Was im Milchmarkt hinter den Kulissen passiert, zeigt ein Urteil, das das Bundesverwaltungsgericht am 4. März 2010 gefällt hat. Bei dem Verfahren klagte die Produzentenorganisation Ostschweiz des Milchhändlers Walter Arnold gegen das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), weil dieses mehrere so genannte Mehrmengengesuche nicht bewilligt hatte (siehe Kasten). Die PO Ostschweiz ist seit dem Zusammenbruch von Swiss Dairy Food im Jahr 2002 zu einem der grossen Player auf dem Milchmarkt herangewachsen und vermarktete im Milchjahr 2008/2009 gut 152 Millionen Kilogramm Milch. 11,77 Mio Kilogramm davon erhielt sie vom BLW als Mehrmenge bewilligt. Insgesamt aber hatte die PO Ostschweiz Gesuche für eine Mehrmenge von 19,44 Mio. kg gestellt. Vom 29. September 2008 bis zum 27. April 2009 reichte sie sieben Gesuche im Gesamtumfang von 7,67 Mio. kg ein, die vom BLW mit sieben Verfügungen zwischen dem 27. März und dem 20. Mai 2009 alle abgelehnt wurden. Die PO Ostschweiz klagte dagegen beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Beschwerden aber ab und gab dem BLW Recht. Die Frage, ob dessen Ablehnungen der Gesuche gerechtfertigt war, ist deshalb wichtig, weil unbewilligt produzierte und verarbeitete Milchmengen Sanktionen zur Folge haben.
Mehrmengen trotz Überschüssen
Die PO Ostschweiz argumentierte in ihrer Beschwerde, dass ein grosser Teil der Gesuche Folgegesuche seien für Projekte, die das BLW in den früheren Jahren diskussionslos bewilligt habe. Mit der Ablehnung dieser Gesuche habe das BLW überraschend die Praxis geändert. Dabei ging es unter anderem um ein Projekt für den Verkauf von Bio-Raclette nach Deutschland, um den Export von Schnitt- und Magerkäse in die EU, von Bergkäse nach Deutschland oder von Mozzarella nach Korea. Die aufgebauten Projekte hätten nicht mit der auf dem Milchmarkt vorhandenen, vertraglich gebundenen Linienmilch beliefert werden können, weil diese zu teuer gewesen sei, argumentierte die PO Ostschweiz weiter.
Mehrmengen nur bei Bedarf
Bevor die Milchkontingentierung in der Schweiz am 1. Mai 2009 ganz aufgehoben wurde, gab es für die Milchbranche eine dreijährige Übergangsfrist als „Trainingslager”. Während dieser Zeit konnten die Milchproduzenten, die dies wünschten, jeweils auf 1. Mai aus der Kontingentierung aussteigen und sich mit einem Milchlieferrecht in der Höhe des früheren Kontingentes einem der regionalen Milchhändler anschliessen, die gegründet wurden. Diese sind entweder als Produzenten-Organisationen (PO) in der Hand der Milchbauern organisiert oder als Produzenten-Milchverwerter- Organisation (PMO), bei denen sich Milchbauern um einen Verarbeiter scharten. Die PO und PMO ihrerseits konnten während der dreijährigen Übergangsfrist beim Bundesamt für Landwirtschaft so genannte Mehrmengen beantragen. Dabei mussten sie aber aufzeigen können, dass der Bedarf für die zusätzliche Milch auch wirklich vorhanden war, also dass zum Beispiel Milchprodukte im Export abgesetzt werden konnten. Angesichts des anwachsenden Milchüberschusses im Milchjahr 2008/2009 führten die Mehrmengen und die Bewilligunspraxis des BLW zu hitzigen Diskussionen in der Branche.
