
Interview: Markus Rediger, Jonas Ingold und Michael Wahl
LID: Herr Lehmann, was sind 2016 die grossen Herausforderungen für die Landwirtschaft? Was kommt auf die Bauern zu?
Bernard Lehmann: Aus Sicht der Agrarpolitik wird es im nächsten Jahr keine Gesetzesänderungen geben, sondern es geht um die Umsetzung bereits beschlossener Dinge. Beschäftigen wird uns das Thema Pflanzenschutzmittel. Dazu gibt es einen Aktionsplan, wie er von verschiedenen Kreisen gewünscht wurde. Dieser wird vorschlagen, wie die Risiken reduziert werden können. Das BLW moderiert diesen Prozess. Ein weiteres Thema ist der administrative Aufwand, den wir im Rahmen der gegebenen Auflagen reduzieren wollen. Das Projekt "Administrative Vereinfachung" ist zu einer Grossbaustelle geworden. Wir haben bislang am Lack gekratzt und gemerkt, dass man vieles auch anders machen kann.
Zum Beispiel?
Das Führen des Auslaufjournals. Der Staat kann ja nicht wissen, ob Bauer XY seine Kühe am 13. September auf der Weide hatte. Eine Vereinfachung wäre zum Beispiel, wenn die Kühe einen Chip hätten, der die Bewegung automatisch aufzeichnet. Beim Abbau der Bürokratie geht es um das grundsätzliche Verhältnis zwischen Staat und Landwirt. Soll der Staat alles vorschreiben, also jede Handbewegung, oder soll er vielmehr die Ziele vorgeben und diese dann kontrollieren. Die Frage, die sich stellt: Wie viel Verantwortung gibt man der Landwirtschaft?
Die Milchbranche ist wegen tiefer Produzentenpreise unter Druck, Was würden sie einem Jungbauern empfehlen, der in die Milchproduktion einsteigen will?
Die FAO und die OECD gehen davon aus, dass die Preise für Milch in den nächsten Jahren steigen werden. Die Schweiz ist ein Gras- und Milchland, das zudem über eine gute Rinder-Genetik verfügt. Ich sehe keinen Grund, warum das plötzlich ändern sollte. Wenn ich einen Hof hätte, würde ich persönlich Milch produzieren. Wichtig ist, zuerst die Ausgangslage zu analysieren. Preise sind heute volatil, worunter gerade spezialisierte Betriebe leiden. Gibt es zusätzliche Standbeine, mit denen ich Preisschwankungen abfedern kann?
„Die Landwirtschaft muss sich wehren und organisieren”
Auch muss man analysieren, wem man die Milch verkauft. Die Bandbreite der bezahlten Preise ist sehr gross. Wenn ich einen neuen Stall bauen muss, dann so, dass ich auch noch mit tieferen Produzentenpreisen über die Runden komme. Mittelfristig ist ein allfälliges Handelsabkommen zwischen den USA und der EU eine Herausforderung. Denn würde die Schweiz ein solches übernehmen, würde das auf die Schweizer Milchpreise drücken. Auch solche Szenarien sollten in die Überlegungen einbezogen werden.
Läuft es im Markt nicht rund wie aktuell, rufen die Bauern meist nach dem Staat.
Dass sich Landwirtschaft dafür einsetzt, dass man die Zahlungsrahmen gleichbehält, ist legitim. Wenn die Bauern finden, im Markt laufe nicht alles rund, müssen sie sich fragen, ob sie den maximalen Preis erhalten im Vergleich zu dem, was die Konsumenten bezahlen. Die Landwirtschaft muss sich wehren, sich organisieren. Ich begrüsse den Strukturwandel bei den PO's. Denn wenn diese sich zusammenschliessen, haben sie eine stärkere Verhandlungsposition. Die Landwirtschaft muss sich im Markt noch besser organisieren.

Derzeit findet in Nairobi die WTO-Ministerkonferenz statt. Möglicherweise werden Exportsubventionen verboten, was die Schweiz mit dem Schoggigesetz betreffen würde. Gibt es Alternativen?
