

An gutem Willen, gekoppelt mit grossem Arbeitseinsatz und viel Geld, fehlte es in den letzten 20 Jahren in der Schweiz nicht, um verwilderte Kastanienhaine wiederherzustellen. Während es in Italien reine Kastanienwälder mit Fruchtnutzung gibt, herrscht in der Schweiz das so genannte silvo-pastorale Nutzungssystem von Kastanienwäldern vor: Die grossen Bäume werden mit genügend Abstand gesetzt und lassen deshalb zusätzlich eine Wiesen- oder Weidenutzung zu. Solche lichte Kastanienwälder werden auch als Kastanienselven bezeichnet.
Teure Wiederherstellung der Selven
Allein in den Bündner Südtälern Bergell, Misox und dem Poschiaviner Tal bei Brusio wurden 122 Hektaren verwilderter Kastanienwälder durch Förster wiederhergestellt. Wie Luca Plozza anlässlich des Kastanienkongresses vom 18./19. Oktober in Soglio GR darlegte, wurden in den Selven Südbündens über 500 Kastanienbäume neu gesetzt, über 6'000 geschnitten und insgesamt fast 3,5 Millionen Franken investiert. Die Pflegearbeiten umfassten auch das Entfernen von Bäumen wie Birken oder Fichten und von Gebüschen sowie die Neuansaat von Wiesen und Weiden. "Somit kostet ein Quadratmeter Kastanienselva im Misox gleichviel wie ein Quadratmeter Autobahn", verglich der Forstingenieur beim Amt für Wald und Naturgefahren GR im Misox halb scherzhaft.
3'000 bis 5'000 Franken pro Hektar
Die Wiederherstellung der Kastanienselven erlaubte es, sie auch wieder als Wiese oder Weide zu nutzen. Seit 1999 gelten sie als landwirtschaftliche Nutzfläche. Landwirte als deren Bewirtschafter erhalten für Kastanienselven Direktzahlungen in Form von Landschaftsqualitätsbeiträgen (LQB) oder ökologischen Ausgleichsflächen, wenn sie Teil eines Vernetzungsprojektes sind. Die Direktzahlungen bewegen sich zwischen 3'000 bis höchstens 5'000 Franken pro Hektare. Für Plozza sind diese hohen Beiträge gerechtfertigt, da die Pflege der Kastanienwälder sehr aufwändig ist. Bleibt der Unterhalt der Selven aus, können schnell wieder Birken und Fichten aufkommen, um in Kürze wieder einen dichten Wald zu bilden.
Es gilt aber nicht nur, die Kastanienwälder offen und licht, sondern sie auch gesund zu halten. Denn zusätzlich zu den alten Krankheiten des Kastanienbaums wie etwa der Tintenkrankheit brachte die Globalisierung neue Krankheiten nach Europa. So wurde der Kastanienrindenkrebs während des zweiten Weltkriegs von den USA nach Europa verschleppt, weil die US-Armee Munitionskisten aus Kastanienholz anfertigte. Die meisten Krankheiten kommen aber aus Asien nach Europa, so auch die Kastaniengallwespe. Sie fand den Weg von Südfrankreich her in die Südschweiz und richtet seither enormen Schaden an.
Biologische Bekämpfung mit Feind des Schädlings
Dieser Kastanienschädling, eine Gallwespe namens Dryocosmus kuriphilus, lebt nur auf der Edelkastanie und ernährt sich ausschliesslich von ihr. Die 2 bis 2,5 mm grossen Gallwespenweibchen legen von Juni bis August bis zu 30 Eier in die neu gebildeten Knospen. Im Spätsommer schlüpfen die winzigen Larven aus und überwintern in den Knospen. Im Frühling des Folgejahrs werden die Larven aktiv und bilden an den befallenen Trieben, Blütenständen und Blättern grosse Gallen. Darin erfolgt die Verpuppung, die neue Wespengeneration fliegt noch im selben Sommer aus. Ein starker Befall führt nach mehrjährigem Auftreten zu einer Verkümmerung und einem Absterben der Bäume; grössere Edelkastanien sterben aber nicht ab. In der Folge kann die Kastanienproduktion um 60 bis 80 Prozent abnehmen, wie dies in der lombardischen Provinz Sondrio der Fall war. Weil die Gallen stark verholzen, ist eine chemische Bekämpfung praktisch unmöglich. Was hingegen zu einer drastischen Befallsreduktion in Sondrio führte, war die biologische Bekämpfung mit dem natürlichen Feind der Gallwespe, einer Schlupfwespe namens Torymus sinensis. Eindrücklicher hätte die Erfolgsstory, die Paolo Culatti vom regionalen Pflanzenschutzdienst in Sondrio am Kastanienkongress erzählte, nicht sein können: Nach fast 200 Freilassungen von Schlupfwespen zwischen 2008 und 2013 mit 100 Männchen und 50 Weibchen pro Freilassungsort, reduzierte sich der Befall um 70 Prozent. Wobei es mit dieser biologischen Bekämpfung nicht möglich ist, den Schädling auszurotten; die Befallszahl kann aber auf ein akzeptables Niveau gesenkt werden.
