"Vor zehn Jahren wurden die Milchproduzenten einmal gefragt, ab welchem Milchpreis sie nicht mehr weitermelken würden", erinnert sich Martin Haab, der Präsident der bäuerlichen Interessengemeinschaft für Marktkampf (BIG-M). "Damals waren nicht einmal fünf Prozent der Bauern bereit Milch für weniger als sechzig Rappen pro Kilo zu liefern." Inzwischen hat der Milchpreis ein historisches Tief von 55 Rappen durchgemacht und liegt aktuell bei 59 Rappen. Doch die Bauern melken noch immer, Haab eingeschlossen. Haab: "Man hängt an den Tieren, der ganze Familienbetrieb ist darauf ausgerichtet. Kühe gibt man nicht einfach so weg." Das mag sein. Doch in Wirklichkeit greift Haabs Erklärung zu kurz. Die Aufgabe der Milchproduktion ist nämlich ein langwieriger Prozess. Bauern, die in den letzten zehn Jahren in neue Ställe und Melkanlagen investiert haben, müssen erst gründlich rechnen, ob sie es sich leisten können die Kredite noch zwanzig Jahre lang abzubezahlen, wenn keine Kühe mehr im Stall stehen. Und wer auf Kälber- oder Pouletmast umstellen will, muss oft umbauen – bis die Baubewilligung vorliegt, kann es Jahre dauern. Landwirtschaft ist ein träges System. Und das ist gut so. Denn wo wären die Bauern, wenn sie nach jeder Missernte, nach jedem Pech im Stall, gleich alles auf den Kopf stellen würden?
Zukunftsplanung hat begonnen
Doch gerade weil viel Zeit verstreicht, bis sich die Bauern von einem unrentablen Betriebszweig verabschieden, sind die Ergebnisse einer Umfrage, die BIG-M beim Institut Isopublic in Auftrag gegeben hat, ernst zu nehmen. Denn 40% der befragten 1000 Milchproduzenten glauben nicht daran, dass sich die Lage am Milchmarkt zum positiven wendet, 30% fürchten sogar, dass es noch schlimmer kommt. Zudem sind nur acht Prozent der aktiven Milchproduzenten unter 35 Jahre alt. Das Gefahrenpotential ist also vorhanden, dass die Milchproduktion in der Schweiz zu einem Auslaufmodell wird. Zumal 40% der Milchproduzenten davon ausgehen, dass sie in zehn Jahren nicht mehr melken werden, wenn es so weitergeht, wie bisher. Darunter auch Betriebe mit mehr als 60 Kühen.
Matthias Kappeler, den Leiter des Forschungsinstituts Isopublic, war vom Ergebnis beeindruckt: "Wir führen seit mehr als 20 Jahren Umfragen in verschiedenen Branchen durch. Aber eine Unzufriedenheit von achtzig Prozent, wie jetzt bei den Milchbauern, habe ich in all den Jahren noch nirgends angetroffen." Und das über den Röstigraben hinweg: "Normalerweise sind die Welschen weniger schnell zufrieden." Dieses Mal wurden sie von den Ostschweizern in Sachen Unzufriedenheit übertrumpft. Das dürfte daran liegen, dass es in der Westschweiz zahlreiche Käsereien gibt, die noch immer passable Milchpreise zahlen. Bei den Gruyèreproduzenten z.B. liegt noch ein Milchpreis von 80 Rappen drin. In der Ostschweiz überwiegt dagegen die industrielle Milchverarbeitung, hier werden die Bauern mitunter mit weniger als 50 Rappen abgespiesen.
