Neue Qualitätsnormen – Aufbruch oder Status quo?

Für das Gemüse gelten ab dem 1. Juni 2023 neue Qualitätsnormen. Damit will die Branche unter anderem Food Waste entgegenwirken und für die Gemüseproduzentinnen und Gemüseproduzenten soll sich die Situation beim Handel gerade bei extremen Wetterereignissen entschärfen. Die Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten dürfte aber zum Knackpunkt werden.
Zuletzt aktualisiert am 2. Juni 2023
von Renate Hodel
8 Minuten Lesedauer
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Laut einem UNO-Bericht sind Food Loss und Food Waste die drittgrösste Quelle von Treibhausgasemissionen. Und auch in der Schweiz trägt die Lebensmittelverschwendung erheblich zum ökologischen Fussabdruck bei. So ist die Umweltbelastung durch vermeidbare Lebensmittelabfälle laut Bundesamt für Umwelt etwa halb so gross, wie die des gesamten motorisierten Individualverkehrs in der Schweiz.

Die Schweiz hat sich im Rahmen des vom Bundesrat verabschiedeten Aktionsplans gegen Lebensmittelverschwendung darum das ambitionierte Ziel gesetzt, bis 2030 die vermeidbaren Lebensmittelabfälle zu halbieren und dazu vom Anbau über die Produktion bis zum Verkauf und letztlich dem Konsum möglichst alle Akteure zu verpflichten.

Erste Anpassung seit fast 10 Jahren

In der Schweizer Landwirtschaft entstehen vermeidbare Abfälle meistens, weil die Ernte nicht den strengen Handelsvorschriften entspricht und deshalb keine Abnehmer findet oder auch aufgrund von saisonaler Überproduktion bei Lebensmitteln wie Salat, dessen Wachstum und Konsum zudem stark vom Wetter abhängig ist.

Bei den Handelsvorschriften wird im Rahmen des Aktionsplans nun angesetzt: Zum ersten Mal seit 2014 wurden die Qualitätsnormen für Gemüse in mehrmonatiger Arbeit bei 65 Produkten umfassend überarbeitet. Damit leiste die Branche einen wichtigen Beitrag zur Reduktion von Food Waste und reagiere gleichzeitig auf erschwerte anbautechnische Bedingungen durch den Wegfall verschiedener Pflanzenschutzmittel und die Zunahme von Wetterextremen, heisst es vom Verband der Schweizer Gemüseproduzenten VSGP.

So soll mit den neuen Qualitätsnormen unter anderem die Toleranz gegenüber leichten Schönheitsmakeln beim Gemüse steigen und damit mehr Ware im Handel landen und so auch weniger Gemüse zwischen Acker und Handel «verloren» gehen.

Produktion in grossem Spannungsfeld

Bei den Gemüseproduzentinnen und Gemüseproduzenten werden die neuen Qualitätsnormen begrüsst und sind durchaus auch an gewissen Hoffnungen geknüpft. «Die Normen liessen bis anhin nur ausnahmslos einwandfreies Gemüse zu, was in den letzten Jahren zu mehr Ausfall bei uns auf den Feldern und so zu Foodwaste führte», sagt Christoph Wyssa, Gemüseproduzent in Galmiz am Murtensee.

Den Produzentinnen und Produzenten sei bewusst, dass sie nicht faule oder total verfressene Produkte verkaufen könnten. In den letzten Jahren habe es aber immer wieder Fälle gegeben, in denen Ware wegen ein paar Blattläusen oder ein bisschen Lochfrass zurückgewiesen worden sei und dort würden die Qualitätsnormen nun ansetzen. «Gemüse, das vielleicht nicht mehr hundertprozentig schön aussieht, kann trotzdem noch verkauft und auch ohne Bedenken noch gegessen werden», ergänzt Christoph Wyssa.

Die Gemüseproduktion bewege sich sowieso in einem enormen Spannungsfeld: Es werde möglichst ökologisch und umweltschonend produziertes Gemüse in Topqualität verlangt, während immer mehr Wirkstoffe für den Schutz der Pflanzen wegfallen würden. So plädiert auch Betriebsleiter Samuel Müller vom Bio-Gemüsebetrieb Müller im zürcherischen Steinmaur bezüglich Detailhandel für mehr Toleranz bezüglich der optischen Normen.

