit den Erfahrungen, die andere Gastfamilien auch gemacht haben, die Geflüchtete aufnahmen. Einzelne Betriebe haben uns beispielsweise erzählt, dass Praktikanten in Angst und Schrecken versetzt wurden, wenn Flugzeuge durchgeflogen seien. Viele Praktikantinnen und Praktikanten haben im Frühling sicher auch noch gehofft, dass es bis spätestens im Herbst eine Lösung des Konflikts geben würde – diese Lösung ist momentan aber leider nicht in Sicht.
Ein Vorteil, den wir aus unserer Sicht respektive bei den Landwirtschaftsbetrieben beobachten konnten, war, dass die aufgenommenen Personen oftmals eben keine Fremde waren. Bei bereits hier weilenden Praktikantinnen oder Praktikanten sind teilweise einfach weitere Familienmitglieder hinzugekommen, in anderen Fällen haben sich ehemalige Praktikanten bei ihren Betrieben gemeldet gefragt, ob sie wieder auf den Betrieb zurückkommen könnten. Dies hat die Situation sicher sowohl für die Geflüchteten wie auch für die Gastfamilien ein bisschen vereinfacht.
Wir haben auch sehr über den Einsatz der Betriebe gestaunt, die beispielsweise geschaut haben, dass geflüchtete Familien zusammenbleiben konnten oder in ihren eigenen Familien Unterkünfte für geflüchtete Familienangehörige ihrer Praktikanten gesucht haben, damit sie in der Nähe bleiben konnten. Grundsätzlich haben wir beobachten können, dass die Betriebe, die für Hilfe angefragt wurden und es irgendwie einrichten konnten, diese Hilfe auch angeboten haben.

LID: Und wie sieht das nächste Jahr aus?
Monika Schatzmann: Wir prüfen, welche Möglichkeiten wir mit neuen Ländern für nächstes Jahr aufbauen können beziehungsweise welche bestehenden Programme wir ausbauen können.

Interview mit Ueli Bracher, Geschäftsleiter Agriviva

Interview mit Ueli Bracher, Geschäftsleiter Agriviva

LID: Mit dem vom Bund aktivierten Schutzstatus «S» können auch Jugendliche aus der Ukraine an Agriviva-Einsätzen teilnehmen. Bisher war Ira aber die einzige Teilnehmerin – woran liegt das?
Ueli Bracher: Gründe dafür könnten unter anderem das Alterslimit oder die Sprache sein. Unser Angebot richtet sich an Jugendliche und junge Menschen bis 25 Jahre und zu den Minimalanforderungen gehört ausserdem ein gewisses Mass an Sprachkenntnissen, damit sich die Agriviva-Teilnehmenden auch mit ihren Gastfamilien verständigen können. Daneben vermute ich, dass junge Geflüchtete aus der Ukraine, also die Altersgruppe, die sich für einen Agriviva-Einsatz qualifizieren könnte, grösstenteils in Schulen integriert werden.

LID: Trotzdem gab es aber mehr als diese eine Anfrage für einen Agriviva-Stage von ukrainischen Jugendlichen?
Ueli Bracher: Wir hatten zwei weitere Anfragen, trafen mit diesen dann aber leider auf behördlichen Widerstand. Für die Beschäftigung von Personen mit Schutzstatus «S» muss beim kantonalen Migrationsamt ein Gesuch eingereicht werden. Dieses prüft dann unter anderem, ob die orts- und branchenüblichen Anstellungsbedingungen eingehalten werden. Dieses Prozedere gilt auch für die Teilnahme bei Agriviva, obwohl ein Agriviva-Stage keinem klassischen Arbeitsverhältnis gleichzustellen ist. So können beispielsweise sowohl die Jugendlichen wie die Gastfamilien den Einsatz jederzeit ohne besonderen Grund per sofort beenden und die Dauer ist auf maximal zwei Monate pro Kalenderjahr befristet. Trotzdem verweigerten die zuständigen Behörden eines Kantons in der Innerschweiz eine Bewilligung mit dem Hinweis, dass die Teilnahmebedingungen nicht den orts- und branchenüblichen Mindeststandards entsprächen. Hierbei zogen sie als Massstab eine herkömmliche Anstellung für Arbeitskräfte in der Landwirtschaft herbei – aus unserer Sicht zu Unrecht, weil wie oben erwähnt kein solches vorliegt. Zu dieser Meinung gelangte übrigens auch das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO in seiner Einschätzung im Jahr 2018 und hat darum Agriviva auch von der Stellenmeldepflicht ausgenommen.

«In der Gesamtbetrachtung der spezifischen Situation und der Begleitumstände liegt unseres Erachtens kein typisches Arbeitsverhältnis vor, weil nicht der Grundsatz ‹Arbeitsleistung gegen Lohn›, sondern das Aneignen von Wissen, der kulturelle Austausch – somit die Pflege des Bildungs- und Kulturbereichs – im Vordergrund stehen dürfte. Diese Haltung wird etwa dadurch gestützt, dass keine Vorkenntnisse oder Erfahrungen in Bezug auf die Landwirtschaft erwartet beziehungsweise für den Erhalt der Stelle vorausgesetzt werden, was sich bei der Besetzung eines regulären Arbeitsplatzes in der Regel umgekehrt verhalten dürfte.»
Wortlaut der Einschätzung des SECO bezüglich Agriviva

LID: In Zürich wurde ein gleiches Gesuch – das von Ira – aber bewilligt?
Ueli Bracher: Genau, im Kanton Zürich wurden die Bedingungen dieses Gesuchs unter den gleichen Voraussetzungen als erfüllt betrachtet. Ausserdem sind jedes Jahr rund 15 Prozent unserer Jugendlichen im Agriviva-Programm aus EU-/EFTA-Staaten oder Auslandschweizerinnen und -schweizer aus der ganzen Welt. So brachten wir unter anderem als Argument vor, dass in mehreren Kantonen unsere Beschäftigung von Jugendlichen aus EU-/EFTA-Staaten im Rahmen von stichprobenmässigen Arbeitsmarktkontrollen auch geprüft und stets als in Ordnung befunden wurden. Trotz mehrmaligen Erklärungsversuchen wich das zuständige Amt des Kantons in der Innerschweiz aber nicht von seinem Standpunkt ab und verweigerte uns die Bewilligung bezüglich Schutzstatus «S». Dies führt notabene zur Situation, dass in besagtem Kanton zwar Jugendliche aus der Schweiz sowie aus EU-/EFTA-Staaten einen Agriviva-Stage ausführen können, für Jugendliche aus der Ukraine die genau gleichen Bedingungen aber als nicht angemessen taxiert werden.
Wir haben dem abgelehnten Jugendlichen angeboten, in einem anderen Kanton ein entsprechendes Gesuch einzureichen. Verständlicherweise hatte er aber leider die Lust hierzu verloren. Wir sind froh, dass die zuständige Behörde des Kantons Zürich mehr Augenmass hat walten lassen und Ira mit der Erteilung der Bewilligung eine sinnvolle Betätigung ermöglicht hat. Agriviva wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, eine Einsatzmöglichkeit für interessierte Jugendliche aus der Ukraine zu finden.