«Die Menschen versuchen, sich gesünder und nachhaltiger zu ernähren.»

Christine Schäfer, Senior Researcherin und Referentin am Gottlieb Duttweiler Institut GDI, über Bedürfnisse der Konsumentinnen und Konsumenten, deren Top-Themen in der Ernährung und wie wir in Zukunft essen.
Zuletzt aktualisiert am 6. Mai 2024
von Martina Graf
5 Minuten Lesedauer
3 Christine Schaefer 2 Highres Quelle GDI (1)

Welche Trends gibt es in der Land- und Ernährungswirtschaft? Was wollen die Konsumentinnen und Konsumenten von heute essen? Welche Trends gibt es in der Produktion und im Verkauf?

Mit solchen und vielen weiteren Fragen beschäftigt sich Christine Schäfer, Senior Researcherin und Referentin, gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). Seit acht Jahren analysiert sie dort gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Ernährung, Konsum und Handel.

Unter anderem hat sie am European Food Trends Report «Feeding the Future: Chancen für ein nachhaltiges Ernährungssystem» mitgearbeitet, der 2023 veröffentlicht wurde. Der Report untersucht und erklärt, welche Rolle die Konsumentinnen und Konsumenten in der Transformation zu einem nachhaltigeren Ernährungssystem spielen und welche Chancen sich daraus für Landwirtschaft, Industrie, Handel und Gastronomie ergeben.

Das GDI veröffentlicht eigene Studien und Auftragsstudien und organisiert jährlich Konferenzen. Die vom GDI veröffentlichten Studien sind auf der Website frei zugänglich.

Martina Graf/LID: Woran arbeiten Sie aktuell am GDI?

Christine Schäfer: Aktuell arbeite ich an einer neuen Studie zum Thema Esskultur. Wie diese uns beeinflusst, wie sie unser Konsumverhalten beeinflusst, und ob sie im Thema Nachhaltigkeit Hürde oder Hilfe sein kann. Das ist auch das Thema der nächsten International Food Innovation Conference, die wir im Juni am GDI haben werden. Wir versuchen, das gesamte Ernährungssystem zu betrachten und eine globale Perspektive einzunehmen, sind uns aber auch unserer eurozentrischen Sichtweise bewusst. Unsere Kernthemen sind der Handel und der Konsum. Wir beziehen aber auch die Produktion, die Verarbeitung, die Industrie, den Vertrieb und die Gastronomie in unsere Analysen ein. Unsere Forschung findet eher aus einer theoretisch-analytischen Perspektive statt. Wir haben kein Labor, in dem wir an alternativen Proteinen tüfteln. Wir führen vor allem Befragungen im Konsumentenbereich durch und arbeiten viel mit Expertinneninterviews, die meist eher qualitativ sind.

Wie definieren Sie den Begriff «Trend»?

Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Ein Trend hat immer etwas mit Veränderung zu tun. Es gibt verschiedene Ebenen. Wir sprechen von Megatrends: Das sind die grossen, langfristigen Veränderungen, die mehrere Branchen betreffen, die relativ stabil sind, auch über Länder, Branchen, Bevölkerungsschichten hinweg. Dann gibt es die eher kleinteiligen Makro- und Mikrotrends, die zum Teil auch mehrere Branchen betreffen. Und dann gibt es sehr kurzfristige Entwicklungen. Die fallen dann eher unter das Thema Hype. Gerade wenn etwas Neues aufkommt, ist es schwer abzuschätzen, ob es wirklich ein Trend ist oder schnell wieder verpufft. Am GDI beschäftigen wir uns vor allem mit Megatrends.

Welche Themen und Trends dominieren bei den Konsumentinnen und Konsumenten im Bereich Ernährung?

Aktuell lassen sich viele Ernährungstrends auf drei Hauptbegriffe reduzieren: Gesundheit, Nachhaltigkeit und Convenience. Das sind so die gefühlten Dauerbrenner, mit denen ich mich befasse. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Unterthemen, die in diese Bereiche eingebettet sind. Im Bereich Gesundheit beobachten wir den Trend, dass Ernährung vermehrt nicht nur als präventive Massnahme, um gesund zu bleiben, sondern auch als eine Art Medizin genutzt wird. Dort fliesst auch die Thematik der Selbstoptimierung mit ein: Zum Beispiel die Verdatung durch Messgeräte, die in Uhren integriert sind und uns helfen, auf unsere Gesundheit zu achten, oder Krankenkassenangebote, die einen Rabatt erlösen, wenn man aktiv ist. Die Kombination aus Nachhaltigkeit und Gesundheit wiederum spiegelt sich beispielsweise in der Planetary Health Diet wider. In diesem Bereich versucht man sich so zu ernähren, dass es sowohl für den eigenen Körper als auch für die Umwelt optimal ist; sodass man eine Balance findet. Im Bereich Convenience drückt sich der Zeitdruck aus, dem wir alle unterliegen. Viele Menschen suchen nach Möglichkeiten, Zeit zu sparen, ohne dabei auf Qualität oder Genuss zu verzichten. Das bewusste Geniessen von Mahlzeiten und das Selberkochen werden zu bewussten Entscheidungen, die man sich gönnt, wenn es die Zeit erlaubt.

