"Bei der bäuerlichen Bevölkerung besteht eine grosse Hemmschwelle, wenn es darum geht, soziale Hilfe in Anspruch zu nehmen", sagt Urs Gantner vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Dass in der Stadt soziale Hilfsangebote mehr genutzt werden, führt er darauf zurück, dass dies anonymer geschehen kann als auf dem Land.
Einstellungen und Werte machen Sozialhilfe anrüchig
Eine im Auftrag des BLW durchgeführte Studie zu diesem Thema fand weitere Gründe: So fällt es 80 Prozent der befragten Bauern schwer, Sozialhilfe zu beziehen. Auch wenn die Mehrheit (74 Prozent) glaubt, dass bei Bezügern von Sozialhilfe wirtschaftliche Schwierigkeiten vorliegen, führen knapp 50 Prozent der Befragten den So-zialhilfebezug auf persönliches Versagen zurück. Zudem bringen die Bauern den Sozialhilfebezügern schwerwiegende Vorurteile entgegen. Sie bezeichnen sie als "faul" oder "frech" und werfen ihnen vor, dass "sie nicht arbeiten wollen".
Strukturen erschweren den Gang zum Sozialamt
"Nach aussen stellt ein Betrieb eine finanzielle Sicherheit dar – es ist etwas da", sagt Gantner. Und auch die Bauern betrachteten sich selbst nicht als unterstützungsbedürftig. "Schwierig ist auch, dass durch die Direktzahlungen eine zusätzliche Unterstützung der Bauern im sozialen Bereich oft als unnötig betrachtet wird", ergänzt Daniela Clemenz von der Landwirtschaflichen Beratungszentrale Lindau (LBL). "Manchen Sozialämtern ist zu wenig klar, dass Direktzahlungen zu den Ertragsposten gehören und insbesondere auch die Betriebsaufwendungen decken müssen. Ein Umdenken ist unbedingt erforderlich."
Clemenz gehörte zur 17-köpfigen Arbeitsgruppe Soziales, die im Auftrag des BLW und unter dem Vorsitz von Urs Gantner die soziale Lage der Landwirtschaft erfasst und beurteilt hat. Sie weist darauf hin, dass ferner die administrativen Hürden recht gross seien: "In einer Diplomarbeit der Fachhochschule für Sozialarbeit in Bern kommen die Autorinnen zum Schluss, dass die Formulare schwer verständlich und komplex seien, die Information über die Angebote ungenügend und dass Unklarheit über die Zuständigkeiten herrsche. Zudem werde das Verfahren von den Bauern als beschämend und abwertend betrachtet." (vgl. Kasten)
Lieber den Gürtel enger schnallen
"Auf einem Bauernbetrieb ist Substanz da", sagt Gantner "und in finanziellen Notlagen wird von ihr gezehrt. Es wird beispielsweise auf Investitionen verzichtet." Die enge Verflechtung von Betrieb und Privathaushalt bewirken eine Flexibilität bezüglich dem Einsatz von Arbeit und Finanzen und in der erwähnten, vom BLW veranlassten Studie sagen praktisch alle befragten Landwirte (97 Prozent), sie würden in einer finanziellen Notlage den Gürtel enger schnallen.
Strukturwandel ja, aber sozial verträglich
"Kurzfristig mögen der Verzicht auf Investitionen oder gar der Verkauf von Land zwar einen Betrieb über Wasser halten, langfristig wird dieser Betrieb jedoch nicht überleben können", meint Gantner. Er vergleicht die Landwirtschaft mit einem grossen Unternehmen, das möglichst schnell wieder fit gemacht werden soll. Unweigerlich führt das zu einem Stellenabbau. Dieser soll aber sozial verträglich geschehen und deshalb ergreife das Unternehmen Massnahmen, mit denen Härtefälle abgefedert werden können. Für die Landwirtschaft schlägt die BLW-Arbeitsgruppe Massnahmen wie Vorruhestandsregelungen für die Bauern, die ihren Betrieb aufgeben, oder die Unterstützung bei der Umschulung vor.