Wir sind intensiv damit beschäftigt, zusammen mit dem Seco, der Landwirtschaft und den Lebensmittelverarbeitern eine Lösung zu finden. Wir suchen eine Alternative zum Schoggigesetz, die von der WTO und der EU akzeptiert wird und gleich effektiv ist. Das ist schon fast die Quadratur des Kreises. Eine Möglichkeit: Das Geld geht direkt an die Bauern, welche dieses in einen Fonds einzahlen, welcher der Finanzierung der Exporte dient. Womöglich würden bei diesem Modell nicht alle Bauern mitmachen wollen, insbesondere diejenigen, deren Milch nicht in den Export geht. Abgeklärt wird deshalb, wie es mit der Allgemeinverbindlichkeit steht. Eine andere Möglichkeit könnte darin bestehen, dass der Bund direkt in einen Fonds einzahlt. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine gute Lösung finden. Positiv ist, dass die Schoggigesetz-Mittel nicht in Frage gestellt sind.
Die Zuckerbranche kämpft mit Problemen. In Frauenfeld wird bereits darüber diskutiert, deutsche Zuckerrüben zu verwenden. Wird es in Zukunft noch Schweizer Zucker geben oder setzen wir auf deutschen Zucker oder brasilianischen Rohrzucker?
Die Zuckerproduktion gehört zur Schweizer Landwirtschaft und ist Teil unseres Konzeptes zur Ernährungssicherheit. Ich höre Westschweizer Bauern, die froh sind, dass sie die Menge erhöhen können. Andere hingegen hören auf. Wie das unter dem Strich aussehen wird, kann ich nicht sagen. Dass aber eine Fabrik ihre Kapazitäten auslasten will, ist zum Vorteil der Inlandproduktion, weil die Kosten dadurch tiefer werden. Im Bio-Bereich werden ja bereits deutsche Rüben verarbeitet. Und derzeit braucht die Branche auch alle Argumente, um den Bund auf die Probleme aufmerksam zu machen.
„Es läuft nicht immer einfach alles nur schlecht wie in Dürrenmatts ‚Der Tunnel´”
Ich schaue das auch von einer anderen Seite an. Die Prognosen besagen für Mitte 2016 und 2017 viel höhere Zuckerpreise auf dem Weltmarkt. Man muss verstehen, dass nicht immer alles nur schlecht verläuft wie in Dürrenmatt's "Der Tunnel". Der Markt ist volatil. Wir bereiten uns aber darauf vor, die Rentabilität ab 2017 mit erhöhten Einzelkulturbeiträgen zu verbessern, sollte das nötig sein. Und ich gehe davon aus, dass es nötig sein wird. Schwieriger wird es aber, ein Grenzschutzsystem einzuführen. Zudem darf man nicht vergessen, dass man mit einem Zollsystem wieder ein Schoggigesetz für Zucker einführen müsste, was uns die bilateralen Verträge mit der EU nicht erlauben. Wir exportieren aber über Red Bull und ähnlichem auch Zucker.
Die EU schafft 2017 die Zuckerquoten ab. Wird der Druck auf den Schweizer Zucker dadurch steigen?
Wahrscheinlich werden in den für den Rübenanbau guten Gebieten die Fabriken ausgebaut. Anderswo werden sie schliessen. Wir haben aber in der Schweiz 1'600 Franken Einzelkulturbeitrag, was die EU-Bauern nicht haben. Zusätzlich zu den Direktzahlungen, die ohnehin höher sind. Das vergisst man immer. Deshalb bin ich optimistisch. Wir gehen aufgrund unserer Abklärungen davon aus, dass es keinen deutlich höheren Druck auf den Schweizer Zucker geben wird. Gäbe es diesen, so müssten wir über die Bücher gehen.

Die Schweiz führt mit Indonesien und Malaysia Verhandlungen über einen Freihandel. Die beiden Staaten wollen Freihandel für Palmöl, weshalb sich die Schweizer Rapsöl-Branche bedroht sieht. Wie geht das BLW vor?
Malaysia will spezifisch Zugang für Palmöl. Sie wollen nicht kompletten Agrarfreihandel, sondern Erleichterungen für das Öl. Die Frage ist, wie wir das in der Schweiz auffangen können. Wir hatten schon mal eine ähnliche Situation, das war beim Zucker mit der EU. Damals haben wir Einzelkulturbeiträge eingeführt, was funktioniert hat. Bei Malaysia ist die Frage, wie teuer das importierte Öl ist. Könnte man verlangen, dass sämtliches Öl nachhaltigkeitszertifiziert ist, hätte niemand mehr Angst. Ebenso wenn wir auf die Industrie vertrauen würden, die sagt, nicht nachhaltiges Öl werde nicht verwendet, da es der Reputation schade. Vertrauen ist ja gut, aber wir müssen sicher sein. Zwischen Öl, das nachhaltigkeitszertifiziert ist und normalem Palmöl gibt es noch viele Zwischenstufen. Beispielsweise in der Rückverfolgbarkeit. Das sind Themen, die verhandelt werden.