«Aktuell lassen sich viele Ernährungstrends auf drei Hauptbegriffe reduzieren: Gesundheit, Nachhaltigkeit und Convenience.»

Welches sind die aktuellen Herausforderungen und Bedürfnisse aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten?

Die Menschen versuchen, sich gesünder und nachhaltiger zu ernähren. Das beobachten wir seit einigen Jahren. Man kann davon ausgehen, dass das etwas ist, was die Menschen beschäftigt. Es zeigt sich aber auch, dass obwohl viele heute besser informiert sind, die Mehrheit die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Nachhaltigkeit nicht versteht. Wir haben die Menschen gefragt, was ihnen helfen würde, sich gesünder und nachhaltiger zu ernähren. Dabei wurde deutlich, dass unser aktuelles Ernährungssystem eine grosse Hürde ist. Die dringlichsten Anliegen waren günstigere Preise, eine klarere Kennzeichnung der Produkte aufgrund verwirrender Labels, eine bessere Verfügbarkeit und mehr Auswahl. Erst danach kam das Thema «Mehr Zeit für die Zubereitung». Es fällt auf, dass die vier Hauptantworten Aspekte sind, welche die Konsumentinnen und Konsumenten nicht direkt beeinflussen können. Man möchte vielleicht gesünder oder nachhaltiger leben. Aber letztlich scheitern wir am Ernährungssystem. Vielleicht auch deshalb, weil Industrie, Politik und Handel den Konsumentinnen und Konsumenten zusätzliche Steine in den Weg legen. Die Subventionen, die wir heute haben, verzerren die Preise. Es bräuchte eine umfassende Transformation des Ernährungssystems, um diese Lücke zu schliessen und den Konsumentinnen und Konsumenten zu ermöglichen, ihre Ernährungsgewohnheiten entsprechend ihren Werten und Bedürfnissen zu gestalten. Wenn man das Prinzip der True Costs betrachtet, müssten die Preise für viele Produkte, wie zum Beispiel Fleisch, deutlich höher sein. Denn die aktuellen Preise spiegeln nicht die gesamten Kosten wider, die durch die Produktion entstehen. Neben den reinen Produktionskosten sind auch Umweltbelastungen, Tierleid, der Verlust an Biodiversität und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen entscheidende Faktoren, die den wahren Preis eines Produkts ausmachen.

Wie wichtig ist die Herkunft der Nahrungsmittel?

Wir haben eine Konsumentenbefragung durchgeführt, bei der wir die Teilnehmer baten, aus acht Kategorien die drei wichtigsten in Bezug auf Lebensmittel auszuwählen. Die am häufigsten genannten waren Geschmack, Nährstoffgehalt, Kosten und Herkunft, wobei 47 Prozent angaben, dass ihnen die Herkunft besonders wichtig ist. Wir haben aber nicht untersucht, ob die Herkunft für die Befragten deshalb wichtig ist, weil sie die lokale Landwirtschaft unterstützen möchten oder ihren CO₂-Fussabdruck minimieren wollen. Des Weiteren haben wir die Teilnehmenden gefragt, welches Lebensmittel ihrer Meinung nach den grössten ökologischen Fussabdruck hat: eine importierte Mango oder regionales Rindfleisch. Die Mehrheit hat sich für die Mango entschieden. Das deutet darauf hin, dass die Emissionen durch den Transport tendenziell überschätzt werden. Wobei man inzwischen weiss, dass der Transport nur einen kleinen Teil der Emissionen ausmacht.

Gibt es in Bezug auf die Nahrung Unterschiede zwischen Stadt und Land?

Wir haben nicht bei allen Fragen den Unterschied Stadt-Land ausgewertet. So gibt es z. B. bei der Akzeptanz von Laborfleisch kaum Unterschiede. Die Offenheit gegenüber Fleischalternativen ist bei der städtischen Bevölkerung etwa gleich gering wie bei der ländlichen. 

«Obwohl viele heute besser informiert sind, versteht die Mehrheit die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Nachhaltigkeit nicht.»

Haben zelluläres Fleisch und pflanzliche Alternativen eine Chance bei den Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten?