Schon ein kleiner Befall mit Thripsen, rund 1 Millimeter kleinen Schädlingen, habe bis anhin dazu führen können, dass Lauch nicht mehr geliefert werden konnte. «Er wäre zwar qualitativ einwandfrei, entspricht aber optisch nicht den Normen», erklärt Samuel Müller. «Es muss eine gesunde Toleranz her, damit Landwirtinnen und Landwirte nicht gezwungen sind, zu Pflanzenschutzmitteln zu greifen.»

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Die klimawandelbedingte Zunahme von Wetterextremen sowie der Wegfall und die Reduktion von Pflanzenschutzmitteln machen den Gemüseanbau zunehmend zur Herausforderung. (jin)

Mit neuen Normen zu nachhaltigerer Produktion

Auch bei den Beratungs- und Anlaufstellen für Gemüsebau der landwirtschaftlichen Kompetenzzentren in den Kantonen verspricht man sich einiges von den neuen Qualitätsnormen. «Es hat viele sehr wichtige und längst überfällige Anpassungen gegeben», sagt Philipp Trautzl, Gemüsebau-Berater am Arenenberg im Kanton Thurgau.

Vor dem Hintergrund der sich stark veränderten Rahmenbedingungen im Pflanzenschutz, sowie verstärkter klimatischer Extreme seien diese Anpassungen auch dringend notwendig. «Denn es ist heute bereits, und in Zukunft umso mehr, nicht mehr möglich die hohen Anforderungen zu erfüllen», ergänzt er. Zum einen würden die dafür notwendigen Pflanzenschutzmittel nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen, zum anderen stehe der enorme Ressourceneinsatz nicht im Verhältnis zum Output. Ein weiterer Punkt sei, dass die bisherigen hohen Anforderungen durch den starken Preisdruck am Markt nicht mehr abgegolten wurden.

«Ich denke, dass bei den Qualitätsnormen ein grosser Hebel liegt, um Lebensmittelverluste zu reduzieren – und zwar der weitaus grössere Hebel als bei kleineren Foodwaste-Projekten», ist auch Daniela Hodel, Leiterin der Fachstelle Gemüsebau am landwirtschaftlichen Beratungszentrum Grangeneuve des Kantons Freiburg überzeugt und ergänzt, dass letztere aber sicher auch für die Sensibilisierung sehr wichtig seien. «Tatsächlich könnte ein grösserer Anteil der Kulturen verkauft werden, was mehr Erntegut pro Fläche bedeuten würde», meint die Agronomin weiter.

Im Prinzip würde so Fläche frei, die anders genutzt werden könnte – beispielswiese für die Erhöhung des Selbstversorgungsgrads oder mehr Flächen für die Biodiversitätsförderung. «Ausserdem würden weniger Betriebsmittel wie Diesel, Dünger, Pflanzenschutzmittel, Saat- und Pflanzgut sowie Traktoren- und Arbeitsstunden verschwendet, wenn mehr der geernteten Ware auch tatsächlich im Verkauf landet», ergänzt sie. Somit sollte sich dies längerfristig auch finanziell bei den Betrieben abzeichnen und insgesamt zu einer nachhaltigeren Produktion führen.

Qualitätsnormen beim Gemüse

Qualitätsnormen regeln, welche Merkmale Schweizer Gemüse aufweisen müssen, um in den Handel gelangen zu können. Sie gelten sowohl für konventionell als auch für biologisch produzierte Ware und werden partnerschaftlich vom Verband Schweizer Gemüseproduzenten VSGP und dem Verband des Schweizerischen Früchte-, Gemüse- und Kartoffelhandels SWISSCOFEL bestimmt.