Ein anderes Thema ist das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das zwischen der EU und den USA verhandelt wird. Was kommt auf die Schweizer Landwirtschaft zu?
Die Schweizer Wirtschaft könnte im TTIP so grosse Vorteile sehen, dass sie mitmachen will. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst und dementsprechend vorbereitet. Die Situation ist mit aktuellem Wissen weitgehend abgeklärt und wir können sagen, wie gross der Einfluss auf die Schweizer Agrarwirtschaft wäre und wie wir diesen mildern oder abwehren könnten. Wir brauchen eine Lösung, mit der die Landwirtschaft ihren Verfassungsauftrag weiter erfüllen und die Marktanteile gehalten werden können. Auch der Strukturwandel dürfte nicht über den aktuellen Level herausgehen. Wir treiben keinen Beitritt zum Abkommen voran, sind aber gut gerüstet, wenn es dazu kommt.
Bei den Freihandelsabkommen gibt es stets viele gesamtwirtschaftliche Interessen. Wie ist dabei der Stellenwert der Landwirtschaft in den Verhandlungen?
Im Abkommen mit China haben wir mehr erhalten, als wir geben mussten. Wir haben dort die Perspektive, dass Zölle für Käse und Milchpulver auf ein tiefes Niveau abgebaut werden. Ähnliches wäre mit Russland geplant gewesen, das Abkommen ist aber nun auf Standby. Diese Beispiele zeigen, dass die Landwirtschaft Einfluss hat. Das WBF und das Seco wollen, dass wir als Bundesamt die Agraranliegen in die Verhandlungen mit einbringen. Beide Vertragsparteien sollen jeweils etwas herausholen können, was den Nahrungsmittelbereich angeht. Zudem ist eine Opposition der Landwirtschaft immer ein Problem für Verhandlungen. Aus diesen Gründen sucht man nach guten Lösungen für die Landwirtschaft.

Für die Agrarpolitik ab 2018 soll der Zahlungsrahmen gekürzt werden. Heisst das, dass die Bauern für dieselben Leistungen weniger Geld erhalten werden?
Der Bund legt in der Agrarpolitik Ziele fest, etwa bezüglich Biodiversitätsflächen. Die Bäuerinnen und Bauern können dann bei den Programmen mitmachen. Der Bund ist eigentlich nur interessiert daran, das Ziel möglichst günstig zu erfüllen. Es kann sein, dass das Ziel auch mit tieferen Beiträgen erfüllt wird. Es gibt in anderen Ländern radikalere Varianten. In Finnland heisst es: "Wir wollen in Bezirk XY 30'000 Hektaren Biodiversitätsflächen". Die Bauern machen Offerten und die Fläche wird im Rahmen dieser Auktion verteilt. Wer die beste Offerte macht, erhält den Zuschlag. Wer zu teuer ist, kann nicht teilnehmen. Der finnische Staat spart damit viel Geld und erreicht seine Ziele dennoch.
„Das Nein zur Initiative heisst nicht, dass der Bundesrat das Gegenteil will”
Ich sage damit nicht, dass der Bund sparen soll. Einen Sparauftrag umzusetzen, ist in erster Linie eine Pflichterfüllung. Es müssen aber einige Faktoren beachtet werden. Wir beklagen uns darüber, dass pro Jahr 3'400 Hektaren verbaut werden. Das ist in drei Jahren ein Prozent der Nutzfläche, auf der es keine Leistungen mehr geben kann. Dieser Punkt muss berücksichtigt werden, ebenso der Strukturwandel. Dieser führt dazu, dass die Direktzahlungen pro Betrieb ansteigen. Irgendwann sollten auch Grösseneffekte zum Tragen kommen. Das geschieht nicht sofort, zunächst werden die Einkommen zurückgehen, aber die Grössenvorteile werden zum Tragen kommen. Für mich ist aber klar, dass wir die von Bauern erbrachten Leistungen nicht in Frage stellen dürfen.
