Radibus ist vor Anstrengung nass geschwitzt. Doch er verzieht keine Miene und stapft tapfer weiter. Der 19-Jährige ist es gewohnt, schwere Lasten von mehreren hundert Kilogramm zu ziehen. Rund das Anderthalbfache seines Körpergewichts kann er schleppen. Neben ihm geht Mega, seine muskelbepackte, über 600 Kilogramm schwere Kollegin. "Liiinks!", "Reeechts!", "Komm, komm, komm!": Hinter den beiden Arbeitspferden gibt Besitzer Thomas Förster seine Kommandos. Auch seine Aufgabe ist nicht leicht. Er muss seine Tiere mitsamt schwerem Zugschlitten durch enge Tore führen und Acht geben, dass diese nicht berührt werden. "Haalt!" Immer wieder muss das Zweiergespann mit Radibus und Mega an einem exakt vorgegebenen Ort anhalten und eine weitere Person aufsteigen lassen. Immer schwerer wird so die Last, mit der die starken Freiberger-Pferde anfahren müssen. Vor allem beim Anfahren müssen die Pferde gleichzeitig und mit aller Kraft ziehen. Der Schlitten allein wiegt bereits 250 Kilogramm. Wer nicht an der richtigen Stelle anhält oder die Tore berührt, erhält Strafpunkte. Thomas Förster muss seine Tiere genau kennen, um die Last abzuschätzen, die er ihnen noch zumuten darf. Besser, er kommt mit seinem Gespann durch den ganzen Parcours, als dass er den Schlitten überlädt und die Pferde aufgeben. Nach gut fünf Minuten laufen sie ins Ziel, das Publikum klatscht.
Das Programm: Ausdauer, Präzision, Kooperation
Thomas Förster ist Teil der Freiberger-Mannschaft, einem von sieben Teams, die an der Route Suisse 2011 teilnehmen. Jedes Team besteht aus ca. 60 Personen und acht Pferden. Während vier Tagen messen sich die Teams in verschiedenen Disziplinen. Im Zentrum des Anlasses steht eine 120 Kilometer lange Etappenfahrt, die eigentliche "Route", von Avenches nach Saignelégier. Die anspruchsvolle Route wird in acht Etappen innerhalb eines Tages gefahren, nach jeder Etappe werden die Pferdegespanne ausgewechselt. Ziel der Stafette ist es nicht, möglichst schnell zu sein, sondern eine Zeitvorgabe genau einzuhalten. Wer zu schnell oder zu langsam ist, erhält entsprechend Punkteabzug. Die Strecke mit beachtlichen Höhenunterschieden ist sehr anspruchsvoll (sie führt über die Vue des Alpes), die Kräfte der Tiere müssen optimal eingeteilt werden. Mit der Stafette allein ist es aber noch nicht getan: An den anderen Wettkampftagen durchlaufen die Teams sechs Spezialprüfungen, in denen Punkte gesammelt werden. Das Team, welches in allen Kategorien insgesamt am besten abgeschnitten hat, ist Sieger der Route Suisse 2011. Am letzten Tag des Zugpferdemeetings gibt es noch verschieden Plauschprüfungen und einen Umzug durch Saignelégier.
Route Suisse
Unter dem Namen "Route Suisse" hat in Saignelégier (JU) der bisher erste Schweizer Wettkampf für Zugpferde stattgefunden. Im Ausland, insbesondere in Frankreich, Belgien, Deutschland und Grossbritannien werden solche Anlässe schon länger ausgetragen. Am bekanntesten ist die "Route du Poisson" in Frankreich. An diesem Wettlauf legen die Zugpferde eine 300 Kilometer lange Strecke von Boulogne-sur-Mer nach Paris in nur 24 Stunden zurück. Bis im Jahr 1848, vor der Ablösung durch die Eisenbahn, haben tatsächlich Arbeitspferde den schnell verderblichen Fisch vom Meer in die Hauptstadt transportiert. Daher auch der Name "Route du Poisson". Mit dem Wunsch, einen ähnlichen Anlass in der Schweiz durchzuführen, hat die Association Route Suisse dieses erste Zugpferdemeeting der Schweiz organisiert.
www.routesuisse2011.ch
Die Vielfältigkeit der zu bewältigenden Aufgaben zeigt, wie nützlich und vielseitig die Arbeit mit Zugpferden sein kann. Jede Disziplin hat ihre eigenen Schwierigkeiten und die Teams wählen für die Spezialprüfungen jeweils das geeignetste Mitglied. Neben der Fahrprüfung mit dem Zweispänner, die Thomas Förster gemacht hat, gibt es gerittene Prüfungen mit Dressur und Geschicklichkeitsübungen für Reiter und Pferd. Zu den richtigen Arbeitsprüfungen zählen Zugprüfungen mit Hindernissen und verschiedenen Gewichten sowie das Holzrücken. Beim Holzrücken zieht das Pferd Baumstämme hinter sich her und wird dabei von seinem Meister, der hinterher geht, gelenkt. Dies tut er vor allem mit der Stimme, unterstützt von Rute und Zügeln. Auch hier sind nicht nur Kraft und Ausdauer gefragt, sondern auch eine präzise Kooperation zwischen Mensch und Tier. Nicht umsonst werden für diese Aufgaben die gutmütigen Kaltblutpferde eingesetzt. Ein Pferd, das viel Kraft hat, aber im richtigen Moment nicht gehorcht, wäre nutzlos.
Kameradschaft und gemeinsame Passion
Wie die meisten der rund 630 Wettkampfteilnehmer ist auch für Thomas Förster die Arbeit mit Pferden ein Hobby. Neben seinem Vollzeitjob beim Kanton macht der Luzerner mit seinen Pferden regelmässig Hochzeits- und Gesellschaftsfahrten. Sein wettergegerbtes Gesicht und die muskulösen Arme zeugen davon, dass er seine Zeit nicht mit Büroarbeit allein verbringt. "Für mich ist dieser Anlass wie Ferien. Auch wenn es harte Arbeit ist", sagt Förster.
Die Arbeit mit den Zugpferden ist die Passion, die alle Wettkampfteilnehmer verbindet – und für eine gute Stimmung im Zeltlager sorgt. "Wenn man helfen kann, hilft man, sei es mit Material, mit der Sprache oder mit Tipps", schildert Förster. Weshalb er an Wettkämpfen teilnehme? "Zu einem kleinen Teil ist es sicher auch der Ehrgeiz, hauptsächlich aber schätze ich die Kameradschaft. Bei Wettkämpfen im Ausland lernt man neue Gegenden kennen, kann reisen und Bekanntschaften schliessen. Das alles gefällt mir. Mein oberstes Ziel ist aber immer: Alles wieder gesund Heim zu bringen."
Die Pferde kommen noch vor der Freundin
Ohne Training ginge es nicht. Nur gesunde und starke Pferde werden am Wettkampf zugelassen. Dafür werden die Tiere vor dem Einsatz eigens auf Grösse, Gewicht, Gesundheit und Fitness geprüft. Auch wenn die Pferde viel leisten müssen, ihre Gesundheit steht während des ganzen Wettkampfs im Vordergrund. "Das Pferd ist ein Tier der Bewegung, es arbeitet gerne", sagt Thomas Förster. Man könne Pferde so erziehen wie Hunde. Deshalb würden sie auch gerne Arbeit für den Menschen verrichten, jedenfalls, wenn man fair zu ihnen sei: "Wenn jemand sie schlecht behandelt, kommt auch nichts Schlaues zurück", weiss Förster. Er bewegt die Pferde täglich mindestens eine Stunde. "Morgens um fünf Uhr stehe ich auf und schaue als erstes nach den Pferden. Danach fahre ich zur Arbeit. Wenn ich abends nach Hause komme, sind zuerst wieder die Pferde dran. Zwischen 20 und 21 Uhr habe ich Feierabend. Vor dem Zubettgehen prüfe ich nochmals, ob bei den Pferden alles in Ordnung ist." Auf die Beziehung zu seinen Pferden angesprochen, antwortet Förster ohne zu zögern: "Die kommen noch vor der Freundin. Und auch vor mir. Bevor ich selber frühstücke, füttere ich meine Pferde."
Das Zugpferd: moderne, ökologische Arbeitskraft
Neben dem Kräftemessen stehen hinter Zugpferdemeetings wie der Route Suisse aber noch andere Ziele. Seitdem das Pferd als Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt worden ist, sind viele Kaltblutrassen (s. Kasten) vom Aussterben bedroht. Mit den Wettkämpfen wird der Einsatz von Arbeitspferden bekannt und attraktiv gemacht.
Auch aus ökologischer Perspektive ist das attraktiv. Frankreich macht vor, was auch in anderen Ländern denkbar wäre: In rund 130 Städten übernehmen Arbeitspferde kommunale Aufgaben wie den Unterhalt von Grünflächen und Parkanlagen, Grünabfuhr und Personentransporte. Ein konkretes Pilotprojekt war der Einsatz einer "Schulkutsche", welche die Kinder eines Dorfes einsammelte und sicher zur Schule brachte. Daran hatten nicht nur die Kinder Freude, sondern auch die Eltern, denen eine Autofahrt erspart blieb. Der Einsatz von Arbeitspferden stellt eine ökologische Alternative zu den Abgas verursachenden Motoren dar.
Solche Projekte wurden in der Schweiz bislang noch nicht umgesetzt. Die Association Route Suisse setzt sich weiterhin dafür ein, dass Arbeitspferderassen in Sport und Freizeit, an Vorführungen, bei Arbeitseinsätzen und im Therapiebereich eingesetzt werden können.

