Zukunft auf dem Teller: Fleisch aus der Petrischale

Bei der unvermindert wachsenden Weltbevölkerung ist der Bedarf an nachhaltigen Lebensmitteln dringend und Lösungen sind gesucht. So könnte auch kultiviertes Fleisch dereinst Einzug in die hiesige Lebensmittelindustrie halten.
Zuletzt aktualisiert am 25. April 2024
von Renate Hodel und Harry Rosenbaum
8 Minuten Lesedauer
Laborfleisch Kultiviertes Fleisch Ribeye Steak Aleph Farms Israel Copyright Aleph Farms

Kultiviertes Fleisch wird in einem kontrollierten Umfeld aus Muskelstammzellen von Rindern gezüchtet, die in speziellen Nährmedien zum Wachsen angeregt werden. Diese Methode verspricht, Fleischprodukte zu erzeugen, die nicht nur ressourceneffizienter und klimaschonender sind, sondern auch den Bedarf an tierischem Protein decken können, ohne dass Tiere gehalten und geschlachtet werden müssen.

Der Prozess der Herstellung von kultiviertem Fleisch beginnt mit einer Biopsie von Zellkulturen von einem Tier. «Diese Zellen werden dann in einem Bioreaktor vermehrt, ähnlich wie in einer Bierbrauerei», erklärt Anna Bünter, Mitgründerin des Zürcher Foodtech-Startup Sallea, Anfang März am Ostschweizer Food Forum. Das ETH-Spinn-off fokussiert sich auf die Entwicklung von pflanzlichen 3D-Strukturen, sogenannten Scaffolds, die bei der Kultivierung ganzer Fleischstücke helfen und die Textur von kultiviertem Fleisch verbessern sollen. «Die Zelldifferenzierung zu Muskelzellen geschieht ebenfalls im Bioreaktor – anschliessend können die Muskelzellen beziehungsweise das Fleisch ‹geerntet› werden», erläutert Anna Bünter weiter. Die Produkte, die so aus kultivierten Zellen gewonnen werden können, sind vielfältig: Neben Fleisch sind das auch Fisch, Milchprodukte und Leder.

Regulierung und Zulassung von neuartigen Lebensmitteln in der Schweiz

Trotz geringerem Ressourcenverbrauch und fortschreitender Technik stünden behördliche Zulassungen in Europa aber noch aus, merkt Anna Bünter an: «In einigen Ländern wie Singapur, Israel und den USA gibt es bereits Zulassungen – Europa hingegen hinkt diesbezüglich noch hinterher.» Allerdings sind die Anforderungen in Europa und insbesondere in der Schweiz höher.

Kultiviertes Fleisch wird in der Schweiz, wie in der Europäischen Union, als sogenanntes neuartiges Lebensmittel oder auch «novel food» klassifiziert und unterliegt strengen Regulierungen. Die Sicherheit und Qualität dieser Produkte haben höchste Priorität. «Neuartige Lebensmittel werden sorgfältig geprüft und nur zugelassen, wenn sie für die Konsumentinnen und Konsumenten sicher sind», erklärt Sarah Camenisch, Mediensprecherin des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), auf Anfrage. Hersteller müssen zur Bewilligung ein umfangreiches Dossier einreichen, welches unter anderem toxikologische Untersuchungen beinhaltet, welche die Unbedenklichkeit des Produkts belegen müssen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind eng mit den EU-Vorschriften abgestimmt, was eine harmonisierte Sicherheitsbewertung von neuartigen Lebensmitteln garantiert.

Trotzdem erlebt das Kultivieren von Fleisch in der Schweiz gerade eine wichtige Entwicklungsphase: So hat das BLV im vergangenen Jahr einen ersten Antrag zur Zulassung von kultiviertem Fleisch erhalten und dieser Antrag befindet sich derzeit in einem umfangreichen Bewilligungsverfahren. «Das Bewilligungsverfahren läuft und wird insgesamt zirka zwei Jahre in Anspruch nehmen», bestätigt Sarah Camenisch weiter. Seither seien in der Schweiz aber keine weiteren Gesuche eingereicht worden, ergänzt sie.

