
LID: Dinkel war während Jahrhunderten eines der wichtigsten Getreidearten in der Schweiz. Ende des 20. Jahrhunderts wurde er kaum mehr angebaut. Warum?
Thomas Kurth: Das hat ökonomische Gründe. Dinkel hat den Nachteil, dass er kein Kurzstrohgen hat. Beim Weizen wurden durch Züchtung die Halme verkürzt. Damit konnte man mit mehr Stickstoffdünger die Erträge steigern. Dinkel ist in diesem Sinn rückständig geblieben, man kann die Erträge kaum steigern. Ein weiterer Grund, warum Dinkel nahezu verschwand: Dinkel ist ein Spelzgetreide. Dies macht einen zusätzlichen Arbeitsgang notwendig, weil die Körner in der Mühle vom Spelz befreit werden müssen.
Heute liegt Dinkel wieder im Trend: Es gibt Backkurse, Verlage geben Rezeptbücher heraus, Grossverteiler führen Urdinkel-Produkte im Sortiment. Hätten Sie vor 20 Jahren eine solche Renaissance für möglich gehalten?
Vor 20 Jahren habe ich Dinkel ehrlich gesagt praktisch nicht gekannt. Ich wusste lediglich, dass diese alte Getreideart im Emmental, im Luzerner Hinterland und im Aargau noch angebaut wird. Das vielseitige Potenzial für ein nachhaltiges Wachstum habe ich erst im Verlauf der Jahre entdeckt.
Was sind die Gründe für den Erfolg?
Zum Erfolg beigetragen haben der aufkommende Gesundheitstrend und die Bereitschaft der Menschen, für gesunde Produkte wieder mehr zu bezahlen. Heute wollen die Konsumenten mehr Vielfalt auf dem Teller und wissen, woher die Lebensmittel kommen.
Die IG Dinkel spricht ganz unbescheiden vom „wertvollsten Getreide“. Das müssen Sie erklären.
Wir sehen dies in der Gesamtheit der guten Eigenschaften. Urdinkel enthält mehr Proteine und mehrfach ungesättigte Fettsäuren. Er ist kein einseitiges Kohlehydratgetreide. Ernährungstrends kommen und gehen, Urdinkel passt immer. Im Anbau brauchen wir sehr wenig Stickstoffdünger, also wenig graue Energie. Urdinkel sorgt zudem für eine gute Durchwurzelung des Bodens. Die hohen Halme unterdrücken das Wachstum von Unkraut. Vielfach muss deshalb kein Herbizid eingesetzt werden. Das Stroh und die Spelzen liefern wertvolle Nebenprodukte für das Tierwohl.
Wofür eignet sich Urdinkelmehl?
Man kann grundsätzlich alles aus Urdinkelmehl machen. Selbst Teigwaren, die normalerweise immer aus importieren Rohstoffen hergestellt werden. Für das Backen von Brot braucht es etwas Erfahrung. Denn Urdinkel hat weiche, dehnbare Kleber, wie sie früher auch im Weizen vorkamen. Neue Rezeptbücher zeigen aber auf, wie man erfolgreich UrDinkelbrot bäckt.
Der Sommer war heiss und trocken. Wie hat sich das auf die Ernte ausgewirkt?
Die Erträge waren rund 20% tiefer als in den beiden vorangehenden Jahren. Da wir die Fläche um 15% ausdehnen konnten, ist die Erntemenge nur leicht tiefer.
Reicht die geerntete Menge, um die Nachfrage zu decken?
Wegen der kleineren Ernte haben wir mit einer Versorgungslücke gerechnet und Importe bewilligt. Bald zeigte sich, dass im Ausland kaum mehr reine Dinkelsorten angebaut werden, sondern grossmehrheitlich Hochertragssorten, die mit Weizen eingekreuzt sind. Die IG Dinkel toleriert für die Marke "UrDinkel" keine solchen Sorten. Anstelle von Importen konnten noch alte Sorten aus Bio- und konventionellem Anbau organisiert und eingesetzt werden.
