Gourmets aus der Jungsteinzeit – den Pfahlbauern in die Kochtöpfe geschaut

Zeitreise zurück. In die Epoche zwischen dem 5. und 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Der Bodensee war ein beliebter Siedlungsort für Pfahlbauer. Und nicht nur das: Hier entsteht eine Esskultur, die in Staunen versetzt und bei Menschen von heute auch Lust auf das Nachkochen erweckt.
Zuletzt aktualisiert am 31. Januar 2024
von Harry Rosenbaum
5 Minuten Lesedauer
Pfahlbauerfestmahl PALAFITFOOD

Genau dafür hatten Simone Benguerel, Leiterin Archäologie im Thurgauer Amt für Archäologie, und Berufskolleginnen und -kollegen einen Riecher und veröffentlichten im Gmeiner-Verlag das aussergewöhnliche Kochbuch «PalaFitFood – So schmeckt die Pfahlbauküche». Ganz im Trend, saisonal und regional.

Das Werk präsentiert auf 192 Seiten über 50 Gerichte unserer Vorfahren aus der Jungsteinzeit, samt den zugehörigen Rezepten und Beschreibung der Zutaten. Zudem werden die nachgekochten Gerichte in 200 farbigen Abbildungen vorgestellt.

Technisch in den Anfängen – beim Geschmack auf Gourmet-Niveau

In einem reich bebilderten Referat im Frauenfelder Museum für Archäologie schilderte die Steinzeitforscherin die Essgewohnheiten der Pfahlbaumenschen. Zudem gab sie Einblick ins Making-of des Kochbuches. In den letzten Jahren hätten sie und Berufskolleginnen und -kollegen rund um den Bodensee das Nahrungsangebot sowie die Ernährungs- und Zubereitungsweisen der Menschen aus der Stein- und anschliessenden Bronzezeit erforscht, sagt Simone Benguerel.

2011 sind 111 von den fast 1000 bekannten archäologischen Pfahlbaustationen in sechs Ländern um die Alpen (Schweiz, Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien und Slowenien) in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen worden.

In diesem Zusammenhang startete die Internationale Bodensee-Konferenz (IBK) die Projektgruppe «UNESCO Welterbe Pfahlbauten». Innerhalb dieser Gruppe sei das Projekt «PalaFitFood» entstanden und anschliessend auch das Buch mit den steinzeitlichen Menüs und Rezepten erarbeitet worden, sagt Simone Benguerel.

Ackerbau und Viehzucht

Vor 5000 Jahren lebten Pfahlbauer auf frühbäuerlichem Niveau, betrieben Ackerbau und Viehzucht, suchten in freier Natur nach essbaren Pflanzen, jagten Wild und fingen Fische. Nach und nach wurden neue Getreidearten eingeführt und auch die Produktionsweisen verändert. Auf dem Land wurde mit Holzpflügen und Sicheln gearbeitet.

Jungsteinzeit-Menschen an Seen ernährten sich grossenteils von Fischen. Bei Ausgrabungen sind denn auch eine Vielzahl von Fischknochen gefunden worden. Darunter von grossen Hechten, eher selten aber auch von Welsen, die bis zu zwei Meter Körperlänge aufwiesen.

Die Fangmethoden waren sehr unterschiedlich, wie die Funde aus dieser Zeit zeigen. Verwendung fanden Angelhaken, die heutigen sehr ähnlich sind, aber aus Knochen und Lamellen von Eberzähnen gefertigt wurden. In der Bronzezeit sind sie aus Bronze hergestellt.

Zudem gab es Stabangeln aus beidseitig zugespitzten Knochen. Wahrscheinlich sind daran kleine Köderfische befestigt worden, um grössere Raubfische wie Hechte zu fangen. Auch Speere und Harpunen wurden für die Jagd auf die wichtigen Proteinlieferanten im Wasser verwendet.

Nose-to-Tail war Alltag

Körperlich waren die Menschen bei ihrer täglichen Arbeit hart gefordert. Denn technisch lagen sie noch meilenweit entfernt vom heutigen Stand in Landwirtschaft und Fischerei. Trotzdem, beim Essen befanden sie sich bereits auf Gourmet-Niveau. Zu ihrer Esskultur habe weit mehr gehört als nur gekochter Getreidebrei und ein hartes Pfahlbaubrötchen, sagt Simone Benguerel.