Das BLW seinerseits hielt fest, dass im Milchjahr 2008/2009 ein starker Absatzrückgang und konstant hohe Milcheinlieferungen zu tiefen Preisen und zu einer hohen Butter- und Milchpulverproduktion geführt hätten. In dieser Situation eines starken Milchüberschusses habe man einer zusätzlichen Mehrmenge nicht zustimmen können. Das sei keine Praxisänderung, sondern im Gegenteil eine marktorientierte Beurteilung der Gesuche. Die Organisationen hätten keinen Anspruch auf unveränderte Fortführung der für ein Jahr bewilligten Mehrmengen, sie würden die Verantwortung für die Kontinuität der Projekte selber tragen. Dies hatte das BLW in einem Rundschreiben an die PO und PMO bereits im Juli 2008 mitgeteilt.
Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Argumentation: Weil eine Bewilligung der beantragten Mehrmengen zulasten der ohnehin überbordenden Inlandproduktion gegangen wäre, seien die Gesuche zu Recht nicht bewilligt worden. Das BLW stellte ferner fest, dass die PO Ostschweiz mit dem Verkauf von Bio-Raclette nach Deutschland nicht auf Kurs war. Sie habe eine bereits im Vorjahr bewilligte Mehrmenge nicht ausgeschöpft, ein weiterer Bedarf für eine Mehrmenge habe deshalb nicht bestanden. Schliesslich habe die PO Ostschweiz zwei Gesuche nur knapp einen Monat vor der endgültigen Abschaffung der Kontingentierung und eines sogar nur drei Tage vorher eingereicht. In dieser Frist habe weder das Gesuch behandelt werden können, noch hätten die beantragten Mehrmengen produziert oder verarbeitet werden können.
Beim Butterbeschluss nicht dabei
Ein besonderes Gewicht erhält in dem Verfahren zwischen PO Ostschweiz und dem BLW die ausserordentliche Marktstützungsmassnahme vom Januar 2009, als der Bund ein letztes Mal 14 Millionen Franken bereitstellte, um den Markt zu stützen. An zwei Sitzungen einigten sich Vertreter des BLW und der wichtigsten Akteure auf dem Milchmarkt darauf, dass der Bund weitere 14 Millionen Franken einschiesst, um Rahmexporte und die Verwertung von Butter zu verbilligen. Im Gegenzug sollten die PO und PMO keine neuen Mehrmengengesuche einreichen und auf noch nicht bewilligte Gesuche verzichten.
Die PO Ostschweiz war an den beiden Sitzungen nicht vertreten, wurde aber vom BLW im Februar über den Beschluss informiert und gebeten, die Gesuche bis zum 20. Februar zurückzuziehen; diese würden sonst abgelehnt. Die PO Ostschweiz antwortete am 25. Februar, sie werde keine Gesuche zurückziehen. Das Bundesverwaltungsgericht hält dazu fest, dass die PO Ostschweiz rechtlich nicht verpflichtet gewesen sei, die Gesuche zurückzuziehen. Bei dem Beschluss habe es sich um ein "Gentlemen's Agreement" beruht, an deren Ausarbeitung die PO Ostschweiz nicht beteiligt gewesen sei. Hingegen müsse berücksichtigt werden, dass die PO Ostschweiz als Marktteilnehmer von der 14-Millionen-Stützung profitiert habe. Ausserdem habe die Herstellung der nicht bewilligten Produkte wie Mozzarella, Magerkäse oder Milchproteinpulver weitere Milchfettmengen als Nebenprodukte, also weitere Butterbestände zur Folge gehabt.
Das Bundesverwaltungsgericht stellt aber auch fest, dass der Entscheid des BLW für die ersten vier strittigen Gesuche zwischen fünf und acht Monate auf sich warten liess. Durch diese späten Entscheide habe die PO Ostschweiz keine Möglichkeit mehr gehabt, weniger Milch zu produzieren und allfälligen Sanktionen zu entgehen.
Unabhängig davon werden nach der Ablehnung der Beschwerden diese Sanktionen nun fällig. Das BLW kann laut Landwirtschaftsgesetz "einen Betrag erheben, der höchstens dem Brutto-Erlös der zu Unrecht in Verkehr gebrachten Produkte entspricht".
Der BVGer-Entscheid ist einsehbar unter www.bvger.ch - Entscheiddatenbank - Suche nach Entscheidnummer B-2625/2009