Die Konsumentinnen und Konsumenten essen nach wie vor gerne Fleisch. Die pflanzlichen Ersatzprodukte, von denen ich das Gefühl habe, dass sie eigentlich schon sehr weit verbreitet sind, werden von vielen skeptisch betrachtet, obwohl sie mittlerweile schon dazugehören und in Restaurants auch angeboten werden. Viele der Befragten sagten, dass sie es nicht einmal probieren wollten. Zellkultiviertes Fleisch ist für viele noch sehr fremd. Ich möchte anfügen, dass es für Konsumentinnen und Konsumenten sehr schwierig ist, ein Produkt zu bewerten, das sie gar nicht kennen können, weil es schlichtweg noch nicht auf dem Markt ist. Sollte die regulatorische Zulassung für zellkultiviertes Fleisch einmal kommen, wird es wahrscheinlich über die Gastronomie zu den Konsumentinnen kommen. Am Anfang vielleicht noch teuer, aber später, wenn die Produktionskosten sinken, wird es über Fast-Food-Ketten die breite Bevölkerung erreichen. Also letztlich die gleiche Entwicklung, die wir bei pflanzlichen Alternativen gesehen haben. Zuerst hat man mit der Sterneküche zusammengearbeitet. Dann haben Fast-Food-Ketten wie McDonald’s und Burger King die Produkte in ihr Sortiment aufgenommen.

Diese Themen stimmen für die Schweiz und Europa. Wie sieht es global aus?

So konkret haben wir das nicht erhoben. Aber letztendlich leben wir in einer globalisierten Welt, wo sich die Bedürfnisse und Trends ein Stück weit angleichen. Klar, wenn man jetzt irgendwo auf der Welt lebt, wo man erst mal schauen muss, dass man genügend Kalorien und frisches Trinkwasser hat, dann haben wir natürlich ganz andere Themen, die uns beschäftigen. Bei uns geht es um Selbstoptimierung, Datenanalyse und Klimaschutz. Wir versuchen auch zu schauen, was auf globaler Ebene passiert. Im letzten European Food Trends Report haben wir Themen wie Agrarökologie, Kreislaufwirtschaft, True Cost of Food und Ernährungssouveränität behandelt. Das sind alles Themen, die auch in Entwicklungs- und Schwellenländern sehr wichtig sind. Gerade in diesen Ländern geht es darum, nicht zu abhängig von grossen Agrarunternehmen und dem globalisierten Welthandel zu werden. Die Elfenbeinküste beispielsweise ist eines der wichtigsten Produktions- und Exportländer für Kaffee und Kakao. Um den Bedarf der eigenen Bevölkerung zu decken, müssen Grundnahrungsmittel wie Reis oder Weizen importiert werden. Fällt diese Importmöglichkeit weg, wie zum Beispiel die Weizenimporte aus der Ukraine, ist die Ernährungssicherheit in der Elfenbeinküste gefährdet.

«Die Offenheit gegenüber Fleischalternativen ist bei der städtischen Bevölkerung etwa gleich gering wie bei der ländlichen.»

Wo liegen Ihrer Ansicht nach die langfristigen Trends?

Gerade im Bereich Fleisch kann ich mir sehr gut vorstellen, dass es in Zukunft verstärkt eine Zweiteilung des Marktes geben wird. Man wird weiterhin tierische Produkte kaufen können. Gerade auch, weil wir in der Schweiz landwirtschaftliche Flächen haben wie unsere Berggebiete, die nicht anders genutzt werden können als für die Viehwirtschaft. Dieses Fleisch wird dann aber teurer, zum wahren Preis, erhältlich sein. Das heisst, Fleisch wird eher zu einem hochpreisigen Nischen- bis Luxusprodukt. Dafür werden aber auch die allerhöchsten Qualitäts- und Tierwohlstandards erfüllt. Der Massenmarkt – was heute industriell produziertes Fleisch ist – wird hingegen mehrheitlich durch Alternativen gedeckt. Durch fortschreitende Entwicklungen und Innovationen im Bereich der Fleischalternativen wird es in Zukunft wahrscheinlich auch immer schwieriger zwischen tierischem Fleisch, welches heute von vielen Konsumentinnen und Konsumenten als natürlich, und dem Ersatzprodukt, welches als unnatürlich wahrgenommen wird, zu unterscheiden. Wenn dann Geschmack, Konsistenz und Preislevel von tierischem Fleisch und Alternative fast deckungsgleich sind, wird es wahrscheinlich richtig schwierig zu rechtfertigen, dass man Tiere für das Fleisch töten muss. Ich glaube, dass wir dann an einen Punkt kommen, wo der breite Massenmarkt durch Alternativen gedeckt wird, und dass es weiterhin noch Fleisch gibt, aber, wie bereits erwähnt, dass es nur noch ein sehr kleiner Nischenmarkt ist. Und das bedingt dann natürlich auch eine Umstellung der Landwirtschaft, zu weniger Tierhaltung und mehr Anbau von Nahrungsalternativen. Je nach Perspektive, also aus welchem Sektor man kommt, ist das eine mögliche Zukunftsvision, eine Utopie oder eine Dystopie. Aber ja, ich denke, schlussendlich geht es wieder zurück zu dem, was unsere Grosseltern-Generation gekannt hat: Einen Sonntagsbraten und unter der Woche fleischlos.

«Fleisch wird eher zu einem hochpreisigen Nischen- bis Luxusprodukt.»