
Der Kunde ist König, er hat die Wahl. Seit der Einführung des Cassis de Dijon Prinzips (CdD) muss er nicht mehr Vollrahm kaufen, der 35% Fett enthält, sondern kann auch in der Schweiz zu Schlagrahm greifen, der nur noch 30% Fett enthält. Oder zu Schinken, in dem zehn Prozent mehr Wasser steckt als früher; oder Sirup trinken, der mit wesentlich weniger Früchten hergestellt wurde. Genau wie in der EU. Solange die Zutaten deklariert sind, ist das in Ordnung.
Keine Wahl haben die Konsumenten jedoch, wenn es um die zulässige Schadstoffbelastung geht. Die steht nämlich nicht auf der Verpackung, da der zugelassene Höchstwert ja noch lange nichts darüber aussagt, wie sehr ein Produkt tatsächlich mit Schadstoffen belastet ist. Dass das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) im Rahmen des CdD-Prinzips eine Allgemeinverfügung für den Import von Haselnüssen, Mandeln, Pistazien und Paranüssen ausstellte, deren Aflatoxingehalt zu diesem Zeitpunkt bis zu 2,5 mal höher sein durfte als in der Schweiz, hinterlässt deshalb ein ungutes Gefühl. Judith Deflorin vom BLV rechtfertig das so: "Die Höchstwerte wurden bereits im Rahmen einer bevorstehenden Revision der Fremd- und Inhaltsstoffverordnung neu evaluiert und gemäss neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse angepasst. Sie entsprechen den EU-Werten. Diese Werte sind gesundheitlich unbedenklich." Laut Deflorin hat das BLV mit der Allgemeinverfügung die Revision der Verordnung lediglich vorweggenommen.
Toleranz-, Grenz- und Höchstwerte
Die zulässigen Schadstoffbelastungen in Lebensmitteln werden in der EU und der Schweiz teilweise unterschiedlich angegeben: In der EU werden meistens Höchstwerte definiert, während in der Schweiz Grenz- oder Toleranzwerte verwendet werden. Grenzwerte definieren das Mass, bis zu dem ein Nahrungsmittel ohne gesundheitliche Gefährdung verzehrt werden kann. Wird dieser Wert überschritten, kann das problematische Folgen auf die Gesundheit haben. Der Toleranzwert ist dagegen der Wert, bei dessen Überschreitung das Lebensmittel als verunreinigt oder sonst im Wert vermindert gilt, aber gesundheitlich noch unbedenklich ist. Er wird in erster Linie so tief festgelegt, wie bei einer fachgerechten Anwendung nicht vermeidbar. In der EU wird nicht zwischen Toleranz- und Grenzwert unterschieden, sondern nur ein Höchstwert angegeben, der mal ein Toleranz- und mal ein Grenzwert sein kann.
Vertrauen in die Behörde
Dass Behörden Verordnungsrevisionen "vorwegnehmen" ist im Schweizer Recht eigentlich nicht vorgesehen. Das BLV hat damit kein Problem: "Die Abklärungen sind immer genau gleich, egal ob es sich um eine Verordnungsänderung oder eine Allgemeinverfügung handelt." Amtsintern beschäftigen sich dieselben Fachleute mit denselben Kriterien zu den Fragestellungen. Nur dass bei einer Verordnungsrevision noch eine Vernehmlassung erfolgt, bei der Allgemeinverfügung dagegen nicht. Das BLV hält die demokratische Mitbestimmung jedoch für wenig sinnvoll, da es sich hier um hochkomplexe Fragestellungen lautet, bei denen nicht einfach "Hinz und Kunz" mitreden könne. Deflorin: "Bei derart technischen Verordnungen muss man Vertrauen in die Fachleute haben."
Und diese Fachleute haben offenbar in erster Linie Vertrauen in die EU, denn sie übernehmen praktisch immer EU-Werte. So wie bei der zulässigen Schadstoffbelastung von Reis mit dem Pestizid Tebuconazol. "Da hatte die Schweiz bislang nur einen Toleranzwert, beim zugelassenen Reis handelt es sich jedoch um einen Grenzwert." Inzwischen gilt – dank Allgemeinverfügung – dieser Grenzwert nun neu auch für die Schweiz. In der Verordnung steht noch der Toleranzwert von 0,05 mg/kg, während der Grenzwert für dieses Pestizid bei Reis inzwischen bei 1 mg/kg liegt – wie in der EU. Zum Zeitpunkt der erteilten Allgemeinverfügung war in der EU sogar noch eine höhere Belastung erlaubt.
Konsumentenschützer kritisch eingestellt
Dass das BLV dank Cassis-de-Dijon im Lebensmittelrecht fast schon eine gesetzgeberische Rolle einnimmt, scheint niemanden gross zu stören. Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) findet es zwar unschön, dass das BLV beim Aflatoxingehalt eine Anpassung der Höchstwerte über das Cassis-de-Dijon-Prinzip vorgezogen hat, aber nachvollziehbar. Die SKS sieht den wunden Punkt weniger beim Cassis-de-Dijon-Prinzip an sich, als vielmehr bei der weitreichenden Übernahme des EU-Rechts. Die Schweizer Konsumentinnen und Konsumenten müssten zum Teil Verschlechterungen in Kauf nehmen, nur damit möglichst wenige Abweichungen vom EU-Recht vorgenommen werden müssen. "Allerdings", so die SKS, "bringt die weitgehende Übernahme des EU-Rechts auch deutliche Verbesserungen für die Konsumentinnen und Konsumenten, etwa die Einführung des Vorsorgeprinzipes, der Täuschungsschutz bei Kosmetika oder die Deklaration von Nanotechnologie in Lebensmitteln und Kosmetika."
Einsprachen nicht vorgesehen
Allerdings sind für Nicht-Lebensmittel wie Kosmetika keine Allgemeinverfügungen erforderlich. Die braucht es als Sonderfall nur bei Lebensmitteln. Und diese Allgemeinverfügungen sind ein Sonderfall für sich: Sie können nämlich, ausser vom Gesuchsteller, von niemandem angefochten werden. Sämtliche Versuche von etwelchen Interessenvertretern Einsprache zu erheben, wurden von den Richtern am Bundesverwaltungsgericht abgewiesen, mit der Begründung, dass die Botschaft zu Cassis-de-Dijon ganz klar das Ziel verfolgte, "jede unnötige Beeinträchtigung des Warenverkehrs zu unterbinden." Im Grunde genommen bedeutet das nichts anderes, als dass die Demokratie der Wirtschaft nicht im Weg stehen darf. Für Rechtsanwältin Karola Krell ist das CdD-Prinzip "auf Schweizer Art", wie sie es nennt, "ein hoch politisch motiviertes Konstrukt, welches sich nur mit dem Zweck des Abbaus von Handelshemmnissen mit den wichtigsten Handelspartnern begründen lässt." Die auf Lebensmittelrecht spezialisierte Anwältin räumt zwar ein, dass das CdD-Prinzip nicht zu einer grossartigen Veränderung der Rechtslage in der Schweiz geführt hat. Einzig für den Vollzug sei es komplizierter geworden, weil nicht immer klar ersichtlich ist, welches Recht für das jeweilige Produkt Anwendung findet. Aber sie weiss auch, dass das System in Juristenkreisen äusserst umstritten ist. Krell: "Ob dabei sogar die institutionelle Kompetenzen untergraben werden, müsste man vertiefter abklären."