Ostschweizer Äpfel fallen nicht allzu weit vom Stamm. "Bis nach Zürich können wir unsere Sorten verkaufen, allenfalls bis nach Bern," schweift Bruno Hugentoblers Blick nach Westen. "Aber spätestens dort hört für uns – trotz guter Qualitäten – der Schweizer Markt auf." Der Sekretär des Thurgauer Obstverbandes schildert damit eines der Probleme der Apfelproduzenten seines Kantons bei der Vermarktung ihrer Produkte. Und begründet gleichzeitig, weshalb sie gerne auf die andere Seite des Bodensees schielen, wo ähnliche natürliche Anbaubedingungen herrschen, ähnliche Sorten angebaut werden und die Leute die gleiche Sprache sprechen. Durch Zusammenarbeit mit ihren Berufskollegen nördlich des Sees könnten Erfahrungen ausgetauscht, grössere Ver-marktungsstrukturen gebildet und in fernerer Zukunft vielleicht gar durch einen gemeinsamen Marktauftritt zusätzliche Absatzchancen geschaffen werden, so hofft männiglich in der Ostschweizer Obstbranche. Und ennet dem See spielt man mit ähnlichen Gedanken.
Eines der wichtigsten Anbaugebiete Europas
Denn eigentlich ist die Region rund um den Bodensee eines der wichtigsten Obst- und Gemüsebaugebiete Europas. Beim Gemüse ist die Produktion zwar nicht bedarfsdeckend, doch verfügt der Wirtschaftsraum mit der Insel Reichenau im Untersee über das grösste zusammenhängende Gemüsebaugebiet Baden-Württembergs. Und an Obst wächst an den Gestaden des grössten mitteleuropäischen Binnensees mehr, als die ansässige Bevölkerung konsumieren kann. Die Menge im Bodenseeraum produzierter Äpfel zum Beispiel entspricht 30 Prozent der deutschen und drei Prozent der europäischen Gesamtproduktion, weshalb ein beträchtlicher Teil davon auf externen Märkten abgesetzt werden muss.
Die Landwirte der Region haben sich in den letzten Jahren durch die Förderung der Qualität und umweltschonender Anbaumethoden – 90 Prozent der Obstbauern produzieren integriert oder biologisch – auch ein gutes Image und somit günstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vermarktung erarbeitet. Nur: Die Grenze zwischen dem europäischen Binnenmarkt und der Schweiz, die das Produktionsgebiet zweiteilt, behindert einen gemeinsamen Auftritt und damit eine optimale Ausschöpfung ihres Potentials. Und das bekommen die Produzenten beidseits des Sees umso stärker zu spüren, je durchlässiger die Grenzen werden: Durch Globalisierung und schweizerische EU-Annäherung sehen sie sich einer immer schärferen Konkurrenz von aussen ausgesetzt, werden selbst aber durch die Grenze mit ihren zahlreichen administrativen und preislichen Handelshemmnissen in ihrer Wettbewerbskraft behindert.
Dies soll sich mittelfristig ändern. Bereits seit Beginn der 90er Jahre diskutieren Wissenschafter von beiden Seiten des Sees über Nutzen und Möglichkeiten, die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg zu verbessern. Im Rahmen des EU-Förderungsprogramms für die Grenzregionen (Interreg) mündeten diese Diskussionen ab 1993 in ein Forschungsprojekt, dessen Schwerpunkt die grenzüberschreitende Weiterentwicklung und Verbreitung umweltschonender Anbaumethoden unter Einbezug von Vermarktungsfragen war (siehe Kasten).
Gemeinsamer Auftritt brächte sinkende Kosten
Dabei kamen die Forscher unter anderem zu dem Schluss, dass ein gemeinsamer Marktauftritt zu einem besseren Marktüberblick und einer Reduktion der Betriebskosten führen würde – bei sinkenden Preisen die Hauptsorge der Produktion. Zur Zeit stünden einem gemeinsamen Marktauftritt jedoch noch viele Hindernisse im Weg, wie die Projektverantwortlichen an einer Pressekonferenz in der Versuchsanstalt Bavendorf bei Ravensburg (Baden-Württemberg) einräumten: Die Marktteilnehmer würden die Vor- und Nachteile einer verstärkten Kooperation abwägen und dabei den Verlust an Autonomie der Einzelbetriebe oft noch stärker gewichten als die positiven Effekte. "Doch wenn die Grenze sich in Zukunft stärker öffnen sollte und die Preise weiter sinken, dürften Kosten und Nutzen bald einmal anders beurteilt werden," zeigte sich etwa ETH-Professor Peter Rieder überzeugt.
Für die Forscher jedenfalls steht fest: Die Zukunftschancen für den Obst- und Gemüsebau in der Bodenseeregion liegen einerseits in der umweltschonenden und qualitätsorientierten Produktion und andererseits in der Verstärkung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Denn die Entwicklung gehe klar in Richtung grössere Betriebe und zunehmende Technisierung, das heisst zum Beispiel im Gemüsebau mehr und modernere Gewächshäuser, erklärte Professor Hans-Peter Liebig von der Universität Hohenheim. Wenn die Kulturlandschaft trotzdem erhalten bleiben solle, müsse deshalb ein regionales Image entwickelt und mit dem Tourismus abgestimmt werden. "Die Region ist aufgrund der Böden, des Klimas und nicht zuletzt des Trinkwasserspeichers Bodensee eine ideale Lage für den Obst- und Gemüsebau in Europa," meinte Walter Müller, Direktor der Forschaungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau Wädenswil (FAW). "Wir müssen alles tun, um diesen Produktionsraum zu erhalten!"