Bei der Überarbeitung der neuen Qualitätsnormen wurden unter anderem Grössen- und Gewichtsbeschränkungen angepasst. Daneben gab es auch Textanpassungen, bei denen allerdings noch viel Interpretationsspielraum bleibt: So sind beispielsweise bei Salaten künftig «einzelne tierische Schädlinge erlaubt», bei Kohlrabi werden «kleine Frassspuren am Laub toleriert» und beim Blumenkohl werden «leichte, gelbliche Färbung akzeptiert». Hier sollen in Zukunft dann definierte Schadbilder hinzugezogen werden, um zu beurteilen, ob ein Produkt die Norm erfüllt oder nicht. Dies kommen aber erst im August.

Sind die neuen Normen reine Rhetorik?

Inwiefern die neuen Qualitätsnormen als Massnahmen aber greifen werden, bleibt abzuwarten. So lässt die Migros auf Anfrage beispielsweise verlauten, dass die Anpassungen für ihre Kundinnen und Kunden kaum ersichtlich sein würden – vielmehr sei dies bei temporären Anpassungen wie bei kurzfristigen Unwettereinflüssen der Fall. Des Weiteren würden die Mitarbeitenden am Wareneingang der Migros-Betriebszentralen auf die jeweils aktuellen Produktanforderungen der Migros geschult und diese Produktanforderungen richteten sich an die Ansprüche der Kundinnen und Kunden im Frischmarkt und könnten in einzelnen Punkten von den Qualitätsnormen der Branche abweichen.

«Einen riesigen Effekt wird diese Massnahme nicht haben», zweifelt denn auch Claudio Beretta, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zum Thema Food Waste forscht und als Vereinspräsident von Foodwaste.ch amtet. Zwar seien die angepassten Qualitätsnormen ein Schritt in die richtige Richtung, der Beitrag der Änderung auf dem Papier sei aber nur ein Mosaiksteinchen aller Massnahmen, die zur Halbierung der Lebensmittelverschwendung nötig seien. «Am Schluss ist es tatsächlich in der Hand der Detailhändler, ob und wie sie die Normen umsetzen und kommunizieren», ergänzt Claudio Beretta.

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Um Foodwaste nachhaltig zu reduzieren, sollten sich Konsumentinnen und Konsumenten längerfristig an etwas weniger perfektes Gemüse gewöhnen. (rho)

Produkte entsprechen weiterhin hohen Standards

Sind die Qualitätsnormen also reine Rhetorik? Die Schweizer Gemüseproduzentinnen und Gemüseproduzenten seien stets bestrebt, einwandfreies Gemüse anzubauen und auch sehr gut darin, meint Markus Waber, stellvertretender Direktor des VSGP: «Bei vielen Gemüsesorten werden die Konsumentinnen und Konsumenten daher kaum eine Veränderung bemerken – insbesondere bei Wetterereignissen oder bei Schädlingsbefall dürften die Produzentinnen und Produzenten bei der Abnahme aber schon eine Entlastung spüren.» So könne die Bise, wie während der Bisenlage der letzten Tage, bei Blattsalaten zu feinen Aussenrändern führen. Im Rahmen der neu angepassten Qualitätsnormen sollte der Handel solche Produkte mit leichten Schönheitsmakeln, die anderweitig den hohen qualitativen Standards genügen, aber akzeptieren.

Und trotz angepasster Qualitätsnormen gebe es Grenzen, meint Gemüseproduzent Christoph Wyssa. «Wir müssen Topqualität liefern, damit die Ware beim Konsumenten auch noch frisch ist – wenn wir beispielsweise ein Produkt mit Pilzbefall liefern, ist die Haltbarkeit der Ware nicht mehr gegeben», ergänzt er. So könne die Ware bei der Anlieferung noch einigermassen gut aussehen, im Laden dann aber schon nicht mehr. So wäre die Massnahme gegen Foodwaste nichtig und zusätzlich seien mit dem Ernten, Verpacken, Kühlen und Ausliefern weitere Ressourcen verschwendet worden.

Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten

Des Weiteren äussert der VSGP auch die Befürchtung, dass Gemüse mit Schönheitsmakeln von den Konsumentinnen und Konsumenten verschmäht und im Laden liegen bleiben könnte. Eine Befürchtung die Claudio Beretta von Foodwaste.ch durchaus nachvollziehen kann: «Die Thematik Food Waste und dessen Vermeidung hat in den letzten Jahren enorm an Profil gewonnen – allerdings ist schwer zu sagen, ob diese Bewusstseinsveränderung nur notgedrungen oder auch tatsächlich nachhaltig verankert ist.»

