Verschollene Wurzelgemüse sollen zurückkehren

Viele einst in der Schweiz kultivierte Wurzelgemüse sind im Zuge der Mechanisierung in Vergessenheit geraten. Saatgutexperte Robert Zollinger ist aber überzeugt, dass Haferwurzeln, Rapunzel oder Butzenklette viele spannende Aromen, Farben und Formen bereithalten, die es wiederzuentdecken gilt.
Zuletzt aktualisiert am 3. Dezember 2021
von David Eppenberger
6 Minuten Lesedauer
NAP PGREL Traditionswurzeln Garten Ep

Viele kennen die gewöhnliche Nachtkerze von Bahnfahrten, weil die Pflanze mit den grossen gelben Blüten gerne im Schotter entlang der Gleise wächst. Deshalb ist sie auch als «Eisenbahnpflanze» bekannt. Nur eingefleischte Wildgemüsefans wissen, dass sie entgegen dem weitverbreiteten Gerücht nicht etwa giftig, sondern im Gegenteil essbar und gesund ist. Im 18. Jahrhundert war sie in Bauerngärten wegen ihrer fleischigen Pfahlwurzel gerne gesehen.

Wird diese etwas gedämpft, entwickelt sie ein weiss-rötliches Farbmuster, weshalb sie in der Gartenbauliteratur auch als «Schinkenwurz» bezeichnet wird. In der Küche verwendet sie heute aber kaum noch jemand. Ähnlich ergeht es anderen traditionellen Wurzelgemüsen, die in Vergessenheit geraten sind. Oder wer kennt schon Butzenklette, Rapunzel, Knollenplatterbse, Gewöhnlicher Eselsdistel, Spanischer Golddistel oder Haferwurzel? Es sind allesamt Wurzelgemüse, die einst in der Schweiz kultiviert wurden, aber im heutigen Gemüsesortiment nicht mehr vorkommen.

Saatgut wieder fit für den Anbau machen

Der anhaltende Sorten- und Artenverlust in der Landwirtschaft ist eine Tatsache. «Sechs Apfelsorten machen heute in der Schweiz 80 Prozent der Anbaufläche aus», erklärt Christina Kägi vom Bundesamt für Landwirtschaft. Es gebe in der Schweiz aber über 3’000 weitere Obstsorten, die den heutigen Ansprüchen des Marktes zwar nicht mehr genügten, aber trotzdem einen grossen Wert hätten. Als eine der Koordinatorinnen des Nationalen Aktionsplans zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der pflanzengenetischen Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft (NAP-PGREL) arbeitet Christina Kägi daran, dass dieser genetische und kulinarische Schatz nicht verloren geht. Seit 1999 wurden in diesem Rahmen über 600 Projekte zum Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt in der Schweiz durchgeführt.

Von den unter anderem in der Nationalen Genbank in Changins eingelagerten Samen soll künftig die Züchtung profitieren. Alte Landsorten von Getreide enthalten Genmaterial, wie beispielsweise eine Schwarzrostresistenz bei Gerste, das für die Verwendung in modernen neuen Züchtungen verwendet werden kann. Bei den meisten Projekten ging es bisher vor allem um die Erhaltung von Saatgut von alten Getreide-, Gemüse- oder Obstsorten. «Man schaute, was vorhanden war und sorgte dafür, dass es nicht verloren geht», erklärt Christina Kägi. In den letzten fünf Jahre würden aber vermehrt Nutzungsprojekte durchgeführt, mit dem Ziel, seltene landwirtschaftliche Kulturen züchterisch zu bearbeiten und wieder fit für den Anbau zu machen. Gerade beim Gemüse gebe es viele Arten, die für die Mechanisierung zwar nicht geeignet seien, sich aber kulinarisch trotzdem vom Standard abheben würden.

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Christina Kägi vom Bundesamt für Landwirtschaft und Robert Zollinger von Hortiplus wollen Traditionswurzeln zurück in die Gärten und Küchen bringen. (ep)

Der Nutzgarten ist wieder im Kommen

Robert Zollinger setzt sich schon sein ganzes Berufsleben für den Erhalt von traditionellen Kulturpflanzen ein. Zusammen mit seiner Frau baute er einst die biologische Samengärtnerei Zollinger in Les Evouettes auf, die er vor vier Jahren an seine Söhne übergab. Er führte im Rahmen des NAP-PGREL bereits mehrere Sichtungs- und Erhaltungsprojekte durch.