Bauern steigen um
Dass die Bauern hochgradig unzufrieden sind, erstaunt nicht. Verdächtig ist allerdings, dass Versammlungen zum Thema Milchmarkt trotzdem kaum noch besucht werden. Haben die Milchproduzenten in ihrem Inneren bereits aufgegeben? Der rekordhohe Mastrassenanteil von 37% bei den Besamungen könnte ein Hinweis darauf sein. Denn die damit gezeugten Kälber werden nicht zur Milchkuh heranwachsen, sondern geschlachtet. Der wesentlich tiefere Rinderbestand lässt ebenfalls befürchten, dass bald nicht mehr so viele Kühe nachkommen, wie altershalber ins Schlachthaus gebracht werden. Fast jeder Bauer kennt inzwischen mindestens einen Bauern, der einzelne Kühe nicht mehr melkt, sondern die Kälber saugen lässt und sukzessive auf Mutterkuhhaltung umstellt. Oder auf Kälbermast. Oder auf Pensionspferde.
Nur eine Minderheit will mehr produzieren
In der Vergangenheit wurde die Milchmenge der aufgebenden Bauern stets von denen kompensiert, die ihre Betriebe vergrösserten. Doch die Ställe sind ausgelastet. Laut Umfrage wollen nur noch 3 % der Milchbauern ihre Milchmenge deutlich ausdehnen. 17% können sich eine leichte Steigerung vorstellen, während 70% gleich viel, und 10% der Bauern künftig weniger melken wollen. Neu einsteigen in die Milchproduktion tut schon lange niemand mehr. Zu hoch der Kapitalbedarf, zu tief der Arbeitsverdienst, zu finster die Aussichten. Bei der neuen Agrarpolitik zählt ohnehin nur noch die Fläche und die andiskutierte Grenzöffnung für Milch, die womöglich sogar gleichzeitig mit der Aufhebung der Milchkontingentierung in der EU stattfinden soll, verunsichert die Bauern zusätzlich.
Veredelungsverkehr bewilligt
Dabei ist Milch gesucht wie schon lange nicht mehr. Der grösste Schweizer Milchpulverhersteller Hochdorf denkt inzwischen laut über den Import von Rohmilch im Veredelungsverkehr nach. Gemäss Auskunft der Oberzolldirektion war die Lebensmittelindustrie sogar noch schneller. Sie will allerdings nicht Rohmilch, sondern gleich das fertige Produkt importieren: Die ersten Gesuche um Veredelungsverkehr mit 530 Tonnen Vollmilch- und 120 Tonnen Magermilchpulver wurden bereits Ende März bewilligt.
Richtpreis wird deutlich verfehlt
Der A-Richtpreis, den die Branchenorganisation Milch, BOM, kommuniziert ist oft meilenweit von dem Preis entfernt, den die Bauern tatsächlich ausbezahlt bekommen. Als die BOM vor einem Jahr das letzte Mal einen A-Richtpreis festlegte, lag dieser bei 66 Rappen. Die Molkereimilch-Lieferanten erhielten laut Milchpreismonitoring im Juni 2012 im Schnitt aber nur 55 Rappen ausbezahlt, also 11 Rappen weniger. Das liegt nicht nur am Transportabzug, der im Schnitt fünf Rappen ausmacht. Sondern auch an der Segmentierung, welche die Bauern zwingt, einen Teil ihrer Milch zum B- oder C-Preis abzuliefern. Obwohl die B- und C-Preise gestiegen sind, und seit Juli letzten Jahres deutlich weniger Milch angeliefert wurde, haben die Bauern bis Februar 2013 nicht mehr, sondern sogar einen Rappen weniger ausbezahlt bekommen als im Jahr zuvor. Viele befürchten deshalb, dass von der beschlossenen Erhöhung des A-Richtpreises um 3 Rappen nicht viel bei ihnen ankommt. Inzwischen sind die B- und C-Preise sogar um 10 bzw. 14 Rappen höher als noch vor einem Jahr. Und die Detailhändler haben bereits Preisaufschläge angekündigt. Nichtsdestotrotz hat die BOM soeben mitgeteilt, dass die Verarbeiter die beschlossene Richtpreiserhöhung derzeit nicht vollständig umsetzen und die BOM aus diesem Grund auf eine weitere Erhöhung des Richtpreises verzichtet.

