Der Beschluss von 1996 ist klar und deutlich: Bis zum Jahr 2015 soll die Zahl der Hungernden halbiert werden, von 800 auf 400 Millionen Menschen. Dazu haben sich am ersten Welternährungsgipfel im November 1996 in Rom 186 Staats- und Regierungschefs verpflichtet (siehe Kasten). Konkret wurde bis jetzt aber zu wenig unternommen. Gemäss Prognosen der UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) aus dem Jahr 2000 kann das Ziel nicht wie vorgesehen im Jahr 2015, sondern erst im Jahr 2030 erreicht werden, wenn alles so weiterläuft wie bisher.
Nun soll der "Welternährungsgipfel: fünf Jahre danach" dafür sorgen, dass es nicht so weiterläuft: In Rom versammeln sich vom 10. bis 13 Juni 5,000 Teilnehmer aus 180 Staaten, um die 1996 eingegangenen Verpflichtungen zu bekräftigen. Vertreten ist auch die Schweiz. Die achtköpfige Delegation mit Vertretern des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW), der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) wird geleitet von Bundesrat Pascal Couchepin. Die NGO sind vertreten durch Biobäuerin Wendy Peter, Nationalrat und Arzt Paul Günter, Klaus Leisinger, Leiter der Novartis-Stiftung für Nachhaltige Entwicklung, und durch Welternährungspreisträger Hans Herren, der am ICIPE in Nairobi zahlbare, alternative Schädlingsbekämpfungsmethoden entwickelt.
Doppelt so viel Geld gefordert
Konkrete Vorschläge liegen auf dem Tisch: Die Welternährungsorganisation hat am 4. Juni ein "globales Programm gegen den Hunger" propagiert. Danach braucht es im Agrarsektor zusätzlich jedes Jahr 24 Milliarden Dollar (37,6 Mrd. Franken), wenn das am Welternährungsgipfel gesteckte Ziel erreicht werden soll. Die Hälfte davon sollen die Entwicklungsländer selber mit öffentlichen Investitionen in die Landwirtschaft und die ländlichen Räume aufbringen. Die andere Hälfte sollen die reichen Industriestaaten finanzieren. Dafür müssten sie die heutige Entwicklungshilfe von acht Milliarden Dollar (12,5 Mrd. Franken) verdoppeln. In den neunziger Jahren haben sie jedoch gemäss FAO die Entwicklungshilfe im Agrarsektor um 30 Prozent gekürzt.
Für die zusätzlichen Ausgaben versucht die FAO die Industriestaaten neben moralischen Appellen mit wirtschaftlichen Argumenten zu gewinnen: Die Halbierung der Zahl der Hungernden bringe wirtschaftliche Wohlfahrtsgewinne von mindestens 120 Milliarden Dollar (188 Mrd. Franken) jährlich. Diese Rendite von 500 Prozent würde in der Wirtschaft jeden zu investieren veranlassen. Das Problem ist, dass die Rendite nicht diejenigen bekommen, die das zusätzliche Geld investieren. Ob die Industrieländer ihr Portemonnaie aufmachen, ist deshalb noch unklar. In der Schweiz sei eine Verdopplung nicht wahrscheinlich, sagte BLW-Vizedirektor Jaques Chavaz gegenüber dem LID. "Der Prozess ist aber eingeleitet, die Hilfe zu verstärken." Entscheidend sei auch die Qualität der Projekte.