Mehr informieren über Möglichkeiten
Um die soziale Lage der landwirtschaftlichen Betriebe allgemein zu verbessern, schlägt die Arbeitsgruppe Änderungen im Bereich der Familienzulagen und der Krankenversicherung vor. Sie betont, dass es wichtig sei, den Themen sozialer Schutz und Versicherungswesen in der Aus- und Weiterbildung einen festen Platz einzuräumen. Denn der Kenntnisstand in Bezug auf die sozialen Schutzmöglichkeiten und insbesondere in Bezug auf die Sozialhilfe seien lückenhaft. "Hier sind vor allem die Beratungs- und Sozialdienste gefordert", sagt Gantner. "Die Leute in Not müssen davon überzeugt werden, dass ihre Situation kein Anlass zur Scham ist und sie müssen von den Hilfsangeboten wissen, um sie auch zu nutzen."
Soziale Sicherheit unter der Lupe
LID. Der Sozialbericht (einzeln erhältlich) des "Agrarberichts 2000" des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) erfasst die soziale Lage der Landwirtschaft und beurteilt diese. Der Bericht geht auf folgende Fragen ein: Inwieweit tragen Landwirte besondere Risiken? Sind landwirtschaftliche Haushalte von Armut betroffen? Wie ist die bäuerliche Bevölkerung sozial abgesichert? Was hindert Landwirte daran, soziale Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen? Welche Ansätze für die Früherkennung von Sozialfällen gibt es? Welche Strategien wenden Landwirte im Umgang mit Armut und Knappheit finanzieller Ressourcen an?
Im Anschluss an die Darstellung der aktuellen Situation wird der Handlungsbedarf in den verschiedenen Bereichen aufgezeigt. Nach Angaben von Urs Gantner, dem Vorsitzenden der Arbeitsgruppe, dient der Bericht als Informationsgrundlage für die Weiterentwicklung der Agrarpolitik aus sozialer Sicht.
Für Informationen und Angaben zu weiterführender Literatur siehe Bericht "Soziale Sicherheit / Nutzung sozialer Dienste in der Landwirtschaft". Kostenlos erhältlich beim BLW, Hauptabteilung Direktzahlungen und Strukturen, Mattenhofstr. 5, 3003 Bern, Tel. 031 322 25 38, Fax 031 323 01 19, E-Mail: marion.begert@blw.admin.ch
Als Ergänzung zum Thema "Armut und Landwirtschaft" gibt es eine gleichnamige Diplomarbeit, die 1998 von Monika Baitz, Samar Grandjean und Marliese Rappo an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Bern geschrieben wurde.
Ein Sorgentelefon speziell für Bauern
Ein solches Hilfeangebot ist das "Sorgentelefon für Bäuerinnen und Bauern, für ihre Angehörigen und für Leute vom Land". Die Verflochtenheit der Probleme im landwirtschaftlichen Bereich erfordere eine spezielle Einrichtung dieser Art für die Bauern, meint Ueli Tobler, Präsident des Vereins Sorgentelefon. "Oft stellen der finanzielle oder politische Druck nicht nur die wirtschaftlichen, betrieblichen Aspekte, sondern die Lebensweise der ganzen Familie in Frage. Dadurch, dass wir Anonymität gewährleisten und die Anrufer bei den freiwilligen Helfern gewisse Grundkenntnisse voraussetzen können, wird die Hemmschwelle herabgesetzt."
Stiller Zuhörer und Sprachrohr zugleich
Das Sorgentelefon versteht sich primär als neutraler Zuhörer und versucht in einem zweiten Schritt den Anrufern die spezialisierten Beratungs- und Hilfsangebote zu vermitteln und sie zu ermutigen, diese auch in Anspruch zu nehmen.