Über Bernard Lehmann
Bernard Lehmann ist seit Juli 2011 Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft. Auf einem Bauernhof aufgewachsen, arbeitete der Agronom ETH zunächst für den Schweizer Bauernverband, unter anderem als Leiter des Geschäftsbereichs Agrarwirtschaft und als stellvertretender Direktor. 1991 wechselte Lehmann an die ETH Zürich, wo er während 20 Jahren die Professur für Agrarökonomie innehatte.
In der nächsten Agrarpolitik wird nur wenig geändert. Wie sieht es für die Zeit nach 2022 aus?
Wir müssen 2019 einen Entwurf zur Vernehmlassung haben. Wir haben damit begonnen, über das Design nachzudenken. Derzeit sind wir auch daran, mit den Branchen zu diskutieren, wie diese die Zukunft im Jahr 2030 sehen. Ein Thema für uns ist, dass wir aus eigener Kraft und Leistung die Preisdifferenz zum Weltmarkt noch stärker mit Qualität begründen können und weniger mit dem Grenzschutz. Es geht nicht darum, den Grenzschutz abzubauen, sondern ihn weniger notwendig zu machen. Er soll weniger der Grund für Preisdifferenzen sein. Wir müssen die Konsumenten dazu bringen, die Leistungen in den Produkten noch stärker anzuerkennen.
„Wir müssen mehr in Richtung Kleinunternehmen gehen”
Generell müssen wir von den heutigen Betrieben mehr in Richtung Kleinunternehmen gehen. Dazu müssen wir auch Fesseln ablegen und die Ausbildung in diesem Bereich besser unterstützen. Nicht mehr zur Agrarpolitik 2022 gehören wird das Motto "Wachse oder weiche". Das Wachstum soll qualitativ sein. Als Beispiel nenne ich die Investitionshilfen. Da hat man bisher gesagt: "Wenn du gross genug bist, erhältst du sie, egal ob die Idee gut oder schlecht ist". Das ist etwas überspitzt gesagt, aber wir haben weniger auf die unternehmerische Leistung geschaut. In Zukunft soll Beihilfen erhalten, wer einen guten Businessplan hat. Dann sollte es nicht darauf ankommen, ob der Betrieb gross oder klein ist. Was wir brauchen, sind motivierte Leute.
Die Initiative für Ernährungssicherheit des Bauernverbandes kommt voraussichtlich 2017 vors Volk. Muss in der Agrarpolitik eine Kurskorrektur vollzogen werden, wenn die Initiative angenommen wird?
Diese Frage stellen wir den Initianten. Bisher habe ich darauf noch keine differenzierte Antwort bekommen. Ich verstehe die Message: Wir sollen dafür sorgen, dass die Schweiz ein produzierender Standort bleibt. Es gibt dabei die zwei Säulen Geld und eigene Kraft. Die Frage ist, wie der Stellenwert der einzelnen sein soll. Die Bevölkerung in der Schweiz nimmt pro Jahr um rund 80'000 Personen zu. Dass die Landwirtschaft eine gute Arbeit macht, zeigt sich daran, dass der Selbstversorgungsgrad mehr oder weniger konstant geblieben ist. Wir verstehen die Initianten, dass sie dies bewahren wollen. Das ist ebenso die Absicht des Bundesrates. Ein Nein zur Initiative heisst also nicht, dass der Bundesrat das Gegenteil der Initianten will.
Über 10'000 Bäuerinnen und Bauern haben Ende November 2015 in Bern gegen die Sparpläne des Bundes demonstriert. Was hätten sie den Demonstrierenden auf dem Bundesplatz gesagt, Herr Lehmann?
Lehmann: "Wenn ich dort gesprochen hätte, hätte ich klar gemacht, dass wir die Anliegen verstehen und gebührend berücksichtigen. Aber auch dazu aufgerufen, an das Positive zu denken, das die Agrarpolitik bietet. Der Grenzschutz wurde seit 6 Jahren nicht weiter abgebaut. Es wird viel Geld in die Landwirtschaft gesteckt. Dass es schwierige Situationen gibt, ist uns klar. Wir wehren uns aber gegen Schilderungen, dass die ganze Landwirtschaft am Boden sei und alles nur noch schlecht laufe. Wir müssen mehr an die Innovationskraft der Bäuerinnen und Bauern denken. Viele junge Leute wollen Freiheit und sich entfalten können. Erst kürzlich habe ich an einer Veranstaltung von Junglandwirten in Luzern gespürt, dass diese Leute etwas bewegen wollen. Das stimmt mich positiv."