Die Pflanzenzüchter beim deutschen Agrochemiekonzern BASF beissen sich in die Faust. Ihre Stärkekartoffel Amflora ist seit Jahren Gegenstand heftiger Kontroversen in der EU, seit Jahren wartet die Firma auf die Zulassung der gentechnisch veränderten Knolle für den kommerziellen Anbau, seit Jahren melden Gentech-Kritiker und der EU-Umweltkommissar Stavros Dimas Bedenken an. Und nun kommt die Firma Emsland mit einer Stärkekartoffel, die genau die gleichen Eigenschaften hat wie Amflora, bloss eben ohne Gentechnik. Die Kartoffel wird schon angebaut, und seit Oktober produziert Emsland daraus Stärke, die von der Lebensmittelindustrie verwendet wird, die aber auch in der Textil-, Papier- und Baustoffindustrie zum Einsatz kommt. Weil die Stärkekartoffel nicht mit gentechnischen Methoden gezüchtet wurde, sind Bewilligungen oder Verunreinigungen kein Thema.
Evolution im Turbo-Tempo
Das Geheimnis hinter der neuen Kartoffel auf der Überholspur ist eine neue Technik: Tilling. Till steht für "targeting induced local lesions in genomes". Gemeint ist damit die Suche nach kleinen Veränderungen im Erbgut von Keimlingen. Konkret werden mit der chemischen Substanz Ethylmethansulfonat kleine Mutationen, also Veränderungen im Erbgut, ausgelöst. Damit wird ein Prozess beschleunigt, der in der Pflanze ohnehin stattfindet. Neu daran ist, dass sehr rasch die Keimlinge aussortiert werden können, die eine gewünschte Eigenschaft haben. Mit diesen wird dann weitergezüchtet. So können Pflanzen optimiert werden, ohne dass fremde Gene eingeschleust werden wie bei der Gentechnik.
Die Forscher der Firma Bioplant, die mit Emsland zusammenarbeiten, untersuchten 2‘748 Keimlinge, bis sie einen fanden, der nur die gewünschte Stärke Amylopektin bildet. Aus dem Keimling enstand die erste Generation von Stärkekartoffeln. Kartoffeln bilden normalerweise neben Amylopektin, das verdickende und klebende Eigenschaften hat, auch die Stärke Amylose, die gelierend wirkt. Die Trennung der beiden Stärkearten ist technisch aufwendig und kostspielig. Von einer Kartoffel, die nur Amylopektin bildet, verspricht sich die Stärkeindustrie deshalb grosse Einsparunge
Varianten der Molekularbiologie
wy. Die Till-Methode ist eine Weiterentwicklung der Präzisionszucht, auf englisch "Smart breeding" genannt. Präzisionszucht bedeutet, dass die Pflanzen, mit denen weitergezüchtet wird, nicht aufgrund der äusseren Merkmale -– ein resistenter Mais, eine geschmackvolle Tomate – ausgewählt werden, sondern direkt aufgrund ihrer Erbinformationen auf der DNA. Das für eine bestimmte Eigenschaft verantwortliche Gen wird mit einem so genannten Marker, einem kurzen künstlich hergestellten DNA-Abschnitt markiert. Die Zucht wird so stark beschleunigt, weil die Auswahl bereits im Keimstadium erfolgen kann und nicht erst an der ausgewachsenen Pflanze oder ihren Früchten. Cisgenetik ist ein gentechnisches Verfahren, bei dem in einen Organismus keine artfremden DNA-Abschnitte eingebaut werden, sondern nur solche, die im Organismus selber vorkommen können. Anders als bei der herkömmlichen Zucht oder beim Smart breeding werden aber DNA-Sequenzen im Reagenzglas kombiniert und dann wieder in den Organismus eingebaut.
Als nächstes: Tomaten
Die neue Kartoffelsorte von Emsland ist das erste Produkt der Tilling-Technik, das kommerziell verwendet wird. 100 Tonnen wurden im Herbst geerntet, das Absatzpotenzial wird von Emsland auf 100‘000 Tonnen im Jahr geschätzt ? nicht Kartoffeln, sondern Stärke. Allein in Deutschland braucht die Industrie 500‘000 Tonnen Stärke. Das zeigt, wie wichtig der Stärkemarkt ist und es erklärt, weshalb BASF sich die Konkurrenzkartoffel Amflora schon so viel hat kosten lassen.
Produkte, die mit der Tilling-Technik gezüchtet werden, sollen künftig nicht nur die Industrie überzeugen, sondern auch die Konsumenten. Denn gerade bei Lebensmitteln ist die Skepsis der Europäer gegenüber der Gentechnik immer noch gross. Die niederländische Bayer-Tochter Nunhems wendet derzeit die Tilling-Technik bei Tomaten an, um dereinst die Farbe von Tomaten steuern zu können, oder um salzresistente Tomaten zu züchten, die auch in Regionen mit Wassermangel wachsen können. Und je grösser das genetische Wissen über die Nutzpflanzen ist, umso vielfältiger werden die Anwendungen. Von Reis, Hirse, Mais und Raps kennt der Mensch das Genom bereits.
Segen der Gentech-Kritiker
Tilling hat den Segen der Gentech-Kritiker. Marianne Künzle von Greenpeace etwa hält die Technik für relativ unproblematisch. Sie bringe keine gentechnische Veränderung, es würden keine fremden DNA-Elemente in die Organismen importiert. Verglichen mit der Gentechnik seien die Risiken deshalb geringer. Fraglich sei allenfalls, ob die Entwickler von neuen Organismen Patente darauf erheben würden.
Peter Stamp, Professor für Ackerbau und Pflanzenzüchtung an der ETH Zürich, sieht hingegen keinen Gegensatz zwischen Tilling und Gentechnik, beides seien molekularbiologische Methoden. Tilling sei aber ein gutes Beispiel dafür, dass es in diesem Bereich rasante Entwicklungen und Durchbrüche gebe, die in der Öffentlichkeit oft nicht wahrgenommen würden. Die Risiken seien bei beiden Methoden eigentlich kein Thema. Gerade bezüglich der Gentechnik gebe es ein "völlig überrissenes Risikodenken" in Relation zur absolut kritischen Situation der globalen Ernährungssicherheit. "In Indien und China werden sich gentechnisch veränderte Pflanzen in den nächsten Jahren sowieso durchsetzen, weil es schlicht darum gehen wird, die Menschen zu ernähren."