Für vollere Teller
LID. Am 13. November 1996 wurde die "Erklärung von Rom zur Welternährungssicherheit" unterzeichnet. Die Staats- und Regierungschefs von 186 Staaten oder deren Vertreter bekräftigten darin das Recht jedes Menschen, frei von Hunger zu sein. Ferner verpflichteten sie sich, rasch Massnahmen zu ergreifen, damit im Jahr 2015 nur noch halb so viele Menschen hungern. Diese Massnahmen sind im Aktionsplan konkreter umschrieben:
- Förderung von demokratischen Regierungen, Gleichberechtigung der Geschlechter und Zusammenhalt der Gesellschaft
- Bekämpfung der Armut und Zugang zu Nahrungsmitteln für alle Menschen
- Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft
- Handelspolitik im Dienst der Ernährungssicherheit, ein faires und marktorientiertes Welthandelssystem
- Nothilfe bei Naturkatastrophen, Krisenprävention
- Investitionen in die ländliche Entwicklung
- Aktionsplan soll auf allen Ebenen der internationalen Zusammenarbeit angewendet werden
Saatgut muss frei vermehrt werden können
Neben den zusätzlichen Mitteln für die Entwicklung der Landwirtschaft geht es in Rom darum, einen so genannten Verhaltenskodex zu initiieren. Im Kodex soll festgeschrieben werden, was Regierungen, Unternehmen und Entwicklungsorganisationen konkret dazu beitragen sollen, dass in Zukunft weniger Menschen hungern. Bis heute fehlt es global betrachtet gar nicht an Nahrungsmitteln, vielen fehlt aber der Zugang zu den notwendigen Ressourcen. Vor allem Nicht-Regierungs-Organisationen machen seit 1996 Vorschläge für diesen Kodex.
Auch hier ist die Sache aber schwierig, denn es sind konkrete wirtschaftliche Interessen im Spiel. "Saatgut ist ein lukrativer Markt", erklärte Marianne Hochuli, Handelsspezialistin bei der entwicklungspolitischen Organisation "Erklärung von Bern", an einer Veranstaltung in Basel. Das Abkommen über handelsrelevante Aspekte der Rechte an Geistigen Eigentum im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO – kurz TRIPS genannt – gefährde nun den Austausch von Saatgut und die Eigenvermehrung. Wenn Kleinbauern einen Teil der Ernte wieder zur Neusaat verwenden – oder allenfalls mit dem Nachbarn tauschen – verdient niemand daran. Wenn Kleinbauern jedoch jedes Jahr neues Saatgut kaufen müssten, dann würden die internationalen Agrarkonzerne mehr verdienen. Genau das gleiche gilt in der Kontroverse, ob mit Gentechnik oder mit Investitionen in ländliche Infrastruktur und nachhaltige Landwirtschaft mehr Menschen satt werden.
Die "Erklärung von Bern" fordert, dass Bäuerinnen und Bauern Zugang zu Land, Wasser und genetischen Ressourcen haben. Die Schweizer Regierung soll sich im Rahmen der WTO für ein Verbot von Patenten auf Leben stark machen, schreibt die Organisation in einer Pressemitteilung zum Welternährungsgipfel. Sie fordert ganz generell eine Handelspolitik, die der Ernährungssicherung dient. Jedes Land soll das Recht auf eine eigenständige Agrarpolitik und Nahrungsversorgung haben. Dieses Recht müsse Priorität vor der Handelsliberalisierung haben, heisst es in der Pressemitteilung weiter. BLW-Vizedirektor Chavaz macht wenig Hoffnung: "Vorschriften für die Handelspolitik sind nicht die Grundidee des Verhaltenskodex." Die Schweizer Delegation werde sich in Rom aber dafür einsetzen, dass sich alle am Kampf gegen den Hunger beteiligten. Ob der Kodex überhaupt initiiert wird, ist aber noch offen. Gewisse Länder begrüssen den Ansatz laut Chavaz nicht.
Nahrung gibt es noch genug
Dabei wird auch von anderen Experten der Welthandel nicht nur positiv beurteilt, so an einer Vorbereitungstagung für den Gipfel in Berlin. Wirtschaftswachstum fülle die Teller der Unterernährten nicht automatisch besser, hiesst es in der Unterlagen zur Tagung. Und viel Armut in einem Land bedeute nicht automatisch viele unterernährte Menschen. Zum Beispiel lebten 70 Prozent der unterernährten Kinder in Ländern mit Nahrungsmittelüberschüssen.
Generell gibt es genügend Rezepte gegen den Hunger. "Wir verfügen über das Wissen und die erforderlichen technischen Möglichkeiten, um die Ernährung spürbar zu verbessern", hiesst es im Programm zur Berliner-Tagung. Aber es mangle an politischen Willen. In Rom sollen deshalb neben einem Verhaltenskodex vor allem Wege gefunden werden, um politischen Willen zu mobilisieren.
Weitere Informationen zur Problematik in "Mit Bio oder Gentechnik gegen den Hunger in der Welt?" im LID-Mediendienst Nr. 2486 vom 12. Oktober 2000