Kurz nachdem die Gemüseproduzenten auf die Strasse gegangen sind, um gegen den "Tod der Gemüseproduktion" durch ein WTO-Abkommen zu protestieren, meldet sich auch der Schweizerische Bauernverband (SBV) zu Wort – mit grundsätzlicher Kritik. "Eine möglichst weit gehende Liberalisierung ist kein legitimes Ziel an sich. Handel und Handelsregeln müssen vor allem den Menschen nützen", erklärte SBV-Präsident Hansjörg Walter am 24. Mai vor den Medien in Bern. Ein WTO-Abkommen, das nur den Agrarexporteuren und den Unternehmen des Agrobusiness nütze, sei abzulehnen. Der SBV kämpfe für ein Abkommen, das den Eigenheiten der Landwirtschaft in den verschiedenen Staaten Rechnung trage.
Vizepräsident John Dupraz erklärte, es stelle sich die Frage, ob die WTO-Verhandlungen im Sinne der Entwicklungsländer verliefen – die Doha-Verhandlungsrunde wird von ihren Promotoren gerne als Entwicklungsrunde dargestellt. Gegen eine einseitige Liberalisierung seien nicht nur die Schweiz und ihre Verbündeten in der Gruppe G-10, sondern auch die AKP-Länder (afrikanische, karibische und pazifische Länder), die Länder der karibischen Wirtschaftsgemeinschaft Caricom oder der Afrikanischen Union, erklärte Dupraz.
Beim Weltmarktpreis für Butter ist die Milch gratis
Über den Verlauf der WTO-Verhandlungen besorgt ist auch Samuel Lüthi, Direktor der Dachorganisation der Schweizer Milchproduzenten. Freihandel, die Maxime der WTO, funktioniere nur, wenn gleich lange Spiesse und gleiche Spielregeln für alle gelten würden, sagt er. Die Voraussetzungen in den verschiedenen Ländern seien aber derart unterschiedlich, dass weiterhin verschiedene Instrumente nötig seien, um die jeweilige Landwirtschaft zu schützen.
Besonders scharf kritisiert Lüthi die Art und Weise, wie Weltmarktpreise – in der WTO das Mass aller Dinge – entstehen. Beispielsweise importiert die Schweiz Butter zu einem Preis von zwei Franken, vergleichbare Butter im Inland kostet knapp elf Franken. Die zwei Franken decken laut Lüthi höchstens die Herstellungs-, Transport- und Lagerkosten. Das heisst, der Rohstoffpreis für die Milch ist gleich Null. Das heisst auch, dass der Weltmarktpreis für Butter auf einem Niveau liegt, auf dem nicht einmal die billigsten Verarbeiter produzieren können. Möglich ist dies, weil Fonterra, der einzige Milchverarbeiter im "billigsten Milchland" Neuseeland, seine Butterproduktion quersubventioniert. Andere Staaten verbilligen ihre überschüssige Butter mit Exportsubventionen, um auf das gleiche Preisniveau zu kommen. Weltweit wird laut Lüthi weniger als ein Prozent der gesamten Buttermenge effektiv zum Weltmarktpreis verkauft.
Was die Bauern verkraften
wy. Mit Zöllen von höchstens 100 Prozent des Weltmarktpreises (Capping), wie sie in der WTO als Maximalvariante diskutiert werden, würde die Schweizer Landwirtschaft Einbussen von bis zu 2,5 Milliarden Franken erleiden, 20 bis 25 Prozent des landwirtschaftlichen Produktionswertes. Der Bauernverband hat deshalb dargelegt, welche maximalen Konzessionen aus seiner Sicht möglich sind:
Kein Capping, das heisst, keine Höchstgrenzen für Agrarzölle, statt dessen soll wie in der Uruguay-Runde ein flexibler Abbau möglich sein, um sensible Produkte wie Gemüse, Obst, Milchprodukte und Fleisch zu schützen. Auch das Ausmass des Zollabbaus soll gleich sein wie in der Uruguay-Runde, das heisst im Durchschnitt 36 Prozent und pro Zolllinie mindestens 15 Prozent.
Dagegen ist der SBV bereit, längerfristig auf Exportsubventionen zu verzichten, mit Ausnahme der Beiträge im Rahmen des "Schoggi"-Gesetzes. Bei der Inlandstützung ist für den Bauernverband die "green box" (Direktzahlungen) unantastbar, die "amber box" (Marktstützungen) sollen um höchstens 30 Prozent abgebaut werden.
