Tierhaltung: Alle sollen nun Verantwortung übernehmen

Das Schweizer Stimmvolk hat der Massentierhaltungsinitiative mit 62 Prozent Nein-Stimmen eine klare Absage erteilt. Mit doch etwas über einer Million Ja-Stimmen zeigte die Abstimmung jedoch auch, dass das Anliegen grundsätzlich einige Sympathie geniesst. Der Schweizer Bauernverband plädiert nun für eine ganzheitliche Ernährungspolitik und die Befürworter der Initiative wollen Grossverteiler in die Pflicht nehmen.
Zuletzt aktualisiert am 25. September 2022
von Renate Hodel
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MTI Nein Sujets Rho

An der Urne entschieden die Schweizer Stimmberechtigten letzten Sonntag, wie Schweizer Bäuerinnen und Bauern in Zukunft mit ihren Nutztieren umzugehen haben. Die Initianten wollten mit der Volksinitiative «Keine Massentierhaltung in der Schweiz» bewirken, dass die Haltungsstandards der hiesigen Nutztiere sich künftig an den Bio-Suisse-Richtlinien orientieren – mit einer Übergangsfrist von 25 Jahren. Damit wollten die Befürworter mehr Tierwohl und Umweltschutz erreichen, während die Gegner vor mehr Importen und vor einem Bauernsterben warnten und stets das bereits geltende strenge Tierschutzgesetz in der Schweiz hervorhoben.

Pro und Kontra

Die hiesige Landwirtschaft degeneriere zu einer bodenunabhängigen industriellen Tierproduktion mit viel zu hohen Stickstoffemissionen: Das Futter insbesondere von Hühnern und Schweinen müsse auf den bereits knappen Ackerflächen zusätzlich produziert werden, lauteten die Argumente. Entsprechend sollte die Initiative den Weg für eine Schweizer Landwirtschaft bereiten, die den Bedürfnissen der Tiere Rechnung trage und die natürlichen Ressourcen schone.

Die Gegner monierten jedoch stets, dass die Initiative die Versorgungssicherheit der Schweiz mit Lebensmitteln gefährde und eine geringere Produktion die Abhängigkeit vom Ausland noch vergrössern würde. Mit einem Nein zur Initiative helfe man, die Versorgung der Schweiz mit einheimischen Lebensmitteln zu sichern. Ausserdem verfüge die Schweiz bereits über ein einzigartig strenges Tierschutzgesetz und die Konsumentinnen und Konsumenten hätten bereits heute die Möglichkeit, sich an der Ladenkasse für mehr Tierwohl zu entscheiden, würden dieses aber noch sehr begrenzt nutzen. Die entsprechenden Labels hätten nach wie vor einen tiefen Marktanteil.

Deutliches Resultat

Schlussendlich fiel das Abstimmungsresultat recht deutlich aus: 1’798’962 Stimmberechtigte lehnten die Initiative ab, 1’062’674 Stimmberechtigte legten ein Ja in die Urne. Die Initiative scheiterte aber nicht nur am Volksmehr, sondern bereits am Ständemehr: 25 Kantone lehnten die Massentierhaltungsinitiative ab – einzig im Halbkanton Basel-Stadt gab es ein Ja für das Anliegen. Sowieso zeigte der Ausgang der Abstimmung einen Stadt-Land-Graben: In den Städten Zürich, Genf und Lausanne betrug der Ja-Anteil jeweils 53 Prozent, in Luzern sogar 54 Prozent und in der Stadt Bern war die Zustimmung mit 66 Prozent deutlich am grössten.

Anliegen ist nicht begraben

Sowohl Befürworter wie auch Gegner sind sich aber bewusst, dass die Diskussion rund um die Tierhaltung und Tierproduktion in der Schweiz so schnell nicht leiser werden wird. Beide Lager sehen dies aber auch als Chance: So liess der Schweizer Bauernverband verlauten, dass sich Bio-Lebensmittel und andere besonders tierfreundliche Labels über eine markante Steigerung des Absatzes bei tierischen Produkten freuen dürften und zahlreiche Bauernbetriebe ihre Tierhaltung auch umstellen würden, wenn alle Ja-Stimmenden das entsprechende Angebot in Zukunft auch nutzen würden. Die Ablehnung sei entsprechend auch eine Chance, den Worten Taten folgen zu lassen und die Schweizer Landwirtschaft stehe bereit, die Bestellungen auf den Kassenzetteln zu liefern.