Hunger nach Laborfleisch in den USA und Singapur – Verbot in Italien

In den USA ist der Verkauf von im Labor gezüchtetem Fleisch seit letztem Jahr erlaubt, nachdem es zuvor nur in Singapur genehmigt war. Das US-Landwirtschaftsministerium erteilte den beiden in Kalifornien ansässigen Unternehmen Upside Foods und Good Meat die endgültige Genehmigung für den Verkauf von Hähnchenfleisch, das aus tierischen Zellen gezüchtet wurde.

 

Widerstand in Italien

Trotz einer Umfrage, die zeigt, dass 55 Prozent der Italienerinnen und Italiener Interesse am Kauf von kultiviertem Fleisch haben und 75 Prozent für eine Reduzierung des Fleischkonsums aus herkömmlicher Tierhaltung sind, hat Italien derweil die Herstellung, Vermarktung und Nutzung von kultiviertem Fleisch verboten. Die italienische Abgeordnetenkammer verabschiedete im November 2023 ein entsprechendes Gesetz, das nun einer EU-Prüfung unterzogen wird. Diese Prüfung ermöglicht es anderen Mitgliedstaaten, Bedenken bezüglich potenzieller Verstösse gegen die Regeln des EU-Binnenmarktes zu äussern.

Der gemeinnützige Think Tank «The Good Food Institute Europe» (GFI) warnte in der Folge vor negativen Auswirkungen dieser politischen Entscheidung. Der GFI hebt hervor, dass das Verbot zu einem Investitionsrückgang in Italien führen, italienische Forscher ins Ausland treiben und den Kampf gegen den Klimawandel beeinträchtigen könnte, während andere europäische Länder, insbesondere die Niederlande, Grossbritannien und Deutschland, in diesen Sektor investieren.

 

Interesse in der Schweiz

Seit 2018 engagiert sich auch die Coop-Tochter Bell Food Group in der Entwicklung von kultiviertem Rindfleisch. Der Schweizer Fleischproduzent hat etwa 2,3 Millionen Franken in das niederländische Start-up Mosa Meat investiert, das schon seit längerer Zeit an der Herstellung von Fleisch arbeitet.

Im Jahr 2020 entschied sich auch Migros für eine Investition in diesem Bereich und beteiligte sich an der israelischen Biotech-Firma Aleph Farms, die ebenfalls daran arbeitet, aus Fleischzellen Steaks zu züchten. Zudem hat die Migros zusammen mit den Unternehmen Givaudan aus Vernier und Bühler aus Uzwil den «Cultured Food Innovation Hub» gegründet, um die Entwicklung und den Marktanteil von Produkten aus kultivierter Landwirtschaft voranzutreiben.

Unter anderem Migros setzt auf Laborfleisch

Verantwortlich für das Einreichen des ersten Bewilligungsgesuch für kultiviertes Fleisch ist das israelische Start-up Aleph Farms und Detailhändlerin Migros. Bereits seit 2019 arbeiten beide Unternehmen zusammen und die Migros hat sich in Partnerschaft mit dem israelischen Start-up zum Ziel gesetzt, die innovative Technologie der Produktion von Zellkulturen respektive das daraus resultierende Laborfleisch auf den Schweizer Markt zu bringen. Das Gesuch markiert so den ersten Schritt zur Einführung der weltweit ersten kultivierten Rindersteaks in der Schweiz. Die Migros sieht in dieser Technologie ein enormes Potential, den global steigenden Fleischkonsum nachhaltig zu befriedigen.

«Kultiviertes Fleisch kann dazu beitragen, die Proteinversorgung in Zukunft auf eine nachhaltige Weise sicherzustellen», erläutert Marcel Schlatter, Leiter der Medienstelle beim Migros-Genossenschaftsbund, die Motivation. «Fleisch ohne Schlachtung oder Massentierhaltung, eine deutlich bessere Klimabilanz, kein Antibiotikaeinsatz – das sind Argumente, die für diese Produkte sprechen», erklärt er weiter.

Trotz der vielversprechenden Vorteile von Laborfleisch und der Investition in Technologien zu dessen Produktion räumt der Migros-Medienstellenleiter ein, dass die Einführung und Akzeptanz solcher Produkte nicht unmittelbar bevorstehen: «Wie fast überall im Nahrungsmittelsektor werden aber auch hier die Meinungen heterogen sein – und wir sind auch noch ein Stück weit weg von einer Marktreife», erklärt er. Die anfängliche Einführung von kultiviertem Fleisch wird voraussichtlich in der Gastronomie erfolgen, bevor es dann in den Einzelhandel gelangt. «Das dauert schon noch eine Weile, bis solche Produkte dereinst im Supermarkt verfügbar sein werden», betont Marcel Schlatter.

