Grosse Hochwasserschutzprojekte im Spannungsfeld verschiedener Interessen

Artikelserie «Hochwasser und Landwirtschaft» – Teil 3: Um die Bedrohung von Hochwassern zu entschärfen, sind langjährige und teilweise milliardenschwere Flusskorrektionen bereits im Gange oder in der Projektierungsphase. Doch die Hochwasserschutzprojekte lösen auch Kontroversen unter den Interessengruppen aus. Die lassen sich nicht einfach den Fluss hinunterspülen.
Zuletzt aktualisiert am 14. Juli 2025
von Harry Rosenbaum
6 Minuten Lesedauer
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Alpenrhein, Rhone, Thur, Linth und Sihl treten bei Hochwasser immer wieder gefährlich über ihre Ufer. Um Schäden an Menschen, Infrastruktur und Land(wirtschaft) zu vermeiden, investieren Bund und Kantone in milliardenschwere Hochwasserschutzprojekte. Doch diese Vorhaben sind komplex – und oft umstritten. Denn sie greifen tief in Landschaften und Nutzungen ein und betreffen vielfältige Interessen: Von der Landwirtschaft über den Naturschutz bis zur Trinkwasserversorgung.

«RHESI»: Hochwasserschutz mit Konfliktpotential

Der Alpenrhein ist einer der grössten Gebirgsflüsse der Schweiz und Österreichs. In den letzten Jahrhunderten war der Fluss immer wieder Ursache zahlreicher Flutkatastrophen im Rheintal. Das Projekt «RHESI» – Rhein, Erholung, Sicherheit – soll den Hochwasserschutz am rund 26 Kilometer langen Flussabschnitt zwischen der Mündung der Ill in den Rhein und dem Bodensee verbessern. Neben dem verbesserten Hochwasserschutz hat das Projekt aber auch die ökologische Aufwertung, die Verbesserung des Grundwasserschutzes und des Erholungsnutzens zum Ziel.

Die Umsetzung ist für 2026 bis 2046 geplant – voraussichtlich dauert die Realisierung 20 Jahre und wird über zwei Milliarden Franken kosten, die sich die Schweiz und Österreich teilen müssen.

Viele Bereiche im Rheintal sind durch das Projekt betroffen: Landwirtschaft, Trinkwasserversorgung und Ökologie. Bereits in der Vorprojektierung gab es Kritik, seitens der Landwirtschaft, der Umweltverbände und der Gemeinden. Es wurden zahlreiche Gespräche geführt, aber selten Einigung erzielt. Bei der Auflage des Projektes wird mit Einsprachen gerechnet, weshalb noch kein fester Zeitpunkt des Baubeginns steht.

  • Vorzustand der Frutzmündung – einer Schlüsselstelle des Hochwasserschutzprojekts «RHESI». (©IRR/Hydra)
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  • Visualisierung der Frutzmündung nach geplanter Umsetzung des Hochwasserschutzprojekts «RHESI»: Der Vergleich von Vorzustand zu Visualisierung zeigt den Zielkonflikt zwischen Hoschwasserschutz und Verlust von wertvollem Kulturland. (©IRR/Hydra)
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Dritte Rhonekorrektion: Rückzieher sorgt für Aufregung

Die dritte Rhonekorrektion in den Kantonen Wallis und Waadt ist das grösste Hochwasserschutzprojekt der Schweiz. Es erstreckt sich über 162 Kilometer Flusslauf und wird voraussichtlich 3,6 Milliarden Franken verschlingen. In dem Gebiet leben rund 100’000 Menschen, die es vor Hochwasser zu schützen gilt.

Die dritte Rhonekorrektion ist ein Generationenprojekt, das mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Mit der dritten Rhonekorrektion wollen die Kantone Wallis und Waadt das Tal vor Schäden in Milliardenhöhe schützen – auf Kosten von rund 800 Hektaren Kulturland, die als Retentionsbecken für den Fall grosser Hochwasser benötigt werden.

Drohende Landabgabe sorgte für Widerstand vieler Bäuerinnen und Bauern im Unterwallis. Trotzdem haben der Kanton Wallis und die Waadt das Generationenprojekt samt Finanzierung beschlossen. Auch der Bund stimmte einer Subventionierung zu. Seit 15 Jahren laufen die Arbeiten am Hochwasserschutzwerk. Im Oberwallis sind sie schon fast abgeschlossen.

Jetzt aber krebst die Walliser Kantonsregierung zurück und will das Jahrhundertprojekt massiv redimensionieren mit der Begründung, dass die Gefahrenlage überschätzt worden sei. Umweltverbände kritisieren diesen Schritt scharf – und fürchten Signalwirkung für andere Flussprojekte.

Sihl: Entlastungsstollen schützt Zürich

Während der Hochwasserereignisse im August 2005 entgingen weite Teile der Stadt Zürich nur knapp einer verheerenden Überschwemmung. Als Antwort auf diese Bedrohung initiierte die Stadt zusammen mit dem Kanton das Projekt Hochwasserschutz Sihl, Zürichsee und Limmat. Ein Entlastungsstollen zwischen der Sihl bei Langnau am Albis und dem Zürichsee in Thalwil soll das Gefahrenproblem langfristig lösen. Hochwasserspitzen der Sihl würden damit in den Zürichsee übergeleitet und neben der Stadt auch das untere Sihltal schützen.