Sie zählt auf: Geschmorten Schweinekopf (Nose-to-Tail auf neudeutsch), Bohneneintopf mit Schweinefüssen, Wildschweinkeule, Nussbraten, Pastinaken-Apfel-Suppe und Rehzunge auf Erbsenmus. Mit den urigen Leckereien geht es im Kochbuch «PalaFitFood» munter weiter: Schlehen-Pastinaken-Plätzchen, Saubohnen-Terrine, Kandierte Gallerttrichterlinge, Karotten-Apfel-Granita, Griessbällchen mit geräucherter Forelle, Linsen-Getreide-Bällchen, Ente an Haselnusskruste mit wilden Wurzeln und vielem mehr aus dem kulinarischen Neolithikum.

Gefunden wurden an den Orten, wo einst die Pfahlsiedlungen standen, Essensresten, die auf eine vielfältige Ernährung unserer Vorfahren hinweisen. Aber auch in der unmittelbaren Umgebung der Siedlungen, wo sich das Leben abspielte, gibt es Hinweise auf die Esskultur und teilweise sogar in Gräbern von Jungsteinzeit-Menschen. Ein eigentliches Highlight für die Pfahlbauforschung sei der Ötzi, sagt Simone Benguerel. Die fünftausendjährige Mumie aus dem Gletschereis liefere für die Forschung Hinweise von ganz anderer Qualität als die Ausgrabungen.

Archäologischer Foodblog

Aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der Aufnahme der Pfahlbauten um die Alpen in die UNESCO-Welterbeliste haben die Autorinnen und Autoren des Kochbuches «PalaFitFood» 2021 einen archäologischen Foodblog betrieben. Er ist noch immer auf der Webseite www.palafitfood.com aufgeschaltet. Der Blog lädt ein zu einer Reise durch Welt der Menschen in der Pfahlbauzeit. In kurzen Texten werden eine Menge Hintergrund-Informationen über ihre Lebensart, die Beschaffung von Nahrung und die Küche des Neolithikums berichtet. Auf der Webseite sind auch Rezepte für das Nachkochen der Pfahlbau-Menüs aufgeschaltet.

Geschmorter Schweinekopf
Geschmorter Schweinekopf, Nose-to-Tail war damals mehr als ein Trend. (Palafitfood)

Menükarte auf Geschirrscherben

Menschen hätten schon immer gern und gut gegessen – auch in der Pfahlbau-Epoche. Also habe die «PalaFitFood»-Gruppe am Bodensee über Jahre hinweg intensiv zu recherchieren begonnen, Fachliteratur studiert und sich mit anderen Forschenden gegenseitig über neue Erkenntnisse ausgetauscht, fasst die Pfahlbau-Fachfrau die Arbeit für das Kochbuch zusammen.

«Dabei konzentrierten wir uns auf die Ausgrabungsfunde», berichtet sie. «In der Pfahlbauzeit gab es noch keine Schrift, also keinerlei Dokumente.» Es hätten jedoch zahlreiche Funde, teilweise in extrem gutem Zustand, vorgelegen. Die Flachwasserzonen am See und die Moore in seiner Umgebung seien ideale Orte für die Konservierung der zivilisatorischen Hinterlassenschaften unserer Vorfahren.

Das gelte auch für die organischen Funde, wozu Essensresten zählten. Sie seien hauptsächlich auf Scherben von tönernen Kochtöpfen, Krügen, Schalen, Holzlöffeln, Quirls und anderen Küchengegenständen gefunden worden. «Zerbrach mal ein Geschirr, ist es nicht mehr gewaschen, sondern direkt entsorgt worden. Die Scherben sind daher eigentliche Menükarten, weil auf ihnen noch Spuren der letzten Mahlzeit zu finden sind», sagt Simone Benguerel.

Kochbuch aus Bauschutt und Abfall

«PalaFitFood» ist wohl das einzige Kochbuch, das aus dem Durchsuchen von Bauschutt, Abfall und Mist entstanden ist. Aber hier liegen eben die meisten archäologische Artefakte. Essensresten lassen sich in punkto Zusammensetzung, Zutaten und Zubereitung exakt identifizieren.

In der «PalaFitFood»-Gruppe finden sich zudem begnadete Köchinnen und Köche. Sie haben wissenschaftlichen Verstand aber auch viel kulinarisches Flair. Simone Benguerel fasst das so zusammen: «Wir haben entsprechend den Erkenntnissen aus den Funden die Gerichte rekonstruiert und nach unseren Vorstellungen neu kreiert und benannt.»

Das Beschaffen der Nahrung vom Feld und aus der Natur, aber auch das anschliessende Zubereiten, sei damals sehr zeitraubend gewesen. Das habe sie selbst beim Nachvollziehen steinzeitlicher Nahrungssuche und -verarbeitung feststellen müssen, führt die Archäologin weiter aus. Um die Gerichte heutzutage zuzubereiten brauche es aber nicht die Einrichtung einer Feuerstelle draussen und auch nicht das Ausheben einer Kochgrube. «Eine gängige Küche mit Herd und Backofen genügt völlig», sagt Simone Benguerel.

Reiches Nahrungsangebot

Was stand den Menschen in der Pfahlbauzeit an Nahrungsmitteln zu Verfügung? Die Archäobotanik und Archäozoologie gibt Antworten darauf. Bei Ausgrabungen in den Pfahlbausiedlungen ist eine Menge von Pflanzen- und Knochenresten gefunden worden. Angebautes Getreide und eine Vielzahl von Pflanzen aus der Natur, aber auch an die 100 Tierarten, lieferten den Menschen Nahrung.

Darunter sind sechs Arten von Haustieren: Schweine, Schafe, Ziegen, Rinder, Pferde und Hunde. Zu den 30 Arten Wild-Säugetiere, die gejagt worden sind, zählen Bär, Biber, Dachs und Baummarder. Ferner weisen gefundene Knochenresten darauf hin, dass zwei Reptilienarten und mehrere Amphibienarten, aber auch mindestens 42 Vogel- und mehr als 20 Fischarten zum Speiseplan gehörten.

Pflanzenvielfalt wurde genutzt

Unter die essbaren Pflanzen fällt in der Pfahlbauzeit der Giersch, heute als Unkraut verpönt, aber in der Küche vielseitig verwendbar. Pfahlbauer mischten sie wahrscheinlich als nahrhafte Beigabe in die Suppe oder in den Salat. Aber auch Knoblauchhederich scheint beliebt gewesen zu sein. Fast alle Teile der Pflanze sind roh essbar. Zudem kann aus den Samen Öl gewonnen werden. Das auch heute noch weitverbreitete Kreuzblütengewächs schmeckt nach Knoblauch, wenn man seine Blätter zerreibt. Wird es gekocht, wirkt es bitter.

Beim Wiesenkerbel sind alle zarten Teile roh essbar. Die Samen schmecken nach Kümmel. Blätter, Stängel und Wurzel der Grossen Klette lassen sich kochen und aus den Samen kann Öl gewonnen werden. Der Gemeine Beifuss liefert getrocknet ein Gewürz. Beim Gänseblümchen eignen sich die Blüten als Salatbeigabe. Die Knospen sind ein Gewürz, ähnlich wie Kapern. Auch eine Anzahl von Nüssen und Beeren lassen sich durch Funde von Essensresten nachweisen.

5000 Kalorien pro Tag waren nötig

Fast- und Junkfood gab es bei den Menschen in der Pfahlbauzeit noch nicht. Gab es aber bereits Festgelage und war die Ernährung gesund? Simone Benguerel meint, dass es bereits Feierlichkeiten bei diesen Menschen gegeben habe und bei solchen Anlässen auch entsprechend besser gespiesen worden sei als sonst. Darauf würden archäologische Befunde hindeuten. Ob aber auch gesund gegessen worden sei, lasse sich nicht eindeutig nachweisen. «Es wurde das gegessen, was gerade vorhanden war. Saisonal und frisches Fleisch, wenn geschlachtet wurde.»

Das Leben im Neolithikum war körperlich hart. Ein arbeitender Mensch soll etwa 5000 Kalorien pro Tag benötigt haben. Das sind rund zwei Kilogramm Fleisch. Ein heutiger Mensch braucht etwa 2000 Kalorien in der gleichen Zeit. Stimmt dieser Vergleich? Simone Benguerel: «Gewiss, Menschen in der Pfahlbauzeit arbeiteten körperlich hart. Aber auch heute gibt es Menschen, die hart arbeiten und mehr Kalorien benötigen als andere. Schon in der Pfahlbauzeit gab es Arbeitsteilung. Dies ist vor allem aus der Bronzezeit bekannt. Ältere und Schwächere mussten weniger arbeiten und verbrauchten auch weniger Kalorien.»

Gab es in der Pfahlbau-Epoche am Tag bereits drei Mahlzeiten wie heute oder assen die Menschen eher zwischendurch? Simone Benguerel: «Über Essenszeiten gibt es wenig archäologische Befunde. Möglich ist, dass sich die Menschen in der Jungsteinzeit am Morgen zuerst mit einer Startmahlzeit verpflegten und später dann etwas mehr assen und am Mittag vielleicht nur eine Zwischenverpflegung, dafür am Abend dann etwas üppiger. So jedenfalls ist es aus der bäuerlichen Gesellschaft bekannt.»