Wenn Amtsstellen oder Forschungsanstalten des Bundes Zahlen über die finanzielle Situation der Landwirtschaft veröffentlichen, so kommt die "korrigierende" Stellungnahme aus Brugg so sicher wie das Amen in der Kirche. Und auch deren Inhalt ist jeweils zum voraus bekannt: Die Wahrheit sei wesentlich schlimmer als die Zahlen vermuten lassen, wird die Botschaft des Schweizerischen Bauernverbandes (SBV) lauten – und so das Bild von den "jammernden Bauern" in den Köpfen der Empfänger bestätigen.
So geschah es auch Anfang November, als das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) eine in seinem Auftrag erstellte Studie der Uni Freiburg über die Verschuldungssituation der Landwirtschaft veröffentlichte. Deren wichtigstes Ergebnis: 60 Prozent der Betriebe sind finanziell gesund, und bei den übrigen 40 Prozent ist die Verschuldung nicht das Hauptproblem. Die Studie "relativiere" damit die landläufige Meinung, wonach die Verschuldung ein wichtiger Grund für die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit der schweizerischen Landwirtschaft sei, folgerte das BLW in einem Communiqué. Die Replik des Bauernverbandes folgte auf dem Fuss: Die Studie sei eine "Bestätigung" der Verschuldungssituation und ein "Alarmzeichen" für die weitere Entwicklung, schrieb er in seiner Mitteilung.
Der Grund für die so viel düsterere Sichtweise des SBV liegt auf der Hand: Mit einem halb leeren Glas lässt es sich als Unterstützungsempfänger nun einmal glaubwürdiger argumentieren als mit einem halb vollen. Erwartungsgemäss verknüpfen die Brugger Interessenvertreter ihre Interpretation der Freiburger Zahlen denn auch mit Forderungen: Der Bundesrat müsse Massnahmen zum Abbau der Verschuldung "prüfen und vorbereiten", und Bund und Kantone sollen sofort "auf den Erlass von weiteren kostentreibenden Regelungen" verzichten.
Weniger verschuldet als andere Branchen
Wie voll oder wie leer das Glas der bäuerlichen Verschuldung in Wahrheit aber auch sein mag: Die Studie der Uni Freiburg macht der Spiegelfechterei mit blossen Schätzungen und Vermutungen ein Ende und setzt die von ihr ermittelten Zahlen über die finanzielle Lage der hiesigen Landwirtschaft erstmals in Relation zur übrigen Wirtschaft und zum Ausland. Ihre wichtigsten Ergebnisse sind:
- Durchschnittlich ist jeder Bauernbetrieb in der Schweiz mit fast 300,000 Franken verschuldet. Das entspricht 43 Prozent der Aktiven und ist weniger als in vielen andern Wirtschaftsbereichen. Unter den von der Studie in den Vergleich einbezogenen Branchen zeigen nur gerade der öffentliche Sektor der Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwirtschaft mit 38,8 Prozent und die Uhren- und Schmuckindustrie mit 33,4 Prozent günstigere Werte.
- Zwischen 1993 und 1996 ist die Verschuldungslage insgesamt praktisch unverändert geblieben; von einer Verschlechterung der Situation ist keine Rede.
- Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die schweizerische Landwirtschaft zwar dreimal so hoch verschuldet ist wie diejenige der EU, aber kaum schwerer daran trägt. Der Anteil der Zinslasten an den Gesamtkosten ist annähernd gleich, nämlich 6 Prozent in der Schweiz gegenüber 5 Prozent im EU-Durchschnitt. Dies relativiert den Einfluss der Schuldenlast auf die Finanzlage der schweizerischen Landwirtschaft (siehe Tabelle).
- Werden die einzelnen Betriebe unter die Lupe genommen, zeigen sich allerdings grosse Unterschiede. So sind etwa 60 Prozent der Betriebe finanziell gesund, das heisst sie können unabhängig vom Verschuldungsgrad Eigenkapital bilden. 40 Prozent befinden sich jedoch in einer heiklen Lage und zehren von der Substanz. In 19 Prozent der untersuchten Betriebe ist die Lage sogar prekär: Sie verbrauchen nicht nur ihr Eigenkapital, sondern haben auch einen Verschuldungsgrad von über 50 Prozent. Ihre Existenz ist gefährdet.
- Auch bei den Betrieben in prekärer Finanzlage ist aber nicht die Verschuldung das Hauptproblem, sondern die mangelnde Rentabilität der Investitionen, also die im Verhältnis zu den Aufwendungen zu tiefen Erträge.
- Mit Blick auf mögliche weitere Entwicklungen in den kommenden Jahren hält die Studie fest, dass die fi-nanziell gesunden Betriebe auch einen allfälligen EU-Beitritt im Jahre 2007 überleben würden, sofern sie ihre Strukturen weiter anpassen und eine vor sichtige Investitionspolitik betreiben. Ein allfälliges Programm zur Ent- oder Umschuldung könne diese schwierige Aufgabe erleichtern, halten die Autoren fest. Betriebe, die sich schon heute in einer prekären Lage befinden, haben bei einem EU-Beitritt hingegen sehr schlechte Aussichten und müssten mit andern Begleitmassnahmen unterstützt werden.
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Düstere Aussichten für zwei Fünftel
Auf Grund dieser Befunde kommen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die Finanzlage der Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz insgesamt "befriedigend" sei. Bei den 40 Prozent gefährdeten oder in prekären Verhältnissen lebenden Betrieben dürfte diese Einschätzung indes auf blankes Unverständnis stossen. Die Feststellung, dass nicht die Verschuldung das Hauptproblem sei, sondern die mangelnde Rentabilität der Investitionen, macht die Lage dieser Betriebe nicht gemütlicher. Denn immerhin bedeutet dies, dass sie ihre Zukunft in der Regel nur durch eine bessere Auslastung ihrer Kapazitäten, sprich durch eine Vergrösserung von Fläche oder Milchkontingent, sichern könnten. Doch genau dazu fehlt ihnen das Geld: Weil beim Familienkonsum kaum Spielraum besteht – einkommensschwache Familien geben nicht weniger aus als finanziell gesunde – , schieben diese Betriebe eben die notwendigen Investitionen auf, wie in der Freiburger Studie ebenfalls zu lesen ist.
Wenn der Bauernverband also schwärzer malt als das Bundesamt, kommt er der Realität dieser zwei Fünftel aller Betriebe womöglich näher. Strukturerhaltung gehört allerdings ebenso wenig zu seinen erklärten Zielen wie zu jenen des Bundes. Und den positiven Befund der Studienverfasser bezüglich der Mehrheit der Betriebe widerlegt er dadurch nicht.
Kritik an Methode und Zukunftserwartungen
Freilich begründet der SBV seine pessimistischere Interpretation der Ergebnisse auch mit Kritik an der Untersuchungsmethode sowie mit seinen Zukunftserwartungen. So bemängelt er, dass die Studie sich auf die Daten von Betrieben abstützt, die für die Forschungsanstalt für Agrarwirtschaft und Landtechnik in Tänikon (FAT) eine detaillierte Buchhaltung führen – auf Betriebe also, die laut SBV "besser wirtschaften als der Durchschnitt". In Wirklichkeit würden deshalb mehr als die in der Studie genannten 40 Prozent der Betriebe ihr Eigenkapital verbrauchen, vermutet der Bauernverband. Zum andern geht er davon aus, dass die als Folge der Agrarreform AP 2002 sinkenden Preise für Landwirtschaftsprodukte und die gleichzeitig stabil hoch bleibenden Produktionskosten in den kommenden Jahren die Verschuldungssituation verschärfen werden.
Offene Türen
Die Folgen der AP 2002 wurden in der Studie jedoch bereits mit einbezogen, wenn auch "nur" mittels einer Simulationsrechnung, die zum Beispiel "qualitative Elemente" wie "Anpassungsfähigkeit" oder "Unternehmungsgeist" der Landwirte nicht berücksichtigen könne, wie die Verfasser betonen. Mit andern Worten: Die Wirklichkeit könnte in einigen Jahren zwar schlechter, ebenso gut aber auch besser aussehen als das von der Studie errechnete Szenario.
Und was die an den Bundesrat gerichtete Forderung betrifft, unabhängig von der Frage eines EU-Beitritts Massnahmen zum Abbau der Verschuldung zu prüfen und vorzubereiten – von "ergreifen" ist dabei keine Rede – , rennt der SBV offene Türen ein: Bereits hat die Uni Freiburg vom BLW den Auftrag gefasst, die Auswirkungen eines Ent- oder Umschuldungsprogramms auf die Finanzlage der Landwirtschaft zu untersuchen. Das Ergebnis dieser neuen Studie lässt sich unschwer voraussagen: Einigen Betrieben würde ein solches Programm dienen, andern weniger, da ihr Hauptproblem nicht in der Verschuldung liegt. Und wer darauf wettet, dass der SBV darin ein Alarmzeichen sehen wird, geht nur ein bescheidenes Risiko ein.
Was im übrigen nicht heisst, dass der Bauernverband mit seinem "Jammern" nicht auch einmal Recht haben könnte. Fragt sich nur, wer ihm noch zuhört.
Die in französischer Sprache erstellte Studie "Neuorientierung der schweizerischen Agrarpolitik: Finanzanalyse und Verschuldung" kann bezogen werden bei: Bundesamt für Landwirtschaft, Tel. 031/322 59 38.