Der Entlastungsstollen werde wie geplant 2026 fertiggestellt sein, sagt Katharina Weber von der Medienstelle der Baudirektion Kanton Zürich. «Durch die Inbetriebnahme wird der Hochwasserschutz für das untere Sihltal und die Stadt Zürich verbessert – damit geht auch eine Verbesserung des Hochwasserschutzes für landwirtschaftlich genutzte Flächen einher», erklärt sie. Der Entlastungsstollen kostet rund 175 Millionen Franken. «Diesem Betrag stehen alleine in der Stadt Zürich bei einem Extremhochwasser potenzielle Schäden von bis zu 6,7 Milliarden Franken gegenüber», betont die Mediensprecherin weiter.

Linth: Renaturierung trifft auf Landwirtschaft

Das «Linthwerk» ist ein Hochwasserschutzbauwerk in den drei Kantonen St. Gallen, Glarus und Schwyz. Für die Linthebene ist das «Linthwerk» eine Lebensversicherung. Es schützt zuverlässig vor Hochwasser. Das Linthwerk wurde bereits zwischen 2008 und 2013 saniert und teilweise renaturiert.

Nun plant die Linthkommission eine Aufweitung des Escherkanals im Gebiet Kundertriet bei Mollis im Kanton Glarus. Im Escherkanal wird der Gebirgsfluss Linth von den glarnerischen Orten Näfels und Mollis in den Walensee geleitet. Die nun geplante Aufweitung des Kanals soll Hochwasserschutz und Biodiversität stärken.

Aktuell werde das Bauprojekt ausgearbeitet, sagt Linth-Ingenieur Ralph Jud. Für den Baubeginn stehe aber noch kein Termin fest. Das Land, auf dem die Aufweitung realisiert werde, sei im Besitz des Linthwerks. Ein Teil des Projektgebietes werde zur Zeit der Landwirtschaft als Gebrauchsleihe für extensive Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt. Bei der geplanten Aufweitung des Escherkanals kommen sich Teile der Landwirtschaft und der Naturschutz in die Quere. «Es gibt Opposition auf lokaler Ebene», sagt Ralph Jud. Begleitet wird das Projekt von einem Beirat in dem die wichtigsten Ansprechgruppen vertreten sind: der Glarner Bauernverband, die Gemeinde Glarus Nord, die Meliorationsgenossenschaft Riet, Umweltorganisationen und Fachstellen des Kantons.

Hochwasser- und Revitalisierungskonzept Thur+

Thur3: Generationenprojekt mit Zündstoff

Das Bauwerk Thur, das gegen Hochwasser schützen soll, ist marode. So lautet das Urteil der Wasserbaufachleute im Kanton Thurgau. Das Bauwerk Thur erstreckt sich über 45 Kilometer und weist zahlreiche Schwachstellen auf. Unter anderem sind die bestehenden Dämme nicht ausreichend belastbar, um grosse Wassermassen schadlos abzuleiten und die Sohlenerosion gefährdet das Grundwasser. Ausserdem tragen die harten Uferverbauungen zum Artenschwund bei.

Mit der dritten Thurkorrektion im Thurgau sollen nun 3’750 Hektaren Kulturland besser geschützt werden und auch die Biodiversität soll profitieren. Das Generationenprojekt «Thur3» soll in den nächsten 30 Jahren etappenweise vorangetrieben werden und kostet nach heutigen Schätzungen rund 360 Millionen Franken. Zum Vergleich: Bei Extremhochwasser müsste mit Schäden in der Höhe von 570 Millionen Franken gerechnet werden. Das Ziel von «Thur3» ist ein wirkungsvoller Hochwasserschutz für Bevölkerung und Wirtschaft im Thurtal, die Erhaltung des Kulturlandes ausserhalb der Dämme sowie die Sicherung der Wasserversorgung und der landwirtschaftlichen Bewässerung.

Aber auch hier gibt es Widerstand gegen das Projekt – vor allem in bäuerlichen Kreisen: Durch Hochwasserschutz und Revitalisierung der Thur verliert die Landwirtschaft rund 212 Hektaren Kulturland. Besonders der Verlust von Fruchtfolgeflächen sorgt für Kritik. So fordert die «IG Thur» in einem offenen Brief eine Überarbeitung des Projekts fordert die öffentliche Mitwirkung am Projekt. Die Konzeptänderung von «Thur3» weist die Regierung kategorisch zurück. Sie hat aber der öffentlichen Mitwirkung auf kantonaler und regionaler Ebene in der Planperiode 2025 bis 2028 zugestimmt.

Mit einer neuen Delegierten, der agrarpolitisch versierten Hermine Hascher, soll der Dialog gestärkt werden. In «Thur-Konferenzen» sollen Interessen moderiert und konkrete Planungsschritte vorbereitet werden.

Um die Wogen zu glätten und den Dialog zu stärken, hat die Exekutive Hermine Hascher als «Delegierte des Regierungsrates» berufen. Die 64-jährige ehemalige Kantonsparlamentarierin war vor ihrer Pensionierung Geschäftsleitungsmitglied der landwirtschaftlichen Beratungszentrale AGRIDEA. Hermine Hascher soll die Interessengruppen koordinieren und mediativ dafür sorgen, dass die Anliegen bei der Umsetzung von «Thur3» angemessen berücksichtigt werden. In sogenannten «Thur-Konferenzen» sollen die Interessen moderiert und konkrete Planungsschritte vorbereitet werden.

Planerischer Balanceakt

Ob Alpenrhein, Rhone oder Thur: Hochwasserschutz ist lebenswichtig – und gleichzeitig ein planerischer Balanceakt. Denn wo Flüssen mehr Raum gegeben wird, geraten landwirtschaftliche Flächen unter Druck. Die Kunst besteht darin, Sicherheit, Naturschutz und landwirtschaftliche Nutzung so auszutarieren, dass am Ende tragfähige Lösungen für alle entstehen.