Obst- und Gemüseprojekt im Interreg-Rahmen
rp. Das Forschungsprojekt "Umweltschonende Anbauverfahren von Gemüse und Obst" wurde im Rahmen des EU-Förderungsprogramms für Grenzregionen (Interreg) seit 1993 in der Interreg-Region "Bodensee-Hochrhein" durchgeführt. Schwerpunkt des Projekts war die grenzübergreifende Weiterentwicklung und Bewertung umweltschonender Anbauverfahren in der Bodenseeregion.
Der Auftrag lag in der Erfassung von Entwicklungsmöglichkeiten für den umweltschonenden Anbau, der von der Integrierten Produktion (IP) ausgeht. Die wesentlichen Ziele waren:
- Verringerung der Umweltbelastung durch Optimierung umweltschonender Anbauverfahren
- Analyse und Bewertung der Nachhaltigkeit der Bewirtschaftungssysteme
- Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der umweltschonend produzierenden Betriebe
- Förderung des grenzübergreifenden Handels
- Aufzeigen von Marktstrategien zur Nutzung der marktnahen Absatzchancen im Bodenseeraum
- Analyse und Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Bodenseeraums in Europa.
Die Arbeiten wurden in die drei Teilprojekte "Gemüse", "Obst" und "Agrarwirtschaft" gegliedert. Die wissenschaftliche Leitung lag bei Prof. Dr. Hans-Peter Liebig (Institut für Obst-, Gemüse- und Weinbau der Universität Hohenheim) und Prof. Dr. Peter Rieder (Institut für Agrarwirtschaft, ETH Zürich).
Finanziert wurde das Projekt mit Gesamtkosten von rund 2,5 Mio DM (2 Mio Franken) zu 36,2 % von der EU, zu 40,9 % durch das Land Baden-Württemberg und zu 22,9 % durch die Schweiz. Ein Nachfolgeprojekt im Rahmen von Interreg III (2000-2002) ist geplant.
Regionales Qualitäts- und Umweltzertifikat?
Konkret schlagen die Forscher in einem ersten Schritt die Schaffung einer Vernetzungsstelle für den grenzüberschreitenden Informationsaustausch vor. Darauf aufbauend könnten beispielsweise eine gebietsumfassende Schädlingskontrolle entwickelt und regionale Qualitätsstandards definiert werden. Mittelfristig schwebt den Projektteilnehmern ein regionales Qualitäts- und Umweltmanagement bis hin zur Zertifizierung vor. "Obst und Gemüse in der Region werden umweltschonend erzeugt," muss die Botschaft an die Konsumentenschaft gemäss Liebig lauten.
Nachholbedarf auf Schweizer Seite
Sollte die Grenze in einigen Jahren dann auch politisch aufgeweicht werden, entstünde in der Region ein Markt mit grosser Kaufkraft, betont Peter Rieder. Allerdings brächte dies gewisse Anpassungsschwierigkeiten auf Schweizer Seite mit sich. Nachholbedarf orten die Forscher vor allem beim hohen Kostenniveau und bei der Information über das Marktgeschehen. Ein zersplittertes Angebot und unausgeglichene Qualität der Produkte sind weitere Defizite. Zu kleine Mengen pro Sorte vermögen heutigen Anforderungen des Gross- und Detailhandels nicht mehr zu genügen, wie Peter Rieder festhielt. Die Anzahl Apfelsorten zu reduzieren ist denn auch eine der Empfehlungen der Forscher an die Branche.
Dass die Ostschweizer Obst- und Gemüseproduzenten im Falle einer vollständigen Öffnung der Grenzen – sprich: bei einem EU-Beitritt der Schweiz – vom Markt gedrängt würden, glaubt Bruno Hugentobler, der auch als Leiter der Fachstelle Obstbau am LBBZ Arenenberg TG tätig ist, aber nicht: "Wir brauchen ein paar Jahre Zeit," meint er, "um den Rückstand aufzuholen." Wird ihnen diese Zeit eingeräumt, werden Thurgauer Äpfel dereinst (vielleicht dann unter dem Namen "Äpfel vom Bodensee") auch in München oder Stuttgart oder – wer weiss – sogar westlich von Bern gekauft.
Die Schweiz und Interreg
rp. "Interreg" heisst das Förderungsprogramm der Europäischen Union (EU) für Grenzgebiete. Bisher wurden zwei Drei-Jahres-Tranchen durchgeführt (Interreg I von 1993 bis 1995, Interreg II von 1996 bis 1998); bei Bedarf kann eine Aufstockung um ein Jahr beantragt werden. Im Rahmen des EU-Reformprojekts Agenda 2000 ist eine dritte Tranche (Interreg III, von 2000 bis 2002) vorgesehen.
Bedingungen für eine finanzielle Unterstützung von Projekten durch die EU sind unter anderem die Bildung von grenzübergreifenden Regionen und die finanzielle Beteiligung durch die örtlichen Behörden. Die Schweiz stellte für Interreg II insgesamt gegen 50 Millionen Franken (Bund und Kantone) zur Verfügung. Beteiligt sind alle Kantone mit Ausnahme der Innerschweiz und Freiburgs. Sie wirken in fünf Interreg-Regionen mit, von denen "Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein" eine ist. Bis Ende 1998 wurden insgesamt 212 Projekte mit einem Bundesanteil von 15 Mio Franken bewilligt; 14 davon sind Projekte für die Land- und Forstwirtschaft.