"Sie werden sich fragen: Hat Avenir Suisse in Zeiten der Finanzkrise denn nichts Gescheiteres zu tun als noch einmal das Thema Landwirtschaft aufzuwärmen?" In der Tat, das fragte man sich. Thomas Held, Chef des Think Tanks Avenir Suisse, bemühte sich, gleich zu Beginn der Medienorientierung über das neue Buch "Agrarpolitische Mythen", kritischen Fragen zum Timing den Wind aus den Segeln zu nehmen: Aktuell sei das Thema deshalb, weil möglicherweise noch vor Weihnachten in Genf eine WTO-Ministerkonferenz einberufen werde. Ausserdem habe sich Avenir Suisse in letzter Zeit viel stärker mit der Finanzkrise befasst als mit der Landwirtschaft. Mit Verlaub: An die Öffentlichkeit gedrungen ist davon nicht viel. Und die Ministerkonferenz hat sich inzwischen auch erledigt.
Mythos Freihandel
Mit der neuen Broschüre wolle man die Debatten um die Agrarpolitik versachlichen, sagte Held. Im Visier hat Avenir Suisse insgesamt sieben "Mythen", Bilder, die sich die Bevölkerung von der Landwirtschaft mache und mit denen Politik gemacht werde, die laut Avenir Suisse aber nicht der Wahrheit entsprechen. Zum Beispiel das "Bauernsterben", das von der Politik nicht beschleunigt, sondern im Gegenteil gebremst werde. Auch die Aussage, dass die Schweizer Landwirtschaft umweltschonend und tierfreundlich produziere, verbannt Avenir Suisse kurzerhand ins Reich der Mythen. Ferner kümmern sich die Autoren – der Ökonom Hans Rentsch und die Agronomin Priska Baur, die Avenir Suisse inzwischen schon wieder verlassen hat – um die "Ernährungssouveränität", um "faire Marktpreise" oder um den bäuerlichen Bodenmarkt. Und das immer mit dem gleichen Hintergedanken: Dass weniger Staat und mehr Markt den Bauern zwar kurzfristig wehtut, für sie und die restliche Volkswirtschaft aber langfristig ein Vorteil ist.
Der Nutzen des weltweiten Freihandels werde auch von allen UNO-Institutionen betont, erklärte Held. Das ist falsch. Die UNO-Organisation für Handel und Entwicklung UNCTAD, das Hochkommissariat für Flüchtlinge und auch der Weltagrarrat IAASTD stehen der Handelsliberalisierung, wie sie derzeit abläuft, skeptisch gegenüber; in der Welternährungsorganisation FAO sind die Meinungen geteilt.
Mythen, die nützen
wy. "Agrarpolitische Mythen" ist ein Konzentrat des Buches "Der befreite Bauer", das Avenir Suisse vor zwei Jahren veröffentlichte. In der Kurzform wird manches prägnanter und auch die Widersprüche werden offensichtlicher: Den Schweizer Bauern wirft Avenir Suisse gleichzeitig vor, zu wenig wettbewerbsfähig und zu wenig ökologisch zu sein. Der Vorwurf ist losgelöst vom internationalen Umfeld: Den Zielkonflikt zwischen möglichst billig und möglichst ökologisch produzieren, lösen auch die EU-Bauern nicht besser.
Wie bei "Der befreite Bauer" befremdet die einseitige ökonomische Sichtweise, von einer positiven Vision für die Schweizer Landwirtschaft ist nichts zu lesen.
Mythen zu hinterfragen ist nicht grundsätzlich schlecht. Es lohnt sich, schwierige Begriffe wie "Ernährungssouveränität" zu debattieren und zu klären. Allerdings baut Avenir Suisse selber auf einen Mythos, nämlich den, dass Freihandel zum Wohl der ganzen Menschheit ist.
Schade eigentlich, hat sich Avenir Suisse nicht mindestens so intensiv um die finanzpolitischen Mythen gekümmert. Damit hätte der Think Tank sich nicht nur mit volkswirtschaftlichen Marginalien befasst, sondern die Chance gehabt, die grösste Schweizer Bank und die Schweiz selber vor der grössten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten zu bewahren.
"Agrarpolitische Mythen. Argumente zur Versachlichung der Debatte", Hans Rentsch und Priska Baur, Verlag Neue Zürcher Zeitung , 2008.
Siehe auch: "Das Bundesamt schiesst zurück" im LID-Mediendienst Nr. 2796.
