Mehlwürmer als Abfallverwerter

Insekten können grosse Mengen an organischem Abfall verwerten. Auch die Produktion von Insekten als Lebensmittel ist möglich. Nicht erlaubt ist aber derzeit die Doppelnutzung.
Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2021
von Ann Schärer
5 Minuten Lesedauer
Mehlwuermer Nuesslisalat Quer Ensectable

Mittlerweile ist der Anblick von Plastikbeutel gefüllt mit getrockneten oder frittierten Insekten in den Regalen der Grossverteiler nicht mehr ganz so ungewohnt wie noch im Mai 2017. Damals wurden in der Schweiz drei Arten von Insekten vom Bund offiziell zum Verzehr zugelassen: Mehlwürmer, Grillen und Heuschrecken.

Doch stehen Insekten noch immer selten auf dem Einkaufszettel der Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten; Insekten als alternative Proteinquelle sind bisher ein Nischenprodukt geblieben. «Aber die Nachfrage nach Insekten wächst relativ stabil auf tiefem Niveau und das Interesse an Insekten nimmt laufend zu», sagt Timothée Olivier, Sprecher des Verbands Swiss Insects (siehe Box).

Kulturelle Zurückhaltung

Der Geschmack sei dabei nicht das Problem, ist Olivier überzeugt. «Es hat vielmehr mit Kultur zu tun. Wir müssen den angelernten Ekel in unserem Bewusstsein überwinden und beseitigen. Zudem gibt es bereits sehr viele gute Alternativ-Produkte zu Fleisch wie Soja-, Quorn- und Tofuprodukte oder Erbsenprodukte, sagt Olivier. Wenn die Insektenbranche sich als mehr als ein Nischenprodukt am Markt etablieren wolle, müsse noch einiges geschehen, ist er überzeugt.

«Die Produkte der Insektenbranche müssen eine leckere Alternative zu anderen tierischen Proteinen sein. Dabei spielt der Zeitfaktor eine zentrale Rolle: Die Leute müssen diese neuen Produkte zuerst einmal kennenlernen und probieren», sagt Olivier. Immerhin seien inzwischen zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung bereit, Insekten zu essen, während 2017 erst ein Drittel dazu bereit gewesen wäre.

Mit Insekten gegen Abfallprobleme

Die Ensectable AG, Mitglied beim Verband Swiss Insects, züchtet in der Schweiz Mehlwürmer unter Verwendung von sogenannten «Sidestreams», also Futtermittel, welche für die menschliche Ernährung nicht oder nur in geringem Umfang verwendbar sind. Grundsubstrat sind Weizenkleie sowie andere Müllerei-Nebenprodukte, wie Timothée Olivier erklärt. Dazu kommen Biertreber aus einer Bio-Brauerei sowie Rüebli oder Salate vom Nachbarbetrieb.

Hier tut sich eine weitere Einsatzmöglichkeit von Insekten auf: Die Beseitigung von Abfall. In Australien werden dafür seit Kurzem Schwarze Soldatenfliegen eingesetzt. Die Fliegen ernähren sich von landwirtschaftlichen Abfällen. Dabei entstehen gemäss dem natürlichen Lebenszyklus der Insekten auch Larven. Diese, aber auch die Exkremente der Insekten, sind reich an Proteinen. Landwirtschaftliche Abfälle können so in hochwertige Düngemittel und potenziell in Proteinquellen für Viehfutter - vor allem Schweinefutter - umgewandelt werden, erklärte Sasha Jenkins vom Agrar-Institut der University of Western Australia (UWA) laut einer Mitteilung.

Insekten-Workshops

Ein ähnliches Projekt ist für die Firma Ensectable aus zwei Gründen nicht denkbar: Erstens sind Soldatenfliegen in der Schweiz offiziell nicht zur Insektenzucht zugelassen und zweitens züchtet die Firma ausschliesslich Insekten für die menschliche Ernährung. «Tierfutter passt nicht in unser Konzept. Mit jeder zusätzlichen Stufe der Nahrungskette geht wertvolle Energie verloren», sagt Olivier.

Mit wissenschaftlicher Akribie habe das Ensectable-Team bestehend aus dem Tierarzt Benjamin Steiner, der Tierpflegerin Mina Gloor und dem Business-Spezialisten Christian Bärtsch erforscht, wie man Insekten am effizientesten züchtet. Dieses Wissen gibt das Ensectable-Team via den Verband Swiss Insects (siehe Box) auch an Interessierte weiter und bietet Workshops und Schulbesuche an.

Styropor als Nahrung

Trotzdem seien Insekten auch in der Schweiz zur Vernichtung von Abfallprodukten denkbar. So könnten zum Beispiel Mehlwürmer Gemüseabfall verzehren. Oder auch Nebenprodukte aus der Soja-Verarbeitung, organische Reste aus der Gastronomie oder sogar Mist. Auch Kunststoffe können verwertet werden; in einer viel beachteten Studie habe aufgezeigt werden können, dass der Mehlwurm sich von Styropor ernähren könne, sagt Timothée Olivier.

