
Nach einer rund sieben Stunden dauernden, emotionalen Debatte mit über 100 Wortmeldungen stand das Resultat fest: Der Nationalrat sagte knapp, mit 91 zu 83 Stimmen bei 19 Enthaltungen, Ja zur Volksinitiative „Für Ernährungssicherheit” des Schweizer Bauernverbandes (SBV). Die bürgerlichen Parteien waren gespalten: SVP, CVP und BDP unterstützten die Initiative, die FDP lehnte sie ab. SP und GLP sagten geschlossen Nein, die Grünen enthielten sich der Stimme.
Keine Extremforderungen
Liest man den Initiativtext, mag die kontroverse Debatte auf den ersten Blick erstaunen. Der Bauernverband will die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion stärken. Der Bund wird aufgefordert, das Kulturland besser zu schützen, den administrativen Aufwand in der Landwirtschaft gering zu halten und für eine angemessene Rechts- und Investitionssicherheit zu sorgen. Es sind keine Extremforderungen, die der Bauernverband stellt.
„Ich kenne niemanden, der gegen die ‚Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion‘ ist”, sagte Jürg Grossen (GLP/BE) über den unverfänglichen Charakter der Initiative. Und dennoch winkte die grosse Kammer das Volksbegehren nicht einfach durch.
Keine Verfassungsänderung nötig
Kritikpunkt eins: „Was die Volksinitiative für Ernährungssicherheit will, steht schon heute in der Verfassung”, sagte Beat Jans (SP/BS). Man wisse nicht, warum es diese Initiative brauche.
Kritikpunkt zwei: Die Initiative sei eine Blackbox. Der Wortlaut sei derart vage, dass verschiedene Interpretationen möglich seien. „Trotz mehrfachem Nachfragen konnten die Initianten nicht erklären, was sie konkret an der bestehenden Gesetzgebung ändern wollen,” kritisierte Jans. Und weiter: „Wir stimmen über eine Initiative ab, deren Text nichts ändert, oder zumindest wissen wir nicht, was er ändert.” Die grosse Ratlosigkeit unter den Parlamentarierinnen und Parlamentarier zeigte sich in den vielen Fragen an die Bauernvertreter. Sollen die Tierbeiträge wieder eingeführt werden? Wollen Sie das Raumplanungsgesetz verschärfen und die Landschaftsqualitätsbeiträge abschaffen? Beat Walti (FDP/ZH) mutmasste, dass das eigentliche Ziel des Bauernverbands sei, das Rad in der Agrarpolitik zurückzudrehen: Eine stärkere Förderung der Produktion zulasten des Umweltschutzes.
Kritikpunkt drei: Die von der Initiative suggerierte Ernährungslücke gebe es nicht. „Die Schweizer Landwirtschaft produziert auf Rekordniveau”, sagte Kathrin Bertschy (GLP/BE). Es existiere kein Engpass bei der Nahrungsmittelproduktion.
Selbstversorgungsgrad nicht weiter sinken lassen
Dem hielt Bauernpräsident Markus Ritter (CVP/SG) entgegen, dass selbst der Bundesrat in einem Bericht festgehalten habe, dass es bei der Ernährungssicherheit eine Lücke in der Verfassung gebe. Er erinnerte daran, dass die Schweizer Bevölkerung jährlich um über 80‘000 Personen wachse. Gleichzeitig würden pro Jahr rund 2‘700 Hektaren Kulturland verbaut.
Leo Müller (CVP/LU) mahnte, dass der Nettoselbstversorgungsgrad von rund 58 Prozent im Jahr 2005 auf 51 Prozent im Jahr 2015 gesunken sei. Und dass die heutigen rechtlichen Grundlagen nicht ausreichten, um die Versorgungssicherheit auf dem heutigen Niveau halten zu können. Andreas Aebi (SVP/BE) gab zu bedenken, dass in Frankreich der Selbstversorgungsgrad bei 100 Prozent und in Deutschland bei 80 Prozent liege.
Solidarität mit Bauern
Den Vorwurf, der Bauernverband würde seine Karten nicht offen auf den Tisch legen, konterte Markus Ritter, indem er sich dazu bekannte, den Grenzschutz nicht erhöhen und auch die Biodiversität nicht in Frage stellen zu wollen. Ziel sei es, ein weiteres Absinken des Nettoselbstversorgungsgrades zu verhindern. Mit der Initiative soll laut Ritter Einfluss genommen werden auf die Agrarpolitik ab 2022, auf die zweite Etappe der Raumplanungsgesetz-Revision und auf das Gentechnikgesetz mit dem Ziel, das Moratorium auf unbestimmte Zeit zu verlängern.
Martin Landolt (BDP/GL) betonte, dass es bei der Initiative um die Solidarität mit der Schweizer Landwirtschaft gehe. Und dass die Forderungen einem Konsumentenbedürfnis entsprächen. „Es sind in kürzester Zeit 147‘000 Unterschriften gesammelt worden – das muss etwas bedeuten”, sagte Landolt.
Als nächstes berät der Ständerat die Initiative. Sollte er sich dagegen aussprechen, käme sie ohne Abstimmungsempfehlung des Parlaments zur Abstimmung.
So stimmten die Parteien
Ja zur Initiative | Nein zur Initiative | Enthaltung | |
SVP | 58 | 2 | 4 |
CVP | 21 | 5 | 2 |
BDP | 4 | 3 |
|
FDP | 8 | 23 | 1 |
SP |
| 43 |
|
Grüne |
|
| 12 |
GLP |
| 7 |
|
Knacknuss für die Grünen
Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Grünen Partei haben sich alle der Stimme enthalten. Sie wollen erst bei der Schlussabstimmung Position beziehen. Für die Grünen ist die Bauernverbands-Initiative eine „Knacknuss”, wie es Nationalrat Louis Schelbert ausgedrückt hat. Der Kulturlandschutz und das Thema Nachhaltigkeit sind wichtige Anliegen der Grünen. Gleichzeitig bekunden sie Mühe mit der Initiative, weil sie kaum etwas bringt, was nicht schon in der Verfassung oder in Gesetzen steht.