Ein Beet voller blauer Lavendelblüten verströmt vor dem Chalet zarten Lavendelduft, ein paar Bienen schwirren zwischen Blüten herum. Ein erster Vorgeschmack auf die unzähligen Bienen, die folgen: Eines ihrer 100 Völker halten die Imker Reto und Caroline Schärer direkt vor ihrer Stube, das heisst auf dem Balkon des zweiten Stocks ihres Chalets. "Die ideale Höhe für einen Bienenstock", kommentiert Reto Schärer mit einem schelmischen Lachen die ungewöhnliche Lage. "In der Natur bauen die Bienen ihre Bienenstöcke ja auch in Löchern von Baumstämmen in luftiger Höhe". Die Bienen bestimmen das Leben von Reto und Caroline und den drei halbwüchsigen Kindern hier in Novazzano, nahe der italienischen Grenze im Südtessin. Er sei schon mitten in einem Bienenschwarm geboren worden, sagt Reto lachend. Denn die Imkerei liegt sozusagen in seinen Genen: Bis zu seinem Ur-Ur-Ur-Ur-Grossvater zurück seien seine Vorfahren alle Imker gewesen. Die Firma des Ehepaars Schärer heisst denn auch "Apinova": Das "Nov" kommt von Novazzano, dem Ort, wo Reto Schärer aufgewachsen ist und jetzt noch lebt, aber auch von Novaggio, das in der Tessiner Region Malcantone liegt, wo Caroline Schärer ihre Kindheit verbracht hat. "Api" heisst Bienen auf Italienisch.
Urgetränk "Honigmet"
Seit Menschengedenken wird dort, wo, es viel Honig gibt, auch Honigmet hergestellt. Denn guter, das heisst lagerfähiger Honig, sollte nicht mehr als 18 Prozent Wasser enthalten. Ist mehr Wasser im Honig, beginnt er nach einiger Zeit spontan zu gären und der Schritt, daraus ein alkoholhaltiges Gärgetränk herzustellen, ist nicht mehr weit. Deshalb kannten schon die Ägypter, Griechen, Römer und Gallier den Honigwein, auch Götternektar genannt. In Europa war Honigmet vor dem Wein bekannt.
Zwischenprodukt Honigmet
Schärers haben mit ihrer Firma Apinova ein kleines Honigimperium aufgebaut, das diverse Honigprodukte herstellt und vertreibt. Die ersten Versuche, Honigmet herzustellen, machte Reto Schärer 1985. Honigmet ist vergorenes Honigwasser, auch Honigwein genannt, das 10 bis 13 Prozent Alkohol enthält. Bei der Herstellung von Honigmet wird etwa ein Teil Honig mit drei bis vier Teilen Wasser vermischt und Hefe zugesetzt für die Gärung. 1995 begannen Reto und Caroline Schärer erneut mit der Herstellung von Honigmet, denn es gab Kunden, die danach fragten. Schärers reizte auch die Herausforderung, ein neues Produkt herzustellen, denn guten Honigmet herzustellen ist nicht einfach: Sie probierten lange rum mit verschiedenen Wasserqualitäten und verschiedenen Temperaturen des Honig-Wasser-Gemisches beim Ansetzen. Obwohl der Honigmet schliesslich qualitativ hochstehend gelang, kam der Verkauf nicht richtig in Schwung. "In Skandinavien, Deutschland und auch in der Deutschschweiz existiert eine Honigwein-Kultur", sagt Reto Schärer, "nicht aber hier im Tessin." 90 Prozent von Schärers Kunden wollen Honig kaufen. Deshalb kam er auf die Idee, den Honigmet brennen zu lassen.