Wichtig sind für den Bauernverband auch nicht-handelsbezogene Anliegen wie die Schaffung eines Registers für AOC-Produkte und Regeln für eine Deklaration von Nahrungsmitteln. Gleichzeitig sei aber klar, dass die allfällige Aufnahme dieser Anliegen keinesfalls eine Kompensation für einen Abbau des Grenzschutzes sein dürfe.
Einheitliche Standards oder Deklaration
Möglichkeiten, die massiven Ungleichheiten in der WTO zu berücksichtigen, wären entweder die internationale Festsetzung von ökologischen und sozialen Standards oder aber zumindest eine Pflicht zur Deklaration und Herkunftsangabe, damit Konsumenten wissen, woher ein Produkt kommt und wie es produziert wurde. Für letztere – so genannt nicht-handelsbezogenen Anliegen – setzen sich die EU und die Schweiz ein, in den Verhandlungen haben bisher aber immer die "harten" Themen Grenzschutz und Preisstützung dominiert. Eine radikale Lösung, die von Kleinbauernverbänden in der ganzen Welt gefordert wird, wäre, die Landwirtschaft wieder aus der WTO auszuklammern (siehe Kasten "Raus aus der WTO?").
Wer profitiert?
Dass in der WTO bereits seit Jahren ohne konkrete Ergebnisse über die nächsten Liberalisierungsschritte im Agrarhandel gestritten wird, zeigt, wie sensibel das Thema ist und wie unterschiedlich die Voraussetzungen in den verschiedenen Ländern sind. Angesichts der Tatsache, dass in praktisch allen Ländern die Bauern auf ihre Regierung Druck ausüben, keine zu grossen Konzessionen in Richtung Liberalisierung einzugehen, stellt sich die Frage, wer eigentlich von einer weiteren Liberalisierung profitiert.
Gewinnen können vor allem die Firmen und Konzerne, die mit wettbewerbsfähigen Landwirtschaftsgütern international handeln und diese verarbeiten. Mit besserem Marktzugang sinken Ihre Kosten. Der massive Abbau von Exportsubventionen oder ähnlichen Stützungen, falls er denn wirklich kommt, tut ihnen nicht weh, weil sie solche gar nicht brauchen.
Der Anteil der Bauern, die von einer Liberalisierung etwas zu gewinnen haben, scheint eher klein: Bauern in den Agrarexportländern profitieren zwar von sinkenden Zöllen auf Produkten, die sie für den Export produzieren. Je nachdem, wie stark die Exportsubventionen gesenkt werden, verlieren sie aber auch. Gewinnen können die Grossbauern in Schwellenländern wie Brasilien, Argentinien, China oder Indien, die Zucker, Soja, Fleisch, Shrimps oder Blumen produzieren. Diese Länder setzen sich zusammen mit 16 weiteren Ländern in der Gruppe G-20 besonders stark für eine Abschaffung der Exportsubventionen und für sinkende Zölle ein. Dabei geht ein grosser Teil der ländlichen Bevölkerung vergessen: In Brasilien besteht das Problem der Landlosen schon länger und in Indien und China werden in den nächsten Jahrzehnten möglicherweise Hunderte von Millionen Kleinbauern ihr Einkommen verlieren und auf der Suche nach Arbeit in die Städte flüchten.
Raus aus der WTO?
LID. Unter dem Titel "Landwirtschaft raus aus der WTO?" findet am 19. Juni im Rahmen des Bio-Marché in Zofingen der 4. Schweizerische Bio-Gipfel statt. Referenten sind die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva, die österreichische Biobäuerin Heidi Rest-Hinterseer und der Uniterre-Sekretär Gérard Vuffray. ?
4. Schweizer Bio-Gipfel, Samstag, 19. Juni von 13.00 bis 16.30 Uhr im Hotel Zofingen, Zofingen, siehe auch www.bio-forum.ch
Industrie gegen Landwirtschaft
Gewinnen kann in der laufenden Verhandlungsrunde aber auch die Schweizer Exportindustrie, falls bei der Landwirtschaft genügend Konzessionen gemacht werden: Die Economiesuisse drängt den Bundesrat, sich für einen besseren Marktzugang für Industriegüter und für Dienstleistungen einzusetzen sowie für Abkommen über Handel und Direktinvestitionen und über Handelserleichterungen. Solche Konzessionen seien aber nicht zu haben ohne weitere Öffnungen und Stützungsabbau im Agrarbereich.
Der Wirtschaftsdachverband beklagte sich deshalb kürzlich über die zu bauernfreundliche Position des Bundesrates.