Die Sensibilisierung der Konsumentinnen und Konsumenten dürfte denn auch der Schlüssel zu einer erfolgreichen Umsetzung der neuen Qualitätsnormen beim Gemüse sein. «Die Konsumentinnen und Konsumenten werden sich an die leichten Makel oder den ein oder anderen Besatz mit einzelnen Insekten gewöhnen müssen und der Handel hat dies umfänglich mitzutragen – entsprechende Aufklärungskampagnen müssen hier flankierend unterstützen», meint Philipp Trautzl vom Arenenberg.

«Es braucht Normen», ergänzt Daniela Hodel vom landwirtschaftlichen Kompetenzzentrum Grangeneuve und fügt an: «Schlussendlich sollte es bei den Normen aber vor allem um die Lebensmittelsicherheit und weniger um ästhetische Belange gehen.» Daher seien die Veränderungen sehr willkommen, es gäbe aber sicherlich noch weiteres Potential.

«Die Konsumentinnen und Konsumenten müssen um die negativen Effekte von unnötig hohen Qualitätsnormen beziehungsweise um die positiven Effekte der neuen Normen unterrichtet werden und Bescheid wissen», plädiert sie weiter. Die Reduktion von Food Waste und Pflanzenschutzmittel sei in aller Munde und auch politisch gewollt, nun müsse an der richtigen Stelle angesetzt werden und die Weichen dafür gestellt werden, betont auch Philipp Trautzl: «Die Anpassung der Qualitätsnormen ist hierfür der erste Schritt in die richtige Richtung.»

Aktionsplan gegen Food Waste

Am 6. April 2022 hat der Bundesrat einen nationalen Aktionsplan verabschiedet mit dem Ziel, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 im Vergleich zu 2017 zu halbieren. In der Schweiz gibt es bereits zahlreiche Massnahmen und Initiativen, mit denen die Menge an vermeidbaren Lebensmittelverlusten reduziert werden soll. Diese haben jedoch meist nur eine geringe Reichweite oder lokale Wirkung. Der Aktionsplan gegen die Lebensmittelverschwendung soll die Verminderung von Lebensmittelverlusten beschleunigen. Er richtet sich an alle Unternehmen und Organisationen der Lebensmittelbranche sowie an Bund, Kantone und Gemeinden. Der Aktionsplan ist in zwei Phasen gegliedert.

In der ersten Phase werden branchenübergreifende Vereinbarungen abgeschlossen, die das Gastgewerbe, den Vertrieb, die verarbeitende Industrie und die Landwirtschaft betreffen. Die Reduktionsziele müssen durch freiwillige Massnahmen erreicht werden. Dazu gehören beispielsweise eine verbesserte Angabe der Haltbarkeitsdauer für bestimmte Produkte, das vermehrte Spenden von unverkauften Lebensmitteln an gemeinnützige Organisationen, die Optimierung von Verpackungen oder eine bessere Anbauplanung. Die öffentliche Hand kann zudem dazu beitragen, Initiativen aus der Wirtschaft zu stärken, indem sie bestehende Hindernisse und Interessenskonflikte beseitigen. Damit der Fortschritt langfristig gewährleistet werden kann, sind überdies Massnahmen vorgesehen, mit denen die Kompetenzen von Fachleuten in relevanten Branchen weiterentwickelt und Haushalte besser informiert und mit Knowhow ausgestattet werden sollen.

Im Jahr 2025 wird der Bund prüfen, ob die Massnahmen des Aktionsplans ausreichen. Um das Ziel einer Halbierung der vermeidbaren Lebensmittelverluste bis 2030 erreichen zu können, müssten diese bis 2025 um rund 25 Prozent verringert werden. Sollte sich herausstellen, dass die bestehenden Massnahmen nicht ausreichen und die Lebensmittelverluste nicht rasch genug reduziert werden können, so kann der Bund in der zweiten Phase zusätzliche Massnahmen ergreifen.