Urdinkel wird praktisch ausschliesslich in der Deutschschweiz angebaut. Warum nicht auch in der Westschweiz?
Das hat historische Gründe. Dinkel ist ein alemannisches Getreide, das also in erster Linie im deutschsprachigen Raum verbreitet war. Zahlungslisten des Ancien Régimes zeigen beispielsweise, dass in der Waadt früher hauptsächlich nur Roggen und Weizen angebaut wurden, während es in der Deutschschweiz Dinkel und Roggen waren. Diesen Herbst fangen wir an, in der Region Granges (VD) erstmals Urdinkel anzubauen. Wir versuchen schon lange, in der Westschweiz Fuss zu fassen. Es braucht aber mehr Geduld, weil Dinkel dort keine Tradition hat.
Die IG Dinkel setzt hauptsächlich auf die alten Schweizer Sorten Oberkulmer und Ostro. Die eine ist rund 100-jährig, die andere 70-jährig. Sie sind also schon lange nicht mehr an die heutigen Umweltbedingungen angepasst worden. Ist das nicht ein Handicap?
Es ist ja nicht so, dass wir Saatgut verwenden, das 100 Jahre alt ist. Jährlich werden in der Sortenreinhaltung die schönsten Ähren herausgelesen, welche die Basis bilden für die Saatgutvermehrung. Die Sorten passen sich also laufend an die Umwelt an.
Trotzdem: Fachleute beurteilen die genetische Einseitigkeit als kritisch. Ist die IG Dinkel offen gegenüber neuen, krankheitsresistenteren Sorten?
Im konventionellen Vertragsanbau hat die IG Dinkel den Markt für Neuzüchtungen geöffnet, auch wenn diese mit Weizen gekreuzt sind. Hier ist das Ziel, eine möglichst grosse Vielfalt an Sorten zu erreichen. Die Marke „UrDinkel” hingegen steht für reine, alte Schweizer Sorten, die nicht mit Weizen gekreuzt sind. In diesem Bereich haben wir erstmals zwei Landsorten grossflächig getestet. Die eine fiel etwas ab, die andere ist vielversprechend. Wenn sie sich in weiteren Tests bewähren, schafft es die eine oder andere vielleicht auf die Sortenliste.
Alte Dinkelsorten sind weniger ertragreich als neue. Lohnt sich der Anbau von Urdinkel für Bauern überhaupt?
Damit sich der Anbau lohnt, muss ein höherer Preis bezahlt werden. Der Anbau von Urdinkel rentiert sich dann in Regionen, wo Weizen wegen klimatischer Bedingungen keine Höchsterträge liefert, also in eher raueren Gegenden mit viel Regen.
Urdinkel-Produzenten dürfen fast keinen Dünger einsetzen. Warum?
Wenn man zu viel düngt, wird der Bestand sehr dicht. Beim ersten Gewitter legt sich der Dinkel, der bis 1,50 Meter gross wird, flach. Wenn Ähren aber am Boden sind, wird die Bestäubung behindert. Die Erträge lassen sich deshalb mit zusätzlichem Dünger nicht steigern. Dinkel ist somit ideal für extensiv wirtschaftende Betriebe.
Erfolgsgeschichte „UrDinkel”
mw. Dinkel war um 1900 noch das wichtigste Brotgetreide der Schweiz. Danach verlor er stark an Bedeutung, weil die Bauern vermehrt auf den ertragreicheren Weizen setzten. Mit 5‘000 Tonnen und einer Anbaufläche von 1‘000 Hektaren war 1993 der Tiefststand erreicht. Zwei Jahre später gründeten Bauern und Müller die IG Dinkel, um dem alten Getreide zu einer Renaissance zu verhelfen. Sie riefen die Marke „UrDinkel“ ins Leben und förderten den Anbau von reinen, alten Schweizer Dinkelsorten. Heute findet man in den Verkaufsregalen wieder Dinkel-Produkte wie Brot, Pasta oder Biscuits. Absatz, Anbaufläche und Anzahl Produzenten nehmen seit Jahren zu.