Schutzfunktion nicht richtig eingeschätzt
Die Kastanien-, insbesondere die Marroniproduktion (siehe Kasten), ist für Italien von grosser wirtschaftlicher Bedeutung - nicht zuletzt als Exportprodukt, etwa in die Schweiz. Allein die Lombardei verfügt über mehr als 80'000 Hektaren Kastanienwälder - die Kastanie ist aber auch in südlicheren Regionen, etwa den "Marche", weit verbreitet und von grosser Bedeutung. Im Kanton Tessin gibt es 20'000 Hektaren Kastanienwälder, etwa gleich viel wie allein in der norditalienischen Provinz Sondrio. Nach dem Auftreten der ersten grossen Schäden durch die Gallwespe stand Italien deshalb unter sehr grossem Zugzwang. Die Behörden erteilten folglich die Bewilligung, die aus China stammende Schlupfwespe zur Bekämpfung der Gallwespe einzusetzen. Als zu riskant befand einen Einsatz von Torymus sinensis hingegen das Bundesamt für Umwelt (Bafu). Für Luca Plozza ist das Nein aus Bern sehr fragwürdig und er ist überzeugt: "Das Bafu hat die Schutzfunktion des Kastanienwaldes nicht richtig eingeschätzt." Denn obwohl in der Zwischenzeit der Nützling von alleine, ungefragt und ohne Bewilligung, über die grüne Grenze aus Italien in die Südschweiz geflogen ist, verstrich wertvolle Zeit, in der man hätte handeln können. Die Folgen des Neins: Zahlreiche Kastanienbäume sind bereits Opfer der Gallwespe geworden und abgestorben. Dass dieses Jahr in der Südschweiz, also im Tessin und im Bündnerland, nur ein Bruchteil der Edelkastanien früherer Jahre geerntet werden konnte, ginge ja noch, findet Paolo Bassetti, Agronom und Landwirt, der in den letzten Jahren Sammelstationen für Kastanien im Tessin eingerichtet hat. "Die finanziellen Schäden und die unzufriedenen Kunden müssen und können wir noch akzeptieren; viel schlimmer ist jedoch der ökologische Schaden, den die Gallwespe angerichtet hat und immer noch anrichtet", sagt Bassetti weiter. "Viele Kastanienbäume sind krank und teilweise Äste oder Baumteile abgestorben: Sie bilden weniger oder kaum Blätter und dadurch weniger Kastanien als Futter für das Wild im Herbst und Winter." Zudem hat sich infolge der Baumverletzungen, verursacht durch die Gallwespe, in letzter Zeit auch der Kastanienkrebs wieder stärker verbreitet, da diese Baumverletzungen seine Ausbreitung begünstigen.
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt: Dass sich nach einigen Jahren mit der vermehrten Verbreitung des Gegenspielers der Gallwespe, der Schlupfwespe, ein für die Kastanienproduzenten annehmbares Gleichgewicht einpendeln wird mit normalen Kastanienernten.
Marroni - Edelkastaniensorte aus der Lombardei
bw. Wie Marco Conedera von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft am Kastanienkongress in Soglio berichtete, erwähnte schon der römische Schriftsteller Plinio der Ältere sieben Kastaniensorten. Heutzutage sind in Europa über 1'000 Sorten der Edelkastanie, castanea sativa, bekannt, davon 1'000 in Italien und über 100 im Tessin. In der Deutschschweiz bezeichnet man alle Edelkastaniensorten fälschlicherweise mit "Marroni", obwohl Marroni nur eine der 1'000 italienischen Kastaniensorten ist. Diese stammt aus der Lombardei, gezüchtet wurde sie speziell für kommerzielle Zwecke. Die Marroni ist sehr krankheitsanfällig und wird im Tessin nicht angebaut. Spricht man in der Deutschschweiz von "Kastanien", meint man üblicherweise die Rosskastanien. Deshalb wird oft der Ausdruck "Edelkastanie" für die essbare Kastanie verwendet.
Kastanienernte 2014
Die Kastanienernte im Tessin wird sich heuer auf rund 1,5 Tonnen belaufen. In einem Normaljahr werden im Bergell zwischen 4 und 6 Tonnen geerntet. Dieses Jahr, wie schon letztes Jahr, fiel die Ernte unterdurchschnittlich aus. Im Rekordjahr 2006 verzeichnete der Kanton Tessin eine Kastanienernte von 60 Tonnen.