Im aktuellen Projekt mit den Traditionswurzeln baute er in diesem Jahr am Stadtrand von Zürich mit seiner Firma Hortiplus Zollinger 65 unterschiedliche Sorten von sieben Arten an (siehe Kasten). Das BLW unterstützte das Projekt finanziell, die Stadt Zürich stellte das Land im Gemeinschaftsgarten Grünhölzli zur Verfügung. In der älteren Gartenliteratur noch gelobt, seien die untersuchten Wurzelgemüse heute aus dem Bewusstsein der Gärtnerinnen und Gärtner verschwunden, erklärt Robert Zollinger.

Haferwurzel von uniformem Gemüse verdrängt

Das habe auch verständliche Gründe: Die antiken Gemüsearten wie Rapunzel, Bützchen oder Haferwurzel sind das Gegenteil von der heute uniformen, auf den technisierten Anbau getrimmten Karotte, welche strenge Qualitätsvorschriften der Abnehmer erfüllen muss. Die traditionellen Wurzeln hingegen wachsen sehr unterschiedlich: vielbeinig, dick oder dünn, lang oder kurz. Im grossflächigen Profigemüsebau ist ihr Anbau viel zu aufwändig und deshalb unwirtschaftlich. Niemand hat im streng getakteten Gemüsemarkt Zeit, um metertief nach Wurzeln zu graben, die dann vielleicht noch kaum Ertrag bringen. Robert Zollinger sieht aber eine Wiederbelegung der Nutzgartentradition und ein steigendes Interesse an geschmackvollen Gemüsearten. «Die Wurzeln weisen spannende Aromen, Farben und Formen auf, welche nicht nur für eine gehobene Gourmetküche interessant sein könnten.»

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Robert Zollinger mit einer Nachtkerze, die im ersten Jahr blühte und entsprechend spärlich wurzelte. (ep)

Beschaffung von brauchbarem Saatgut als Herausforderung

Es sei allerdings schwierig gewesen, überhaupt genug und geeignetes Saatgut der für die Sichtung vorgesehenen sieben Wurzelarten aufzutreiben, erklärt Saatgutexperte Robert Zollinger. Zum einen stammten die teilweise nur staubgrossen Samen von Privaten, welche den Aufrufen in Zeitschriften folgten. Zum anderen lagerten sie in der Nationalen Genbank in Changins. Zudem sucht Robert Zollinger zwischendurch auf eigene Faust an möglichen Standorten nach Kandidaten. Aus der Literatur wusste er beispielsweise, dass in der Region Leuk entlang von Getreidefeldern noch Knollenplatterbsen wachsen. Als er vor ein paar Jahren auf einer Erkundungstour vor Ort ankam, war das Feld allerdings bereits abgeerntet. Fündig wurde er aber trotzdem, weil die Wildschweine den Boden entsprechend nach den Knöllchen durchwühlt hatten. Zollinger schmunzelt: «Wildschweine wissen eben, was gut ist».

Degustationen verliefen erfolgreich

Doch verfügbares Saatgut allein heisst noch lange nicht, dass es sich für den Anbau eignet. «Man merkte gut, dass die Sorten züchterisch vernachlässig sind», erklärt er. So wachsen die Samen beispielsweise oft ungleichmässig ab. Es gehe deshalb bei diesen Anbauversuchen zuerst einmal darum, anhand der gewachsenen Pflanzen zu beurteilen, welche Sorten sich überhaupt für die Vermehrung aufdrängten. Besonders stark gewichtet werden agronomische und kulinarische Kriterien.

Wenn es im Grünhölzli im ersten Jahr gelb und violett blüht, dann ist das zwar für den Laien schön anzusehen. Für Züchter Zollinger ist aber klar, dass die üblicherweise zweijährigen Wurzelgemüse erst im zweiten Jahr blühen sollten, weil sich die Wurzel vor allem im ersten Jahr bildet. Solche im ersten Jahr blühenden Sorten werden deshalb in der Selektion negativ bewertet.