Laborfleisch Kultiviertes Fleisch Aleph Farms Israel Analyse Kollagenproduzierender Zellen Unter Mikroskop Copyright Daniel Elkayam Aleph Farms
Wissenschaftler von Aleph Farms analysieren kollagenproduzierende Zellen unter dem Mikroskop. (Daniel Elkayam/Aleph Farms)

Kultiviertes Fleisch auch vom Bauernhof?

Für die Technologie zur Herstellung von kultiviertem Fleisch interessiert sich auch die Agrargenossenschaft Fenaco. Deshalb beteiligt sie sich seit einem Jahr als Teilsponsorin an einer Machbarkeitsstudie für das Projekt RESPECTfarms. Dieses Projekt zielt darauf ab, Landwirtinnen und Landwirten die Produktion von kultiviertem Fleisch auf ihren Höfen zu ermöglichen. «Wir möchten Einblick in den aktuellen Stand der internationalen Forschung und Entwicklung erhalten und dadurch besser abschätzen können, inwiefern die zelluläre Landwirtschaft ein neues Geschäftsfeld für die Schweizer Bäuerinnen und Bauern darstellt – oder nicht», erläutert der Fenaco Mediensprecher Samuel Eckstein Fenaco die Motivation des Unternehmens für diese Beteiligung. Die Agrargenossenschaft tritt bei der Studie primär als Geldgeberin auf. Die Unterstützung umfasst einen Beitrag im mittleren fünfstelligen Bereich.

Zum aktuellen Stand der Machbarkeitsstudie äussert sich Samuel Eckstein vorsichtig: «Wir erwarten die ersten Erkenntnisse aus der Machbarkeitsstudie Mitte 2024.» Konkrete Ergebnisse und Bewertungen der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit stehen also noch aus. Angesichts der Prognosen, dass bis zum Jahr 2050 etwa 10 Milliarden Menschen die Erde bevölkern werden, unterstreicht Samuel Eckstein aber die Dringlichkeit, innovative Lösungen in der Land- und Ernährungswirtschaft zu entwickeln. «Die Ressourcen für die Lebensmittelproduktion und der Tierhaltung sind begrenzt – die Land- und Ernährungswirtschaft ist deshalb gefordert, innovative Lösungen für eine effiziente Produktion von Nahrungsmitteln zu finden, welche die Umwelt nicht zusätzlich belasten», erklärt er. Und dabei sollen die Bäuerinnen und Bauern nicht auf der Strecke bleiben: «Um den ausschliesslich industriell tätigen Unternehmen das Feld nicht zu überlassen, gilt es für uns als Agrargenossenschaft zu klären, welche Rolle die Landwirtinnen und Landwirte künftig in der Produktion von neuartigen Lebensmitteln allenfalls spielen können», erläutert Samuel Eckstein und betont dabei die Notwendigkeit, die bestehenden landwirtschaftlichen Strukturen in diese Entwicklungen zu integrieren und praxistaugliche Lösungen zu finden.

Kultiviertes Fleisch stösst in der Schweiz (noch) auf Skepsis

Bis 2030 könnte Fleisch aus Zellkulturen in Schweizer Supermärkten erhältlich sein, doch eine repräsentative Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts zeigt, dass eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer misstrauisch bleibt. 66 Prozent würden Laborfleisch nicht probieren – noch zurückhaltender ist die Schweizer Bevölkerung nur gegenüber neuen Produkten wie Insekten und pilzbasiertem Kaffee gegenüber, die von 72 Prozent beziehungsweise 67 Prozent abgelehnt werden.

Im internationalen Vergleich zögern Schweizerinnen und Schweizer auch mehr als andere: Während 45 Prozent der US-Amerikaner offen für Laborfleisch sind, würden sich nur 20 Prozent in der Schweiz dafür entscheiden, Laborfleisch zu probieren.