Preisgekröntes Destillat
Gesagt, getan. Das erste Destillat von fünf Litern, das Reto Schärer im Jahr 1998 herstellte, schmeckte ausgezeichnet. Trotzdem musste er es weggiessen, weil er keine Bewilligung der Eidgenössischen Alkoholverwaltung für das Brennen von Honigmet hatte. Noch nie hatte jemand zuvor in der Schweiz sich um eine Brennbewilligung dafür bemüht. Entsprechend aufwendig war das Hin und Her mit den Behörden, um eine solche Bewilligung zu erhalten. 1999 traf diese dann bei Schärers ein, sie konnten fortan ihr Destillat aus Honigschnaps legal brennen lassen – und verbuchten zunehmend Erfolg mit ihrem innovativen 48-prozentigem Produkt: Letztes Jahr holten sie damit am Schweizer Wettbewerb der Regionalprodukte sogar die Goldmedaille. Auch einer ihrer Honige, nämlich der Blütenhonig, wurde dort mit Gold prämiert. Auch ihre weiteren Honige, nämlich der Kastanienhonig und der Pseudoakazienhonig, im Tessin auch "Honigprinz" genannt, haben schon Auszeichnungen geholt. Schärers stellen seit einigen Jahren all ihre Produkte in Demeter-Bioqualität her. Dies bedeutet vor allem, dass in der Schädlingsbekämpfung nur gewisse Produkte zugelassen sind: So darf etwa die Varroa-Milbe nur mit Ameisensäure und Oxalsäure bekämpft werden.
Schule auf dem Imkerhof
Trotz Goldmedaillen stellt Caroline Schärer fest: "Es ist schwierig, eine ganze Familie nur mit der Imkerei durchzubringen, selbst mit 100 Bienenvölkern". Reto Schärer arbeitet deshalb schon seit langem als Zugsbegleiter. Auch diesen Brotberuf übt er mit Begeisterung aus: "Ich reise gerne", lacht er. Aber wenn er den ganzen Tag über Hunderte von Leuten gesehen habe, so brauche er als Erholung die Arbeit mit den Bienen draussen im Grünen, bei der er meist alleine ist.
Die einstige Primarlehrerin Caroline Schärer kann mit der Imkerei Beruf und Familie ideal kombinieren. Sie ist zuständig für die Verarbeitung und den Verkauf der Honigprodukte und kann somit vorwiegend zu Hause arbeiten und trotzdem für ihre Kinder präsent sein. Zusätzlich vermittelt sie ihr Imkerwissen im Rahmen von "Schule auf dem Bauernhof" ganzen Schulklassen. Die Kinder lernen am besten, wie man Honig macht, wenn sie selbst mitanpacken können: So beim Schleudern der Honigwaben, um den Honig aus den Waben herauszubekommen oder beim Herstellen der Rahmen für die Honigwaben.
Caroline Schärer will den Kindern nicht nur Fachwissen mitgeben, sondern ihnen auch einen respektvollen Umgang mit der Natur und mit den Bienen beibringen. Ihre Kernbotschaft bringt sie jeweils mit einem Zitat von Albert Einstein auf den Punkt: "Wenn die Biene von der Erde verschwände, so würden dem Menschen nur noch vier Jahre zum Weiterleben bleiben."
Kein Honigschlecken mehr
Mit dem Verschwinden von Bienen haben auch Schärers so ihre Erfahrungen gemacht: 2008 verloren sie wegen der Varroa-Milbe die Hälfte ihrer Völker und somit ihres Einkommens aus der Imkerei. Auch zwei Jahre nach diesem grossen Verlust sitzt der Schock noch tief. Mit dem Bienensterben und der Varroa-Milbe gingen aber nicht nur die Bienen ein, auch die Zahl der Tessiner Imker ist zurückgegangen. In den Achtzigerjahren, vor den Zeiten der Varroa-Milbe, zählte der Tessiner Imkerverein noch 1'200 Mitglieder, heute sind es gerade noch 380 registrierte Imker. Das durchschnittliche Alter der Imker liegt zwischen 65 und 70 Jahren. Und es kommt auch immer öfter vor, dass ganze Bienenvölker von dreisten Bienendieben geraubt werden. Trotz alldem bleibt Reto Schärer optimistisch: "Wir Imker sind eine Familie, wir helfen uns gegenseitig und sind zusammen stark."
Serie: Gaumenschmaus für Gwundrige
lid. In der Schweiz gibt es viele traditionelle regionale Spezialitäten. Und es gibt Innovationen – Produkte, mit denen findige Hersteller Schweizer Rohstoffe neu in den Mittelpunkt setzen. Innovative Delikatessen gibt es in vielen Regionen der Schweiz. In der LID-Sommerserie wird eine Auswahl davon vorgestellt – und die Menschen, die dahinter stehen.




