Es ist Mitte März 2010 irgendwo in der voralpinen Hügelzone. Ein Tanklastwagen windet sich die letzten Kurven hinauf zu einem abgelegenen Hof. Dort leert der Lastwagen wie alle zwei Tage den Kühltank, druckt den Empfangsschein aus und fährt die Kurven wieder hinunter. Heute waren es 270 Liter, die er abgeholt hat, im Mai, wenn die Weiden saftig sind, werden es 295 Liter sein.
Der Produzent erhält für seine Milch brutto knapp 55 Rappen pro Kilogramm ausbezahlt. Mit einer Liefermenge von 49'000 kg kann er die Vollkosten bei weitem nicht decken. Nicht nur für den Bauern ist diese Art von Milchproduktion ein Verlustgeschäft. Auch die Handelsorganisation, welche die Milch bei ihm abholt, legt drauf. Je nach Berechnung dürfte diese Produzentenorganisation (PO) nur noch zwischen 45 und 50 Rappen pro Kilogramm bezahlen, wenn sie die effektiven Transportkosten genau rechnet. Und genau so wie der Landwirt muss auch der Milchkäufer schauen, wie er es finanzieren kann, in abgelegenen Gebieten kleine Mengen Milch noch abzuholen.
Mehr Menge, besserer Preis
Szenenwechsel: Ein Milchbauer irgendwo an bester Lage im Mittelland möchte mehr melken. Er hatte vor fünf Jahren einen grösseren Stall gebaut, weil er davon ausging, mit einer liberalen Milchpolitik gäbe es mehr Freiheiten. Er hatte das gemacht, was ihm die offizielle Politik empfohlen hatte: sich auf die Milchwirtschaft spezialisieren, den Betrieb rationalisieren und gezielte Investitionen tätigen. Seit fünf Jahren stehen bei ihm aber zehn Plätze leer, weil er keine Mehrmengen zu irgendeinem Preis melken wollte. Bisher wurde ihm von seinem Abnehmer keine Mehrmenge zugeteilt.
Jetzt scheint der Wind aber zu drehen. Der Landwirt will wechseln. Er hat ein Angebot vorliegen, das ihm bessere Konditionen für jetzt und die Zukunft verspricht. Er erhält mehr Freiheiten für die Mengenausdehnung, der Preis ist sogar etwas besser und der Bauer fühlt sich vom neuen Abnehmer mit einer unkomplizierten Abmachung ernst genommen. "Ich muss jetzt meine Position für die Zukunft sichern", sagt er und will seinen Konkurrenzvorteil, den er mit Investitionen und Umstellungen geschaffen hat, auch nutzen können. "Warum soll es schlecht sein, wenn einer 2 Rappen mehr für meine 600'000 Kilogramm Milch bezahlt?", fragt er. Auch der Milchhändler, der ihm das attraktive Angebot gemacht hat, fragt, warum einer, der den Bauern bessere Angebote macht, für alle Probleme, die es im Milchmarkt gibt, verantwortlich gemacht werden muss.
Wer solidarisch ist, verliert
In der Schweiz wird seit längerem viel mehr gemolken, als der Markt aufnehmen kann. 2009 ist der Butterberg um 8'000 Tonnen angewachsen, insgesamt sind 100 Mio .Franken Stützungsgelder geflossen. Jetzt ist es üblich, dass mit dem Finger auf drei oder vier Organisationen vor allem in der Ostschweiz gezeigt wird und diese für die Mehrmengen verantwortlich gemacht werden. Eine davon ist die PO Ostschweiz von Walter Arnold. Arnold sagt: "Dass es ab dem 1. Mai 2009 keine Kontingentierung mehr gibt, wissen wir seit vielen Jahren. Es ist eine Tatsache, dass wir heute in der Realität des harten Markts sind, und wir sollten aufhören, den Milchproduzenten Illusionen zu machen. Wir müssen in der Schweiz die Position für die Zukunft sichern. Das gilt sowohl für den einzelnen Milchproduzenten als auch für die gesamte Milchwirtschaft."
Wenn einer etwas mehr melkt, ist das für das gesamte System kein Problem. 1'000 Liter Milch kann der Markt problemlos schlucken. Wenn einige es tun, ist es zwar schädlich, die Milch findet aber auch da einen Weg zu einem Verarbeiter. 100'000 Liter lassen sich stets irgendwo platzieren. Wenn aber ganz viele Betriebe mehr melken, dann gibt es ein Problem. 100 Mio Liter müssen entsorgt werden und das kostet viel Geld.
Was aus Sicht der Gesamtwirtschaft schädlich ist, macht für den einzelnen Betrieb aber in den meisten Fällen Sinn. Als Teil einer Masse von fast 30'000 Kollegen hat er keinen Einfluss auf die Preise. Darum ist es nicht an ihm, für Fehler im System verantwortlich gemacht zu werden, nur weil er als unternehmerisch denkender Betrieb das wirtschaftlich Beste für sich herausholt. Einige Milchproduzenten an guten Lagen mit attraktiven Mengen haben zu anderen Organisationen gewechselt, weil deren Wunsch nach einer Mengenausdehnung von der bisherigen Produzentenorganisation zu wenig berücksichtigt werden konnte.