Eine Schlüsselrolle für die Akzeptanz spielen laut Forscherteam des Gottlieb Duttweiler Instituts Bildung, Information, Verfügbarkeit und wettbewerbsfähige Preise. Ein möglicher Paradigmenwechsel durch die Einführung von «True Prices», die soziale und ökologische Kosten einbeziehen, könnte konventionelles Fleisch verteuern und Laborfleisch attraktiver machen. Zur Überwindung von Kapazitäts- und Preisschranken könnten zunächst auch Hybridprodukte aus pflanzlichen Proteinen und kultiviertem Fleisch eingeführt werden, die den pflanzlichen Geschmack mit dem authentischen Geschmack von tierischem Fleisch verbinden. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von kultiviertem Fleisch könnten Fast-Food-Ketten zu wichtigen Verbreitern des neuen Angebots werden, indem deren flächendeckende Verfügbarkeit dazu beitragen würde, dass sich die Bevölkerung an kultivierte Produkte gewöhnt.

Akzeptanz und Hürden als Hindernisse

Allerdings bleibt die Akzeptanz von kultiviertem Fleisch unter den Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten eine Herausforderung für eine dereinst erfolgreiche Einführung von Laborfleisch auf dem hiesigen Markt. Eine Umfrage des Gottlieb Duttweiler Instituts zeigt, dass 66 Prozent der Bevölkerung eher unwahrscheinlich kultiviertes Fleisch probieren würden. «Die Ergebnisse überraschen nicht», kommentiert Marcel Schlatter von der Migros, «Essgewohnheiten ändern sich erfahrungsgemäss nicht über Nacht.» Studien zeigten aber auch eine generelle Offenheit, besonders bei jüngeren Generationen, sagt Anna Bünter von Sallea am Food Forum: «Die Akzeptanz hängt stark von der Kommunikation und den Informationen über die Technologie und die Produkte ab», ergänzt sie. Die Herausforderung dürfte sein, diese Produkte so zu entwickeln, dass sie den geschmacklichen Präferenzen und den lokalen Esskulturen entsprechen.

Zudem müssen sie erschwinglich sein, um eine breite Akzeptanz zu finden. Denn ein weiteres Hindernis für die Marktdurchdringung von kultiviertem Fleisch sind die hohen Produktionskosten. «Kultiviertes Fleisch ist noch sehr teuer und das dürfte wohl auch noch ein Weilchen so bleiben», erklärt Marcel Schlatter weiter. Die wirtschaftliche Rentabilität dieser Produkte hängt stark davon ab, ob die Preise letztendlich unter denen von herkömmlichem Fleisch liegen können. Die Produktionskosten für kultiviertes Fleisch sind aber laut Anna Bünter in den letzten Jahren und Monaten massiv gesunken, von 680’000 Dollar pro Kilogramm auf unter 50 Dollar pro Kilogramm. Durch Massenproduktion könnte die kommerzielle Machbarkeit entscheidend erhöht werden, wann die Produktion allerdings so weit ist, bleibt schwer abzuschätzen.

«Die Perspektive von kultiviertem Fleisch in der Schweiz hängt ausserdem von den Forschungsaktivitäten an führenden Universitäten und Hochschulen ab sowie von den Investitionen und Industriezusammenschlüssen bei Unternehmen wie Migros, Bühler oder Givaudan», betont Anna Bünter am Ostschweizer Food Forum abschliessend. So ist der Übergang zu nicht-tierischen Proteinen und die Zukunft von kultiviertem Fleisch in der Schweiz nicht nur eine Frage der Technologie, sondern auch des Verbraucherverhaltens und der kulturellen Anpassung und ist zusätzlich sowohl von wissenschaftlichen Innovationen wie auch von strategischen Partnerschaften abhängig.

Steinzeit-Snack aus dem Labor

Im vergangenen Jahr präsentierten Wissenschaftler der in Australien beheimateten Firma Vow im Wissenschaftsmuseum in Amsterdam in den Niederlanden ein grosses Stück Fleisch, das aus dem genetischen Material des ausgestorbenen Wollhaarmammuts gewonnen wurde. Das Forschungsteam isolierte zunächst DNA-Sequenzen des Mammuts und ergänzte fehlende Gene durch solche des Afrikanischen Elefanten, woraufhin sie diese in Schafszellen integrierten. Derzeit ist das Fleisch allerdings nicht zum Verzehr gedacht – zuerst muss getestet werden, wie der menschliche Körper auf das 4’000 Jahre alte Mammutprotein reagiert.