Und auch die Befürworter an vorderster Front betonten, dass der öffentliche Diskurs zur Initiative doch gezeigt habe, dass es Zeit sei für eine progressive Agrarpolitik, die auch die Bedürfnisse der Tiere in der Landwirtschaft konsequent sicherstelle. Aktuell werde der Status Quo zwar noch zementiert und an den Problemen in den Schweizer Ställen vorbei politisiert. Mit der Kampagne sei aber auch ein längst überfälliger Dialog angestossen worden und auch die Schweizer Landwirtschaft sei nun angehalten, den beschönigenden Behauptungen Taten folgen zu lassen. Zudem müssten in Zukunft auch vermehrt die Grossverteiler in die Pflicht genommen werden und mehr Verantwortung wahrnehmen. Denn diese könnten massgeblich zu einer Veränderung beitragen.

Interview mit Urs Schneider, Kampagnenleiter des Schweizer Bauernverbands

LID: Für viele einheimischen Bauernfamilien hätte die Annahme zum Teil grosse Veränderungen bedeutet – wie wichtig war nun dieses deutliche Nein?
Urs Schneider: Die Initiative hätte zu einer fundamentalen Veränderung der Schweizer Landwirtschaft geführt, entsprechend ist das Resultat enorm wichtig. Manchmal gibt es bei Initiativen ja höchstens eine Akzentverschiebung – hier hätte die Initiative aber einen massiven Produktionsrückgang zur Folge gehabt und unser Selbstversorgungsgrad beispielsweise bei Geflügel wäre sehr tief gefallen. Diese markante Absenkung der inländischen Produktion hätte zu massiv höheren Einfuhren von Produkten geführt, bei denen Tierwohlaspekte nur noch schlecht hätten kontrolliert werden können. Auch für die Ökobilanz wäre das kein Gewinn gewesen. Entsprechend mussten wir uns die Frage stellen, ob dies wirklich besser ist.

LID: Im Abstimmungskampf wurde das Preisargument ins Feld geführt, es wurde vor massiv höheren Preisen für Lebensmittel gewarnt – gleichzeitig monieren die Bäuerinnen und Bauern regelmässig, dass die Preise für ihre Produkte zu tief sind. Tatsächlich geben Schweizerinnen und Schweizer heute im Vergleich zu früher mit gut 6 Prozent nur noch einen Bruchteil ihres Einkommens für Lebensmittel aus. Scheint es daher nicht ein bisschen widersprüchlich, sich gegen höhere Lebensmittelpreise zu stemmen?
Urs Schneider: Das ist auf den ersten Blick tatsächlich ein Widerspruch und wir arbeiten auch nicht gerne mit diesem Argument. Wir haben aber Vorabklärungen gemacht und festgestellt, dass Regionalität, weniger Importe und eben auch das Preisargument stechen. Für einen Teil der Bevölkerung insbesondere in den Städten spielt der Preis durchaus eine Rolle und daher haben wir entsprechend auch darauf hingewiesen, dass wenn die Initiative angenommen worden wäre, die Lebensmittelpreise entscheidend gestiegen wären. Die Argumentation schliesst aber nicht aus, dass wir für die Bäuerinnen und Bauern bessere Preise wollen. Wir haben in diesem Rahmen nie gesagt, dass wir tiefere Preise wollen – wir wollen, dass ein höherer Anteil bei den Produzentinnen und Produzenten bleibt.

