Am liebsten habe sie die Arbeit im Stall: Den Rindern Heu füttern, Ziegen melken oder Kälber tränken. Vanessa Wüest sitzt am Küchentisch der Familie Zürcher in Trubschachen BE und erzählt begeistert von ihrem Einsatz. Als Einzige in ihrer Klasse habe sie sich für einen Ferienjob auf einem Bauernhof entschieden. Das kommt nicht von ungefähr. Während eines Jahres hat sie in der 4. Klasse jeweils regelmässig auf einem Hof mitgeholfen. In Kontakt mit der Landwirtschaft kam die 15-Jährige aus dem st. gallischen Jonschwil aber auch, als sie ihre Grosseltern besuchte, die in Kanada eine Farm geführt haben. Die Antwort auf die Frage, was sie später beruflich machen wolle, kommt wie aus der Pistole geschossen: "Ich möchte Tierarztassistentin werden." Denn am liebsten arbeite sie mit Tieren. Zuhause kümmert sie sich um Hasen, Hamster und Fische. Nach mehr als der Hälfte ihres zweiwöchigen Landdienst-Einsatzes bilanziert sie: "Das Arbeiten auf einem Bauernhof macht Spass. Ich würde das sofort wieder tun."
Vanessa ist nicht die Einzige, die schwärmt. Auch das Bauernehepaar Zürcher ist begeistert. "Ich würde sie gleich behalten", meint Barbara Zürcher schmunzelnd. Und Hans Zürcher ergänzt: "Sie ist motiviert und scheut die Arbeit nicht." Das war auch schon anders. Früher hatten sie es teils mit unmotivierten Jugendlichen zu tun, die von der Schule aus Landdienst leisten mussten.Unterkunft, Essen und Sackgeld Vanessa ist eine von rund 2'500 Jugendlichen, die jährlich einen zwei- bis achtwöchigen Landdienst-Einsatz bei einer von knapp 1'000 Bauernfamilien absolvieren. Für diese biete sich die Gelegenheit, den 14- bis 25-Jährigen ein positives Bild der Landwirtschaft zu vermitteln und sie für ihre Anliegen zu sensibilisieren. Für das Mitarbeiten auf dem Bauernhof erhalten die Landdienstler – von denen die Mehrheit aus den Kantonen Zürich, Bern und Aargau kommen – Unterkunft, Verpflegung und ein Taschengeld, das je nach Alter zwischen 12 und 20 Franken pro Tag liegt.
Einblick in die Landwirtschaft
Ein Landdienst-Einsatz ist aber mehr als bloss ein Ferienjob: "Das Arbeiten auf einem Bauernhof stärkt die Beziehung der Jugendlichen zur Natur als Lebensgrundlage", erklärt Barbara Gugerli-Dolder, Dozentin Bildung für nachhaltige Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich und kantonale SchuB-Koordinatorin. So würden sie den Umgang mit Tieren und die Produktion von Lebensmitteln kennen lernen. Landdienst bedeute für die Jugendlichen einen Perspektivenwechsel: Sie müssten sich in eine neue Familie integrieren und körperlich Arbeiten. All dies fördere die Sozialkompetenz, die Fitness sowie die Wertschätzung für eine Form von Arbeit, die die Jugendlichen zuvor meist nicht aus direkter Erfahrung kennen würden. Das Arbeiten mit den Händen verschaffe zudem Befriedigung, weil man die Resultate gleich sehe.
Immer weniger Landdienstler
So sinnvoll ein Landdienst-Einsatz auch ist, die Anzahl Jugendlicher, die einen Ferienjob in der Landwirtschaft absolvieren, nahm in den letzten 30 Jahren kontinuierlich ab (siehe Infografik). Leisteten während der Hochblüte zu Beginn der 1960er bis Ende der 1970er Jahre zwischen 7'000 und 8'000 Jugendliche Landdienst, waren es im letzten Jahr gerade noch 2'456. Die Gründe dafür sind vielfältig: "Das heutige Freizeitangebot ist viel breiter als noch vor zwanzig Jahren", erklärt Jolanda Dietiker, stellvertretende Geschäftsleiterin von Agriviva, wie der Landdienst seit 2010 heisst. Zudem würden Familien heute in der schulfreien Zeit mehr auf Reisen gehen. Während des Kalten Krieges absolvierten zudem viele Jugendliche aus Osteuropa einen Landdienst-Einsatz, sie halfen meistens bei reinen Erntearbeiten mit. "Diese Programme haben wir runtergefahren. Denn wir möchten nur noch Ferienjobs und keine Arbeitskräfte vermitteln", erklärt Dietiker. Zurückgegangen sind die Landdienst-Einsätze auch wegen Änderungen bei den Schulpraktika. Will eine Klasse einen Einsatz auf einem Bauernhof leisten, ist dies nicht mehr automatisch für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch. "Es bringt nichts, Jugendliche zur Arbeit auf einem Bauernhof zu zwingen, wenn diese nicht wollen."
Aus Landdienst wird Agriviva
Landdienst war gestern. Heute nennt sich dieser Agriviva. "Agri" bedeutet Landwirtschaft und "Viva" heisst Leben. Der Grund für den Namenswechsel ist einfach: "Eine Umfrage hat ergeben, dass der Begriff Landdienst bei Jugendlichen kaum bekannt ist. Viele dachten zuerst an Militärdienst", erklärt Dietiker.
Für einen Einsatz auf einem Bauernhof wirbt Agriviva jeweils anfangs Jahr bei den Schulen und Jugendtreffs. Zudem werden in Jugendmagazinen Anzeigen geschaltet.
Vanessa wird, so viel steht fest, ihren Schulkolleginnen und Schulkollegen nach den Ferien Positives über ihre Zeit auf dem Bauernhof erzählen. Und wer weiss, vielleicht sind es dann im nächsten Jahr bereits ein paar Schüler mehr aus ihrer Klasse, die in ihren Ferien Rinder füttern, Ziegen melken oder Kälber tränken.
