Evolène: ein Jahr nach den Überschwemmungen

Zweimal innerhalb weniger Tage wurde Ende Juni 2024 die Walliser Gemeinde Evolène von sintflutartigen Regenfällen getroffen, die den Fluss Borgne über die Ufer treten liess und damit Dutzende Hektaren Landwirtschaftsland verwüsteten sowie Infrastruktur beschädigten.
Zuletzt aktualisiert am 1. Juli 2025
von Etienne Arrivé / AGIR
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Die Gemeinde Evolène mit ihren rund 1670 Einwohnerinnen und Einwohnern musste nach dem Naturereignis innerhalb von zwölf Monaten das Wasser- und Abwassernetz sowie die Zufahrtswege zu den teils zerstörten Landwirtschaftsbetrieben wieder aufbauen.

Zwei Jahrhunderthochwasser in 9 Tagen

Unterhalb des Dorfzentrums, das für seine Steindächer und Lärchenholzspeicher bekannt ist, fahren wir im Allradfahrzeug von Gemeinderat Eddy Favre mit, der zuständig für Bauwesen, Raumplanung und Landwirtschaft ist. Die Flussufer, denen wir entlangfahren, zeigen sowohl die Schäden als auch die unternommenen Sicherungsmassnahmen.

Wir befinden uns hier auf 1350 m ü. M. und fahren über provisorisch wiederhergestellte Wege in Richtung Les Haudères, zur Mündung der beiden Borgne-Quellflüsse: der Borgne de Ferpècle im Südosten und der Borgne d’Arolla im Südwesten. Wo einst ruhige Arvenwälder standen und Alpenweiden der Viehzucht dienten, liegt heute eine Gerölllandschaft.

«Zwischen dem 21. und 30. Juni 2024 hatten wir zwei Jahrhunderthochwasser innerhalb von neun Tagen. Wir schätzen, dass 10 Hektar Landwirtschaftsfläche vom Fluss mitgerissen wurden – mit 30'000 m³ abgelagertem Material», sagt Eddy Favre.

55’500 Badewannen und 17’000 Wasserflaschen

Die Schäden waren gross: Zuerst wurden die Hauptleitungen der Trinkwasserversorgung, die die meisten Dörfer der Gemeinde versorgen, weggerissen. Ihre Reparatur unter schwierigen Bedingungen war erst Ende Juli bis Anfang August 2024 möglich. Bis in den Herbst sorgten Gemeindemitarbeitende, die Feuerwehr CSI Hérens und der Zivilschutz für die Notversorgung: Sie verlegten 2’095 Meter provisorische oberirdische Leitungen. Zusätzlich wurden 10’000 m³, das entspricht 55’500 Badewannen, Trinkwasser per Lastwagen geliefert. Zudem verteilten die Helferinnen und Helfer 17’000 Wasserflaschen à 1,5 Liter.

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Teure, nicht versicherte Kanalisation

Die Abwasserleitungen der Gemeinde waren über mehr als 3 km zwischen Les Haudères und Evolène verstopft oder zerstört. Vom 21. Juni bis 5. Juli war die Kläranlage ausser Betrieb – das Abwasser floss direkt in die Borgne. Weiter oben wurde bis Mitte November, teils bis Mitte Dezember, unter Schnee und auf gefrorenem Boden gearbeitet, um die Infrastruktur wiederherzustellen. Die Wiederherstellung der Kanäle kostete über 922’000 Franken – nicht versichert - anders als das Trinkwassernetz - und nicht subventioniert. Nur Arbeiten an der Kläranlage sind gedeckt.

95 % der Sicherungskosten gedeckt

Das zweite grosse Thema in Evolène: die Suche nach Finanzhilfe, um die Eigenfinanzierungskraft nicht zu lähmen. Rechnungen in Hunderttausenderhöhe haben sich angehäuft. Insgesamt belaufen sich die Kosten für Sofortmassnahmen und Wiederaufbau im Jahr 2024 auf 10,5 Millionen Franken – wovon 1,8 Millionen die Gemeinde tragen muss. Bei Unwettern übernehmen Kanton und Bund 85 % der Kosten zur Sicherung der Wasserläufe, und Evolène erhielt zusätzliche 10 % – dank Nachweis der Auswirkungen auf die künftige Finanzkraft der Gemeinde.

Die Migros gewährte im Juli 2024 eine Soforthilfe von 50'000 Franken. Der kantonale Landwirtschaftsdienst, der Dienst für Naturgefahren, die Stiftung Fondssuisse (für Schäden durch unversicherbare, unvorhersehbare Naturereignisse), der Verein Alpinfra (hilft Berggemeinden bei der nachhaltigen Wiederherstellung öffentlicher Infrastrukturen) und weitere Stiftungen wurden oder werden um Unterstützung gebeten.

Ziel ist es, mit zusätzlicher Hilfe die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen rasch wiederherzustellen.

Inertes Material gegen wiederhergestellten Boden

Konkret wurden für über 920’000 Franken die Flächen rund um den Campingplatz Molignon vor Beginn der Tourismussaison gesichert. Die Wanderwege sind zum grössten Teil wieder zugänglich. Die mitgeschwemmten Materialien wurden zur Ressource für die Bodenwiederherstellung: Ein reger Verkehr bringt inertes Material ins Tal – im Gegenzug werden nutzbare Ackerböden für eine kontrollierte Wiederbegrünung herauftransportiert.

Besonders in geschützten Gebieten wie Auen und Landschaften von nationaler Bedeutung gelten besondere Regeln: Der neue Lauf der Borgne darf nicht verbaut werden. Zugangswege zu landwirtschaftlichen Parzellen müssen neu gebaut, gesichert und für Maschinen befahrbar gemacht werden. Die Einzelschäden von rund 50 Landwirten und privaten Eigentümern belaufen sich derzeit auf 415’000 Franken.

Jetzt braucht es ordentliche Verfahren

Da der Kanton Wallis den Notstand bis zum 30. Juni 2025 erklärt hat, konnten die Bauarbeiten bisher ohne ordentliches Bewilligungsverfahren gestartet werden. Mit der Rückkehr zu den normalen Verfahren werden andere Arbeiten aber nicht vor 2026 abgeschlossen sein. Die Gemeinde kämpft nun um knapp 6 Hektaren – das sind 0,3 % ihres Gebiets – mit dem Ziel, Landwirtschaft und Biodiversität zu verbinden: für die Landschaftsqualität und die Ausstrahlung der Region.