LID: Seit ein paar Jahren sind die Bäuerinnen und Bauern im Dauerabstimmungskampf – wäre es für das öffentliche Image der Schweizer Landwirtschaft nicht wichtig, diese Trotzhaltung aufzugeben?
Urs Schneider: Es ist sicher nicht gut, dass wir ständig eine Ablehnungshaltung praktizieren müssen und uns in der Folge eine Blockadepolitik vorgeworfen wird. Wenn man aber die Entwicklungen beispielsweise im Antibiotikaverbrauch oder im ökologischen Bereich anschaut, dann ist es doppelt schade, dass wir immer gegen solche Initiativen ankämpfen müssen. Wir unternehmen ja eigentlich viel, aber wir schaffen es noch zu wenig, diese Errungenschaften der Bevölkerung zu vermitteln, damit dieser Einsatz auch respektiert wird. Insofern sind solche Initiativen zwar sicher mühsam, aber gleichzeitig auch eine Chance, um breit aufzuzeigen, was die Bäuerinnen und Bauern leisten. Für die Zukunft setzen wir uns ganz stark dafür ein, dass die neue Agrarpolitik sich nicht bloss zu einer Agrarpolitik, sondern einer ganzheitlichen Ernährungspolitik entwickelt, welche die ganze Wertschöpfungskette miteinbezieht. Die jüngsten und die zum Teil noch bevorstehenden Initiativen zielen alle auf die landwirtschaftliche Produktion und das kann so einfach nicht funktionieren. Den Bäuerinnen und Bauern aufzuerlegen, nur noch nach Biostandards zu produzieren, wenn dies am Markt dann nicht abgesetzt werden kann, geht nicht auf. Deshalb wäre ein gesamtheitlicher Ansatz wichtig.

Interview mit Philipp Ryf, Co-Kampagnenleiter der Initiative gegen Massentierhaltung

LID: Die Initiative ging ziemlich deutlich verloren, dennoch haben über eine Million Stimmberechtigte in der Schweiz das Anliegen unterstützt – inwiefern war die Initiative trotzdem ein Erfolg?
Philipp Ryf: Unsere Initiative hat einen breiten gesellschaftlichen Dialog und ein mehrheitlich sehr positives Medienecho ausgelöst. Viele Menschen wurden das erste Mal mit den Unzulänglichkeiten des Schweizer Tierschutzgesetzes konfrontiert. So wurde etwa das Bild des Masthuhnes auf einer A4-Seite in den Köpfen vieler Schweizerinnen und Schweizern verankert. Gleichzeitig konnten wir eine breite Allianz aufbauen, zu der auch viele landwirtschaftliche Organisationen und Bäuerinnen und Bauern gehören. Diese sind genau wie wir der Meinung, dass sich die Schweizer Landwirtschaft reformieren muss. Darauf können wir in Zukunft aufbauen.

LID: Bestrebungen hin zu ökologischer und tierfreundlicher und trotzdem produktiver Landwirtschaft werden mit der Abstimmung nicht einfach begraben. Wie wichtig ist es für die Zukunft, eine Lösung zwischen den Extremen zu finden?
Philipp Ryf: Es ist absolut essentiell, dass wir hier vorwärts machen. Die Landwirtschaft wird einen Teil zur Erreichung der Nachhaltigkeits- und Klimaziele des Bundes beitragen müssen. Momentan ist sie nicht auf Kurs. Der Fleischkonsum wird in den nächsten 25 Jahren zurückgehen – auch aufgrund technologischer Lösungen. Darauf muss sich die Landwirtschaft einstellen. Nicht zuletzt wird auch das Tierwohl immer wichtiger. Bereits heute sind über eine Million Menschen bereit, mehr fürs Tierwohl zu bezahlen. Unsere Vision ist und bleibt eine standortangepasste Landwirtschaft, die nicht vom Ausland abhängig ist. Wir sind überzeugt, dass das keine radikale, sondern eine urschweizerische Vision ist.

LID: Wie geht es nun weiter, um tiergerecht produzierte Lebensmittel und nachhaltigen und verantwortungsvollen Konsum zu fördern?
Philipp Ryf: Nun müssen wir Politik und Grossverteiler in die Pflicht nehmen. Im Verlauf der Kampagne wurde immer wieder auf die vermeintlich vorbildlichen Tierwohlprogramme BTS/RAUS verwiesen. Diese müssen nun gezielt gefördert werden. Gleichzeitig glänzten die Grossverteiler in den letzten Monaten komplett mit Abwesenheit. Wir haben bereits während der Abstimmungskampagne «Tierwohl jetzt!» gefordert. Die Grossverteiler haben eine Schlüsselrolle im System und zementieren den Status Quo auf Kosten von Tier, Mensch und Umwelt. Nun ist es an der Zeit, dass sie die Weichen für die Zukunft stellen – damit Werbebilder wahr werden.