Sehr zum Ärger des Bauernverbandes. "Ein ,Bauernopfer’ zugunsten der übrigen Wirtschaft kommt nicht in Frage", erklärte SBV-Präsident Hansjörg Walter in Bern. Die Bauern seien auf Regeln angewiesen, die allen Beteiligten eine faire Chance einräumen. Es sei naiv zu glauben, man könne im Abkommen vor allem die Interessen der Exportwirtschaft berücksichtigen und glauben, die Landwirtschaft werde das dann schon irgendwie meistern können.
Vom Gleichgewicht zwischen den Sektoren
Hans Bieri, Geschäftsführer der Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL), betrachtet den Streit zwischen Landwirtschaft und Industrie als verhängnisvoll. "Der hohe Kostensockel, von dem aus wir produzieren und exportieren, ist nicht durch die Landwirtschaft bedingt." Deshalb werde die Industrie irgendwann genau die gleichen Probleme haben wie heute die Landwirtschaft, sie habe sie zum Teil jetzt schon: Der Kostendruck steige, die Kapitalrentabilität sei unbefriedigend, der Anreiz im Ausland zu produzieren, werde grösser.
Wenn die Industrie bei der Landwirtschaft sparen wolle, um sich selber zu retten, dann sei das eine kurzfristige Sichtweise: "Bei der Landwirtschaft geht es um die Grundversorgung der Bevölkerung, nicht allein um ein Renditeprojekt". Eine wettbewerbsfähige Industrie basiere immer auf einer produzierenden Landwirtschaft. Entscheidend für die Wettbewerbskraft und Leistungsfähigkeit der Industrie sei deshalb die Frage, wie viele Werktätige in Industrie und Dienstleistung durch die eigene Landwirtschaft eines Landes ernährt werden können. Hier liegt für Bieri die Quelle der ökonomischen Potenz. Auch das Argument von Economiesuisse, die vier Milliarden, die in die Landwirtschaft flössen, müsse die restliche Wirtschaft erst einmal verdienen, hält er deshalb für kurzsichtig. Man müsse sich nur einmal vor Augen führen, welche Kosten auf die Wirtschaft zukämen, wenn die Landwirtschaft aufgegeben und die ganze Ernährung importiert werden müsste. "Wenn die Industrie weiterhin das Land verlässt, weil es trotz Liberalisierung immer mehr billigere Standorte ausserhalb der Schweiz gibt oder der Export aus international nicht beeinflussbaren Gründen stagniert und die Exporteinnahmen sinken, würde eben auch der Frankenkurs schwächer und somit der Agrarimport zusätzlich massiv teurer."
Was wird verglichen
wy. Eine Grundlage des Welthandels ist der internationale Vergleich von Preisen. Dieser Vergleich ist aus verschiedenen Gründen problematisch, wie Hans Bieri von der Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL) erklärt. Einmal basiert er auf einer Umrechnung von einer Währung in eine andere, die schwankenden Wechselkursen unterliegt. Vor allem aber verleiten Preise dazu, Dinge zu vergleichen, die eigentlich nicht vergleichbar sind. Der polnische Milchpreis etwa beträgt zwar nur ein Drittel des Schweizer Milchpreises, wie Bieri in der Fachzeitschrift "DLZ Agrarmagazin" erklärte. Er wird aber auch in einem ganz anderen Umfeld erzielt: Der durchschnittliche Pachtzins für Boden beträgt nur ein Zehntel des schweizerischen Pachtzinses, und der durchschnittliche Lohn in Polen ist ein Zehntel eines Schweizer Lohnes. Für die polnischen Konsumenten ist deshalb die Milch teurer als für uns. Gleichzeitig zeigt das Beispiel Polen, wie absurd es sein kann, tiefe Preise mit effizienter Produktion gleichzusetzen: Die Mehrheit der polnischen Bauernbetriebe sind Kleinstbetriebe mit ein paar Hektaren und ein paar Kühen. Der polnische Bauer ernährt im Schnitt rund 15 Einwohner mit, der Schweizer Bauer aber 60.
Die Nahrung wird zum Politikum
Etwas Weiteres spricht laut Bieri noch für die Erhaltung der Landwirtschaft: die Versorgungssicherheit. Er erwartet, dass diese künftig angesichts globaler Entwicklungen wieder vermehrt ein Thema sein wird. "Westeuropa wird gut beraten sein, sich selber zu versorgen", meint Bieri. Die Nahrung werde weltweit wieder knapper und künftig genauso ein Instrument der Politik werden wie das Erdöl, nicht zuletzt weil auch die Nahrungsmittelproduktion heute stark vom Erdöl abhänge.
Siehe auch: "Der Markt liquidiert die Bauern", im LID-Mediendienst Nr. 2622 vom 26. Juni 2003