Das Sorgentelefon funktioniert auch als "inoffizielles" Sprachrohr der Bauern: Die zentralen wiederkehrenden Probleme werden an jene Stellen weitergeleitet, die sich politisch mit diesen Gebieten befassen. So besuchten die Mitarbeiter des Sorgentelefons Ende August Melchior Ehrler, Direktor des Schweizerischen Bauernverbands, und legten ihm die Sorgen ihrer Anrufer nahe.
Beziehungskonflikte, Überlastung und Resignation
"In den Rückmeldungen der Mitarbeiter fällt auf, dass immer mehr Männer anrufen, denen die Frau davongelaufen ist", sagt LBL-Mitarbeiterin Daniela Clemenz. Sie ist Mitglied im Vorstand des Vereins Sorgentelefon. Dadurch, dass oft die Frauen mit der Buchhaltung und dem ganzen Formular- und Papierkram betraut seien, müssten diese Einblick haben in die Betriebsführung und das stelle traditionelle Rollenverteilungen in Frage. Zudem merkten die Frauen so oft früher als ihre Ehemänner, dass es finanziell nicht mehr aufgeht. Das Gespräch darüber führe häufig zu Konflikten, die auch den privaten Beziehungsbereich belasteten.
Frauen melden sich, laut den Mitarbeitern, vor allem, weil sie vollkommen überlastet seien. "Dort, wo es zum Beispiel mit der Direktvermarktung klappt, ist es oft die Frau, die den ganzen Mehraufwand bewältigt", führt Clemenz aus.
Ueli Tobler, Präsident des Vereins Sorgentelefon empfindet die Resignation, welche in vielen Gesprächen durchdringt als bezeichnend. Die Gründe dafür seien zwar vielfältig, das Resultat sei hingegen überall gleich: Die Bauern fühlten sich überflüssig und kämen sich fast ein wenig unerwünscht vor.
Koordinationstagung
LID. Im Sinne der Koordination und Zusammenarbeit führt die Landwirtschaftliche Beratungszentrale Lindau (LBL) am 14. September eine Informationstagung zum Thema "Soziale Projekte in der Landwirtschaft" durch. Interessierte Kreise sollen ihr Wissen über solche Projekte erweitern, der Erfahrungsaustausch und die Nutzung von Synergien sollen gefördert werden. In Fachreferaten werden verschiedene Modelle im Bereich der Sozialberatung vorgestellt und Kernpunkte wie Finanzierung, Vernetzung und Weiterbildung werden in der Diskussion weiterverfolgt. Hemmende und fördernde Kräfte sollen heraus gearbeitet und entsprechende Massnahmen abgeleitet werden.
Informationen bei der LBL, Kurssekretariat, 8315 Lindau, Tel. 052 354 97 00, Fax 052 354 97 97, E-Mail: lbl@lbl.ch
Koordination ist wichtig
"Wichtig ist es, dass die verschiedenen Angebote im sozialen Bereich nicht versuchen sich zu konkurrenzieren, sondern sich als gegenseitige Ergänzung verstehen", meint Tobler. Es sollte gemeinsam versucht werden, die Angebote zu koordinieren um die Übersicht zu behalten und Synergien nutzen zu können. Auch im Sozialbericht des BLW wird darauf hingewiesen, dass zukünftig die Sozialdienste, landwirtschaftliche Beratungsdienste und die Buchhaltungsstellen verstärkt zusammenarbeiten sollten.
Quelle: Statistik Sorgentelefon |
Das Sorgentelefon 041 820 02 15 ist immer montags von 8 Uhr 15 bis 14 Uhr besetzt. Die Briefkasten-Adresse lautet: Sorgentelefon, Antoniushaus, Mattli, 6443 Morschach. Für weitere Informationen: Daniela Clemenz, LBL, 8315 Lindau, Tel. 052 354 97 61, Fax 052 354 9797, E-Mail: