2009 wird bei der staatlichen Mengensteuerung im Milchmarkt die Luft draussen sein. Bis dahin öffnet der Bund stets ein wenig die Ventile: Immer auf Anfang des Milchjahres, per 1. Mai, können Milchbauern, die noch nach den Regeln der Kontingentierung produzieren, sich einer Ausstiegsorganisation anschliessen und aussteigen. Erstmals war das diesen Frühling der Fall. Zudem wird ,ass die Milchmenge Jahr für Jahr etwas ausgedehnt. Und zwar indem der Bund so genannte Mehrmengen bewilligt für Ausstiegsorganisationen, die ein entsprechendes Gesuch stellen.
Bewilligt werden Gesuche für Produkte, für die auch ein Markt besteht, angesichts des gesättigten Inlandmarktes wenn möglich im Export. Sinnvoll ist es etwa, wenn mehr Milch gemolken wird für die Produktion von Appenzeller oder Gruyère, der im Ausland gut verkauft werden kann. Mit zusätzlicher Milch Butter zu produzieren wäre hingegen ein Blödsinn: Butter gibt es genug.
Die Milchbauern üben die Liberalisierung.
Bislang mit zweifelhaften Ergebnissen. LID
2009 gut dastehen
Die Übergangsphase bis 2009 ist ein Trainingscamp für die Branche. Bereits einige Monate nach der ersten Öffnung zeigt sich, wie stark die Marktkräfte sind und wie schwierig es für den Verband der Schweizer Milchproduzenten (SMP) ist, irgend etwas zu steuern oder zu koordinieren. Dieser hatte ursprünglich gefordert, angesichts fünf grosser Verarbeiter dürfe es nicht mehr als fünf grosse Milchbauernorganisationen geben.
Doch heute sind es 27 Organisationen, und keine will es sich leisten, 2009 mit geringeren Marktanteilen dazustehen. Deshalb gab es ein richtiges Feuerwerk an Mehrmengengesuchen. Von 51 Gesuchen hat das Bundesamt für Landwirtschaft bis heute 44 bewilligt und 3 abgelehnt, 4 sind noch hängig. Insgesamt sollen im laufenden Milchjahr 45 Millionen Kilogramm Milch über die Kontingentmenge hinaus produziert werden, rund 1,4 Prozent mehr.
Die Menge an sich sei nicht das Problem, findet SMP-Direktor Samuel Lüthi. Die Milch sei derzeit gesucht und voraussichtlich würden viele Bauern ihre Mehrmengen sowieso nicht produzieren können: Es gibt zu wenig Kühe und zu wenig Futter. Das Problem seien vielmehr die möglichen Auswirkungen auf den Milchpreis.
Denn die Mehrmengen lassen bei manchen Milchabnehmern die Lust auf den ganz freien Markt aufsteigen: Die Migros-Molkerei ELSA hat im Mai ihre Milchlieferanten direkt angeschrieben, mit dem Angebot, Mehrmengen zum Preis von 50 Rappen zu kaufen. Weil die ELSA für die geplanten Jogurtexporte vom Bund noch Exportbeiträge von 27 Rappen erhält, würde sie für die Milch effektiv noch 23 Rappen bezahlen: neuseeländisches Niveau.
Dazu kommt, dass die ELSA das Ansinnen fairerweise in der Produzenten-Milchverwerter-Organisation (PMO) ELSA hätte besprechen müssen, in der die Molkerei und ihre Milchproduzenten zusammengeschlossen sind. Weil sie dies nicht tat, und weil manche Bauern auf ihr Angebot einstiegen, gab es einen Aufschrei in den Milchverbänden und in der bäuerlichen Presse: Von "Milchproduzenten im Mengenwahn" war die Rede. Es gehe nicht an, dass einzelne Milchbauern ihre Mehrmengen zu untersetzten Preisen lieferten. Und dass man als Milchproduzent doch bitte den Gesamtmilchmarkt im Auge behalten solle.
SMP-Direktor Lüthi: "Es bringt nichts, über die Bauern zu fluchen." LID
Langfristig planen
ELSA hat inzwischen ihr Angebot nachgebessert. Und trotzdem zeigt sich, was passiert, wenn die Milchbauern Liberalisierung üben: Sie orientieren sich immer mehr am Marktgeschehen und hören immer weniger auf die Verbände. Die Chance, eine Milchmenge auf sicher zu haben, ist für sie wichtiger als die Frage, ob der Milchpreis etwas früher oder etwas später absackt.
Das macht auch SMP-Direktor Lüthi Sorgen. "Aber es bringt nichts, über die Milchbauern zu fluchen", sagt er. Denn sie handeln betriebswirtschaftlich gesehen nicht unvernünftig: Wie für die Ausstiegsorganisationen geht es auch für jeden einzelnen Betrieb darum, 2009 eine möglichst grossen Milchmenge verkaufen zu können. "Aber keiner überlegt, was passiert, wenn all seine Kollegen das Gleiche tun", sagt Lüthi. Möglicherweise betrachtet der eine oder andere Bauer die zusätzliche Milchmenge gar als Geschenk und zusätzliche Verdienstmöglichkeit – und nach dem Motto "Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul" spielt der Milchpreis dann keine so grosse Rolle.
Für Benedikt Felder, Geschäftsführer der Produzentenorganisation der Zentralschweizer Milchproduzenten (ZMP), ist es auch eine Frage der Weitsicht: "Produzenten, die langfristig im Geschäft bleiben wollen, planen für die nächsten fünf oder zehn Jahre. Da spielt der kurzfristige Milchpreis eine weniger grosse Rolle als für Betriebe, die bald aufhören." Andererseits sei aber jeder Wertschöpfungsverlust für die Milchbauern zu bedauern und auch nicht mehr hereinzuholen.
Migros-Molkerei ist fein raus
wy. Im September und Oktober werden die Milchbauern und die Verarbeiter über den Milchpreis verhandeln. Der Grund dafür ist der Abbau von verschiedenen Marktstützungen des Bundes per Anfang 2007. So wird die Verkäsungszulage von heute 18 auf 15 Rappen pro Kilogramm reduziert. Die Siloverzichtszulage für Käsereimilch sinkt von vier auf drei Rappen. Daneben fallen Stützungen für die Butter- und Milchpulverproduktion weg. Insgesamt werden 120 Millionen Franken in der Wertschöpfungskette fehlen. Pro Kilogramm Milch sind das vier Rappen, die entweder beim Konsument, beim Handel, bei den Verarbeitern oder bei den Milchbauern geholt werden müssen.
Allerdings trifft es diejenigen Verarbeiter stärker, die Butter oder Milchpulver produzieren, etwa Cremo, Hochdorf oder auch die Mittelland-Molkerei von Emmi. Laut Marktkennern schlägt der Stützungsabbau dort mit 5 bis 6 Rappen zu Buche. Fein raus ist die Migros-Molkerei ELSA, die vor allem wertschöpfungsstarke Molkereiprodukte herstellt.
Beim Verband der Schweizer Milchproduzenten (SMP) ist der Wunsch nach Segmentierung da, das heisst, der Milchpreis sollte nur in jenen Segmenten gesenkt werden, wo auch Stützungen abgebaut werden. Doch Milch ist Milch, und deshalb lässt sich dies nur sehr bedingt verwirklichen. ELSA wird für ihre Milch nicht wesentlich mehr bezahlen wollen als Cremo. Wenn sie aber einen ähnlich tiefen Milchpreis hat wie Cremo, aber keine zusätzlichen Kosten, bleibt der ELSA Geld übrig – Geld, mit dem sie zum Beispiel die M-Budget-Trinkmilch oder den Rahm verbilligen könnte.
Coop würde darauf reagieren und seinerseits Ausschreibungen machen. Mit der Folge, dass auch die anderen Milchverarbeiter auf ein tieferes Preisniveau gehen müssten und dort wieder ein Preisdruck auf die Milchbauern entstünde. Damit würde sich das gleiche Spiel wiederholen, das sich im Frühling 2005 im Bereich der Trinkmilch abspielte und das mitschuld am Ende der Aargauer Zentralmolkerei war.
Zentralschweizer lassen die Muskeln spielen
In Felders Verbandsgebiet sind über 90 Prozent der Milchbauern bereits mit der PO ZMP ausgestiegen. Probleme mit Bauern, die mit der Menge nach oben ausscheren wollen oder mit dem Preis nach unten, hat er keine. Die PO hat ihre Mitglieder aufgefordert, Gebote für Milchmengen zu machen. Rund ein Fünftel davon hat Mehrmengen angeboten, sie wollten im Schnitt zehn bis 15 Prozent mehr liefern.
So viel werde es nicht sein, erklärt Felder. Im Schnitt würden die Mehrmengen rund sieben bis acht Prozent betragen. Welche Menge genau und zu welchem Preis die PO letztlich an den Hauptabnehmer Emmi verkaufen wird, ist noch unklar. "Wir haben eine bestimmte Preisvorstellung", meint Felder selbstbewusst. "Wir können beim Preis nicht beliebig tauchen." Zumal die PO die Milch bei den Bauern schon eingekauft habe. Sobald der Deal mit Emmi besiegelt sei, werde man auch ein Mehrmengengesuch beim BLW einreichen. Denn dieses hat die PO ZMP im Gegensatz zu den meisten Organisationen noch gar nicht eingereicht. Die schiere Grösse erlaubt es ihr, abzuwarten.
Für die Mehrmenge wird die PO ZMP den Milchbauern 12 Rappen weniger bezahlen als für die angestammte Milch. "Emmi wird mit den Mehrmengen Käseprojekte im Ausland aufbauen", sagt Felder. Weil das nachhaltig sei und auch den Milchbauern zugute komme, sei man bereit, eine entsprechende Preisreduktion hinzunehmen. So soll etwa der Raclette-Export nach Frankreich aufgebaut werden.
Emmi-Deals noch offen
Noch offen sind auch die anderen Deals mit Emmi, etwa bei den beiden PMO namens Bemo (Berner Mittelland) und Zenoos (Zentral- und Ostschweiz). Reto Hübscher, Emmi-Mitarbeiter und Geschäftsführer der beiden Organisationen, erklärt, Emmi habe ursprünglich ihren PMO zwei Prozent Mehrmenge zugeteilt. Noch sei man aber am Verhandeln, in den nächsten zwei Wochen werde man aber wohl zum Abschluss kommen. Über den Preis für Mehrmengen will Hübscher keine Auskunft geben, aus Branchenkreisen hört man aber, dass der Abzug mit 15 Rappen noch grösser ist als bei der PO ZMP.
Besser stehen zumindest auf den ersten Blick die Milchbauern da, die an den Westschweizer Verarbeiter Cremo liefern. Cremo bietet für die Mehrmengen gleich viel wie für die Stammmilch, rund 68 Rappen, wie der Milchbauer Christian von Känel aus Lenk BE sagt. Er ist Präsident der Produzentenorganisation Lobag. "Cremo dehnt die Produktion von bereits vorhandenen Produkten aus und erhält dafür auch die gleichen Beiträge vom Bund. Deshalb bezahlt sie auch den gleichen Milchpreis."
Die Mehrmenge, für die die PO Lobag ein Gesuch eingereicht hat, wird anders als bei der ZMP prozentual auf die Milchbauern verteilt. Das Reglement müsse man wohl noch ändern, sagt von Känel, um denjenigen entgegenzukommen, die noch mehr liefern möchten.
Schlechtes Omen für die Verhandlungen?
Unterpreisige Angebote durch die Milchbauern seien ein schlechtes Signal für die kommenden Milchpreisverhandlungen, liessen mehrere Milchverbände in Communiqués verlauten (siehe Kasten). Felder und von Känel wollen das nicht dramatisieren. "Man kann schlechte Signale auch herbeireden", sagt Felder. Entscheidend für die Verhandlungen sei der Abbau der Stützungen durch den Bund beim Käse und bei Butter und Milchpulver. Dieser wird zwar bei den Molkereien, die am meisten betroffen sind, durch Gelder der SMP abgefedert. Trotzdem ist klar: Die generelle Tendenz beim Milchpreis ist sinkend – und die Marktkräfte sind stark.
siehe auch: "Mehr melken nützt dem Einzelnen - kann allen zusammen aber schaden" im Mediendienst Nr. 2764 vom 12. April 2006 und "Der Milch-Poker ist in vollem Gang", im Mediendienst Nr. 2760 vom 16. März 2006