
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, in den 1970er-Jahren drängten Baumwolle und synthetische Stoffe auf den Markt und die europäische Textilindustrie hatte mit wachsenden Überkapazitäten zu kämpfen. Dies bedeutete den Genickbruch des Flachsanbaus in der Schweiz – der Flachs verschwand von den Schweizer Feldern. Bis 50 Jahre später ein paar innovative Bauern zur Renaissance riefen. Unter ihnen Adrian Brügger aus dem bernischen Willadingen, der 2012 bei einem Anbauversuch den ersten Flachs zur Fasergewinnung aussäte.
«Studienreise» half beim Anbau
Wie die Pflanze nach der Blüte und dem Abreifen genau geerntet werden sollte, wusste er nicht. Nach diversen Konsultationen von YouTube-Filmen entschied er sich dafür, den Flachs mit dem Motormäher zu ernten – mit mässigem Erfolg. Nach diesem ersten Versuch war klar, dass ein Besuch der Hauptanbaugebiete von Flachs in Frankreich, Belgien und den Niederlanden unausweichlich war. Nach einem Jahr «Studium» und der Anschaffung von Zupfmaschine, Wender und Drescher startete er 2014 einen neuen Versuch. Sieben Jahre später sind es schon eine Handvoll Landwirte, die im Emmental auf 7,5 Hektaren wieder Flachs anbauen: Im ersten Jahr produzierten sie 900 Kilogramm Leinengarn, fünf Jahre später waren es bereits fünf Tonnen.

Schwingerhosen aus Schweizer Flachs
In die Zeit des ersten erfolgreichen Anbaus fällt auch die Gründung der SwissFlax: Das Unternehmen vereint Landwirte, Forschung und Entwicklung sowie Führungspersonen mit betriebswirtschaftlichem Knowhow. Es bildet das Bindeglied zwischen den Flachsanbauern und dem Leinenmarkt. «Während die Ernte und die Verarbeitung zum fertigen Stoff eine Herausforderung darstellt, lebt der Schweizer Flachsanbau gleichwohl von der Vision vom Hemd aus einheimischer Herkunft», erklärt Dominik Füglistaller, Geschäftsführer der SwissFlax GmbH.
Und da diese Vision auch bereits Tatsache ist, strebt SwissFlax nach mehr: Unter anderem entstanden 2017 bei der Flachsstrickerei Traxler im thurgauischen Bichelsee nach Generationen wieder die ersten Kleidungsstücke aus Schweizer Leinen und gehören seither fest zum Sortiment. Bei Pfister gibt es weiter Vorhänge aus Schweizer Flachs, die Rigotex AG im Toggenburg macht Küchentücher aus Schweizer Leinen und die Lanz-Anliker AG aus dem bernischen Rohrbach fertigt Taschen und Rucksäcke aus Schweizer Leinenzwilch. «Ein weiteres Ziel muss sein, dass am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Glarus 2025 alle ‹Bösen› mit Schwinghosenstoff aus Schweizer Flachs ins Sägemehl steigen», meint Dominik Füglistaller.
Auch Verarbeitung soll in die Schweiz kommen
Das sei aber noch nicht genug, sagt der SwissFlax-Geschäftsführer. Ein grosser Teil der Weiterverarbeitung wird nämlich noch im Ausland gemacht, da für die Anschaffung einiger spezieller Maschinen die nötige Auslastung fehlt. Das sogenannte Aufschlussverfahren oder Brechen, bei dem die Fasern vom Rest der Pflanze getrennt werden, wird in den Niederlanden durchgeführt. Das Kardieren (Kämmen) und Verspinnen in Polen, bevor der Flachs als Garn wieder in die Schweiz gelangt. Die Wertschöpfungskette spielt sich also in Europa ab, das Ziel sei es aber definitiv, sämtliche Produktionsschritte in die Schweiz zu holen, sagt Dominik Füglistaller: «Mein Traum sind 100 Hektaren Schweizer Flachs.»
«Flachs-Diva»
Dafür braucht es allerdings noch viel mehr Landwirtinnen und Landwirte, die sich für Flachs begeistern können und sich zutrauen die «Diva», wie Adrian Brügger sie nennt, zu zähmen. Denn der Flachsanbau ist anspruchslos und schwierig zugleich: Anfang April wird Flachs maschinell in den frisch zubereiteten Boden gesät. Rund 1’800 Körner kommen auf einen Quadratmeter – das ist ziemlich viel. Beim Weizenanbau braucht es im Vergleich nur rund 200 Körner. Flachs wird so dicht ausgesät, damit die Flachspflanzen sehr fein bleiben.
Flachs ist bei der Pflege allerdings relativ anspruchslos und braucht neben einer Unkrautbekämpfung nur wenig Dünger. Die kritische Phase kommt später, wenn der Flachs im vollen Wachstum ist: Dann kann ein Gewitter oder starker Wind die feinen Pflanzen sehr leicht knicken und so ein ganzes Feld umlegen, was die komplette Ernte gefährden kann.

Mit Wurzel gezupft
Nach rund 50 Sonnenstunden ist der Flachs reif für die Ernte. Wie Adrian Brügger etwas entmutigend feststellen musste, werden die Flachspflanzen aber nicht geschnitten, sondern mit einer speziellen Maschine samt Wurzel gezupft und abgelegt. Was danach folgt, heisst Röste: Die ausgezupften Flachspflanzen trocknen auf dem Feld – dabei wird die Klebsubstanz zwischen Faser und Holzteil abgebaut, damit der Flachs danach gebrochen werden kann. Nach rund drei Wochen Röstung auf dem Feld wird der Flachs dann zu Quaderballen gepresst und reist für die Weiterverarbeitung zu Garn ins Ausland.

Fasern und Nahrungsmittel auf demselben Feld
Flachs kann allerdings nicht nur textil. Flachs ist sehr viel mehr – eine äusserst vielseitige und effiziente Pflanze: Neben den Fasern lässt sich nämlich auch Tiereinstreue herstellen und die Leinensamen können zu Nahrungsmitteln verarbeitet werden. Das Multitalent Flachs eigne sich hervorragend für eine Koppelnutzung, erklärt Adrian Brügger: «Das heisst, wir ernten den nachwachsenden Rohstoff für Textilien und zugleich Leinsamen, von dem die positiven Eigenschaften in der Ernährung längst bekannt sind.»
Auf derselben Fläche werden also Nahrungsmittel und Fasern produziert. Beim Anbau von Faserlein liegt auf einer Hektare laut SwissFlax ein Ertrag von 500 bis 800 Kilogramm Leinsamen drin. Auch für die Ernte der Samen werden aber spezielle Maschinen benötigt, was die Ernte erschwert. Der Erfolg gibt den innovativen Landwirten aus dem Emmental allerdings recht: Sowohl der Schweizer Flachs wie auch die Schweizer Leinsamen stellen sich als trendige und nachgefragte Produkt heraus, die mit viel Swissness auftrumpfen können.