Vermehrt werden schliesslich nur die Sorten, die sich im aufwändigen Sichtungs- und Beurteilungsverfahren durchsetzen konnten. Am Schluss soll das Saatgut mit alltagstauglichen Sorten im Handel verfügbar sein. Denn das Ziel bleibt, dass die knorrigen Wurzelgemüse den Weg zurück in die Nutzgärten und Küchen finden. Zollinger ist hier zuversichtlich: «Erste Degustationen mit Spitzenköchen sind bereits sehr erfolgreich verlaufen.»

7 Gemüse wurden im Test gesichtet

  • Bützchen, Butzenklette, Grosse Klette (Arctium lappa): Alle Pflanzenteile sind essbar. Die Wurzeln schmecken gekocht bittersüss ähnlich wie Artischocken. In Salaten, Suppen oder in Wokgerichten. Ähnelt von der Verwendung her der Schwarzwurzel. Wird in Japan heute noch als Delikatesse angebaut. Wurzel hat eine antibakterielle Wirkung und fördert die Wundheilung beispielsweise bei kranker Haut.
  • Rapunzel, Rapunzelglockenblume (Campanula rapunculus): 30 bis 100 cm hoch werdende, mehrjährige krautige Pflanze. Fleischige, verdickte und wohlschmeckende Wurzel. Zubereitung wie Sellerie oder Randen. Rohe Wurzelscheiben zusammen mit Blättern dekoriert mit Blüten im Salat. Wurzeln und Blätter enthalten ätherisches Baldrianöl, welches beruhigend auf den Magen und schlaffördernd wirkt.
  • Knollenplatterbse (Lathyrus tuberosus): Blüten, junge Triebe, Blütenknospen und Wurzeln (Knollen) sind (gegart) essbar. Früher wurde aus den Blüten Parfüm hergestellt. Die Samen sind giftig und führen nach Verzehr zu Vergiftungserscheinungen. Enthalten Mineralstoffe, Vitamine und wertvolle Aminosäuren. Bilden Knöllchen, die wie Kartoffeln gekocht werden können. Wurzelt bis 70 cm tief und bildet Ausläufer mit Knollen.
  • Schinkenwurz, Gewöhnliche Nachtkerze (Oenothera biennis): Zweijährige krautige bis 2 Meter hohe Pflanze. Junge Blätter können für Salat die Blüten für die Dekoration verwendet werden. Gekocht liegt der Geschmack zwischen Mangold und Spinat. Pfahlwurzel wird im ersten Standjahr im Herbst ausgegraben und wie Karotten zubereitet. Überwintern als Rosette und blüht im zweiten Jahr. Aus Kapseln wird auch Öl gewonnen, das Omega-6-Fettsäuren und Linolsäure enthält.
  • Gewöhnliche Eselsdistel (Onopordum acanthium): Die Wurzel ist gekocht essbar. Zweijährige Pflanze mit stacheligen Blättern bildet im ersten Jahr eine Rosette und wächst im zweiten Jahr auf bis zu 3 Meter Höhe an. Die Pfahlwurzel reicht tief in den Boden und wird wie Schwarzwurzeln zubereitet. Blütenböden sind vergleichbar mit Artischockenherzen. Enthält Bitterstoffe, Flavonglykoside und Gerbstoffe.
  • Spanische Golddistel (Scolymus hispanicus): Wurzel kann als Gemüse gekocht und die jungen Blätter wie Spinat verwendet werden. Auch die Pflanze ist essbar. Wie andere grüne Blattgemüse wie Mangold oder Spinat enthalten sie viele Vitamine für die Stärkung des Immunsystems.
  • Haferwurzel (Tragopogon porrifolius) Verwendung in der Küche als Wurzelgemüse beispielsweise in Suppen, Blätter auch im Salat. Pfahlwurzeln sind bis zu 30 cm lang. Die krautige Pflanze erreicht bis zu 120 cm Höhe. Enthält Insulin und ist deshalb für Zuckerkranke sehr bekömmlich und zudem glutenfrei.