Die grossen PO wie Miba, Nordostmilch oder ZMP, aber auch Produzenten-Milchverwerter-Organisationen wie die PMO Mimo haben dadurch einige lieb gewonnene Produzenten verloren. "Wir müssen jetzt reagieren und ein flexibleres System auf die Beine stellen", heisst es sinngemäss bei den Verantwortlichen dieser Organisationen. Die Erfahrungen des letzten Jahres waren für viele bitter. Die Nordostmilch zum Beispiel engagierte sich stark in der grossen Marktabräumungsaktion vom Frühjahr 2009. Man habe solidarisch mit der ganzen Milchbranche eigene Mittel verwendet, um einen Beitrag für einen stabilen Milchmarkt zu schaffen. Im Nachhinein habe man aber feststellen müssen, dass andere Organisationen diese Situation ausgenutzt hätten.
Konkurrenz im Handel
Beim Milchverband Basel (Miba) ist man daran, das bisherige Geschäftsmodell zu überdenken. Bisher war die Einkaufspolitik beim Nordwestschweizer Milchhändler nach dem Motto "Wir machen erst dann Lieferverträge, wenn wir die Milch auch sicher verkaufen können". Die jüngste Marktentwicklung lasse aber ableiten, dass es auch anders möglich ist. "Offensichtlich sollten wir mehr wagen", sagt Christophe Eggenschwiler, Geschäftsführer des Miba. "Wir stehen als Milchhandelsunternehmen in direkter Konkurrenz zu den anderen und können es uns nicht mehr leisten, auf die Betriebe an den guten Lagen mit hohen Milchmengen zu verzichten. Wir stehen unter Druck, ihnen auch gute Angebote machen zu können." Etwas, das Eggenschwiler nicht gerne ausspricht, ist: "Vielleicht ist das Solidaritätsmodell ein Auslaufmodell, das wir uns als regionaler Milchverband immer weniger leisten können."
Für die Zentralschweizer Milchproduzenten (ZMP) ist die Situation etwas anders: Hier hat man grosse Verarbeiter in unmittelbarer Nähe, die Milchproduzenten liegen dicht beieinander, und damit sind die Voraussetzungen für ein kostengünstiges Einsammeln der Milch gut. Pirmin Furrer, Geschäftsführer der ZMP, sieht auch keinen grossen Änderungsbedarf: "Wir müssen schauen, dass wir für unsere Milchproduzenten attraktiv bleiben und denjenigen, die wachsen wollen, ein solches Wachstum auch ermöglichen. Wo wir etwas ändern wollen, ist im Bereich der Ladepauschale. Eine differenzierte Ladepauschale trägt dazu bei, dass die Kosten für das Aufladen der Milch gerechter auf diejenigen verteilt werden, welche auch hohe Kosten verursachen", so Furrer.
Wo die freiwillige Solidarität unter den Milchbauern nicht funktioniert, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man zwingt sie zur Solidarität, indem die Mengen kontingentiert werden oder in einem ähnlichen System wie dem Milchpool zentral verwaltet werden. Oder man lässt den Markt spielen im Sinne einer völligen Liberalisierung, wo nur die Starken überleben. Nach wie vor sind Appelle an die Solidarität an der Tagesordnung: "Mit den Sololäufen auf Produzentenseite muss jetzt endlich Schluss sein", sagte Peter Gfeller, der Präsident der Schweizer Milchproduzenten, an einem Podium im luzernischen Schenkon. Solche Appelle werden aber weiterhin verpuffen, solange es Organisationen gibt, welche die Freiheiten des Markts nutzen, wie es die Politik jetzt zulässt.
Entspannung? Fehlanzeige
In den Jahren 2008 und 2009 wurden Hunderte von Millionen Kilogramm Milch zu viel produziert und mit Stützungsgeldern von Staat und Branche exportiert. Auch für das laufende Jahr gibt es bereits neue Überschüsse von 62 Mio. Liter. Diese müssen jetzt zwingend über die Börse verkauft werden, und zwar in den kommenden vier Monaten. Für eine Entspannung des Milchmarktes reicht das aber nicht. Erstens handelt es sich bei den 62 Millionen Liter nur um eine Ausdehnung der Mengen gegenüber 2009, also ein Abschöpfen von dem, was ohnehin zu viel ist, und zweitens konkurrieren diese zusätzlichen 62 Millionen, sofern sie dann wirklich gemolken werden, irgendwo und irgendwie trotzdem die A-Milch. Oder zumindest ein Teil davon.
Stefan Kohler ist Chefredaktor von "Die Grüne", wo der hier gekürzte Text zuerst erschien.