Dabei sind Insekten erstaunlich effiziente Futterverwerter. «Studien gehen in optimistischen Szenarien davon aus, dass Werte von bis zu 2:1 möglich sind. Das heisst 2 Kilogramm Futter ergeben 1 Kilogramm Insekten», sagt Olivier. Ein Hinweis darauf, dass Insekten vielleicht bald einen wesentlichen Teil von Abfallproblemen lösen könnten, vermutet Olivier. Doch nur, wenn es gelinge, den Markt für Futterinsekten und essbare Insekten entsprechend auszubauen und zu etablieren. Zudem wäre die Grundbedingung dafür, dass parallel dazu eine generelle Reduktion von Abfall erreicht werden kann.

Doppelnutzung ist noch nicht möglich

Wer liest, dass Mehlwürmer Mist oder Styropor fressen, mag sich fragen, ob diese Insekten anschliessend als essbare Insekten zum Grossverteiler gelangen. «Aktuell muss man diese Frage mit ‘Nein’ beantworten. Abfallverwerter sind keine Proteinproduzenten», sagt Olivier. Die Anforderungen an die Lebensmittelproduktion seien hoch. Die Lebensmittelgesetzgebung regelt genau, welche Stoffe als Futtermittel verwendet werden dürfen. Und das sei auch gut so, betont Olivier: «Wir haben aus vergangenen Skandalen wie BSE oder Schweinepest unsere Lehren gezogen».

Trotzdem sollte aus seiner Sicht die Frage nach einer Doppelnutzung der Insekten in Zukunft erneut aufgerollt werden. «Insekten sind genetisch sehr weit vom Menschen entfernt - viel weiter als Rinder oder Schweine. Darum ist es gut möglich, dass in Zukunft solche ‘Mischnutzungen’ unter Auflagen möglich sein werden», sagt Timothée Olivier. Zudem werden zum Beispiel die Mehlwürmer der Firma Ensectable bereits heute mit Gemüse gefüttert, das nicht der Norm entspricht und deshalb nicht verkauft werden kann. So gesehen tragen die Würmer bereits heute etwas gegen Food Waste bei.

Insekten statt Kühe im Stall

Eine Insektenzucht muss dem kantonalen Veterinäramt gemeldet werden. Wer Lebensmittelinsekten produzieren und in den Verkehr bringen will, muss dafür zudem eine Bewilligung vom Lebensmittelinspektorat haben. Wer sich an diese Vorgaben hält, kann grundsätzlich mit der Zucht von essbaren Insekten loslegen. Auch als weiteres Standbein für landwirtschaftliche Betriebe sei die Zucht von Insekten gut denkbar, meint Olivier. So könnten auf den Betrieben auch gleich organische Abfälle wie unverkauftes Gemüse oder andere sogenannte ‘Sidestreams’ beseitigt werden. «Die Zuchträume für die Insekten sind sehr gut isoliert. Eine zusätzliche Heizung ist auch im Winter kaum nötig, die Insekten heizen ihren Raum selbst», sagt Olivier. Zudem sind die Insekten in diesem gut isolierten Raum sicher vor wilden Insekten geschützt, mit denen sie sich sonst genetisch vermischen würden.

Die Zucht von Insekten könne die konventionelle Fleischproduktion gut ergänzen, sagt er. Insekten statt Kühe im Stall? Warum nicht, meint Timothée Olivier. Insekten hätten ein für die menschliche Ernährung interessantes Nährstoffprofil. So können organische Nebenprodukte effizient in nährstoffreiche, gesunde Lebensmittel umgewandelt werden. Dies sei ökologisch gesehen sogar sinnvoller, als beispielsweise die Produktion von Biogas, sagt Olivier.

Tod durch direktes Kochen

Und auch der ethische Aspekt ist etwas weniger problematisch als bei der klassischen Fleischproduktion. Denn um die Insekten für den Verzehr zu töten, gibt es diverse effektive Methoden. «Am häufigsten werden Insekten gekocht, tiefgefroren oder mit Stickstoff oder CO2 begast», sagt Olivier. Es sei auch von der Spezies und deren weiteren Verarbeitung abhängig, welche Methode am sinnvollsten sei. Bei Ensectable habe man sich für das direkte Kochen entschieden. «Dies ist auch aus Tierschutzsicht eine gute Entscheidung: die Mehlwürmer sterben bei dieser Methode im Bruchteil einer Sekunde ab», sagt Olivier.

Er glaubt, dass die eher zögerliche Nachfrage nach Insekten auch damit zu tun hat, dass noch viele Studien über die Verwertung von Insektenprotein im menschlichen Körper ausstehend sind. «Insekten enthalten beispielsweise viel Eisen. Aber wie gut wird das Eisen absorbiert? Wie gut das Protein und wie hoch ist die Proteinwertigkeit?», sagt Olivier. Diese Fragen seien noch offen und ihre Beantwortung könnte dem Insektenprotein in Zukunft nochmals Schub verleihen, ist er überzeugt.

Swiss Insects: Schweizer Verband für Insect Food und essbare Insekten

Unter dem Namen Swiss Insects haben sich Firmen und Start-ups zusammengetan, die im Bereich Insect Food und essbare Insekten tätig sind. Swiss Insects setzt sich für die Verbesserung des Umfeldes von Markt und Forschung mit essbaren Insekten in der Schweiz ein und bietet Bildungsprojekte für Schulen an.