Der Materialwert eines Blaukehlchens – das Skelett inklusive Mineralien wie Phosphor, Kalzium und Fluor sowie Fleisch, Blut und Federn – liegt bei gut zwei Franken. Doch die Leistungen des Blaukehlchens als Schädlingsbekämpfer, Verbreiter von Samen, Bio-Indikator für Umweltbelastungen oder als Freudenspender fürs menschliche Gemüt sind ungefähr 100 Mal mehr wert. Diese Berechnung des vor drei Jahren verstorbenen deutschen Öko-Vordenkers Frederic Vester zeigt, worum es beim Thema Biodiversität unter anderem geht: Um etwas, das für uns Menschen wichtig ist, letztlich aber nur schwer in Zahlen gefasst werden kann. Und darum, was fehlt, wenn das beispielsweise Blaukehlchen verschwindet.
Biodiversität ist mehr als die Rettung von gefährdeten Singvögeln. Es bedeutet zum Beispiel auch: Eine Vielzahl von Kartoffelsorten, damit ein produktiver Kartoffelanbau auch unter geänderten Bedingungen, mit neuen Krankheiten, neuen Anbautechniken oder neuen klimatischen Bedingungen weiterhin möglich ist. Oder eine genetische Vielfalt bei Muni und Milchkühen, damit auch in Zukunft leistungsfähige und langlebige Schweizer Kühe viel Schweizer Milch produzieren. Die Ausstellung "Natürlich vernetzt" im Naturhistorischen Museum Bern zeigt an einer Fülle von Beispielen, was Biodiversität alles beinhaltet (siehe Kasten).
Kritik am Bundesrat
Naturschutzorganisationen machen immer wieder auf das Thema Biodiversität aufmerksam. So auch der Schweizerische Vogelschutz (SVS), der am 20. April die Kampagne "Biodiversität – Vielfalt ist Reichtum" startete. "Was bisher getan wird, reicht leider bei weitem noch nicht, um die Biodiversität unseres Landes zu sichern", sagte Ruedi Aeschbacher, SVS-Präsident und EVP-Nationalrat, an der Medienkonferenz in Bern. Die Schweiz habe zwar 1994 die UNO-Biodiversitäts-Konvention ratifiziert, die 1992 in Rio de Janeiro unterzeichnet wurde und habe sich verpflichtet, eine entsprechende Strategie zu definieren und umzusetzen. Ein verbindliches Ziel ist etwa, bis 2010 den Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen. Und trotzdem blocke der Bundesrat ab, er tue gar nichts und lehne alle parlamentarischen Vorstösse in diese Richtung ab.
Das Ausmass ist höchst unklar
Der SVS will deshalb mit der neuesten Kampagne Druck auf Bundesrat und Parlament machen. Er will auf die "Biodiversitätskrise" aufmerksam machen, die es seiner Meinung nach gibt, die aber von der Bevölkerung zu wenig wahrgenommen werde.
Doch es gibt auch andere Stimmen. Patrick Moore, der ehemalige Direktor von Greenpeace International, der inzwischen mit der Umweltorganisation auf Kriegsfuss steht, bezeichnet das "massenhafte Artensterben", das weltweit beklagt werde, in der deutschen Wirtschaftszeitschrift "Brand Eins" als Mythos. Es werde immer wieder behauptet, dass pro Jahr 50’000 Tier- und Pflanzenarten verschwänden. Das sei eine Hypothese, die anhand von Computermodellen aufgestellt worden sei, niemand kenne diese Arten. Tatsächlich ist global gesehen höchst unklar, wie stark die Biodiversität gefährdet ist. Forscher gehen davon aus, dass 80 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten noch nicht einmal beschrieben sind.
Natürliche Vielfalt
wy. Biodiversität heisst "Vielfalt des Lebens". Der Begriff bezieht sich auf drei Ebenen.
Vielfalt der Gene: Die Individuen der gleichen Art im gleichen Gebiet bilden zusammen eine Population. Wenn sich die Umwelt verändert, überleben nur diejenigen Varianten, die mit den neuen Lebensbedingungen zurechtkommen. Die genetische Vielfalt ist deshalb die "Versicherung" für den Fortbestand der Population.
Vielfalt der Arten: Ist von Auge am leichtesten erkennbar. In einer Blumenwiese leben mehr Pflanzen- und Tierarten als in einem Kleefeld.
Vielfalt der Lebensräume: In gleichförmigen Landschaften findet sich über grosse Flächen der gleiche Lebensraum für die immer gleichen Arten. Vielfältige Landschaften wie die Alpentäler bieten auch eine grosse Zahl verschiedener Lebensräume.
Quelle: Broschüre "Natürlich vernetzt"
Nutzen des Ökoausgleiches bisher zu gering
Ungeachtet der Debatte darüber, wie gravierend die Situation wirklich ist: Die Erhaltung der Biodiversität ist auch ein Ziel der Agrarreform, die seit Anfang der Neunzigerjahre umgesetzt wird. Das wichtigste Instrument dazu sind die ökologischen Ausgleichsflächen, die auf jedem Landwirtschaftsbetrieb mindestens sieben Prozent der Gesamtfläche ausmachen müssen. Das Fazit nach zwölf Jahren Ökoausgleich ist nicht berauschend, wie die Forschungsanstalt Agroscope FAL in ihren Evaluationsberichten zugibt. Insgesamt werde durch den ökologischen Ausgleich zwar ein "messbarer Nutzen" für die Biodiversität erzielt. Gleichzeitig sei klar, dass "das Ziel, mit dem ökologischen Ausgleich den Rückgang der gefährdeten Arten zu stoppen und ihre Wiederausbreitung zu ermöglichen, nicht erreicht wird." Ein Grund dafür ist, dass die angestrebte Fläche von 65’000 Hektaren qualitativ wertvoller ökologischer Ausgleichsfläche im Talgebiet bei weitem nicht erreicht wurde. Die FAL geht davon aus, dass heute nur rund ein Drittel der Ökoausgleichsflächen qualitativ wertvoll ist.
Die Hoffnungen ruhen auf der so genannten Öko-Qualitätsverordnung, die seit fünf Jahren in Kraft ist. Sie fördert mit gezielten Anreizen, was besonders wichtig ist: ökologisch wertvolle und vor allem vernetzte Ökoflächen, Hecken, Hochstammbäume. Um den Erfolg dieser Massnahmen bewerten zu können, ist es noch zu früh.
Zum Beispiel:
Vielfalt im Rebberg
wy. Die Ausstellung "Natürlich vernetzt" im Naturhistorischen Museum Bern zeigt auf, was Biodiversität ist und warum sie wichtig ist. Die Rebberge zum Beispiel boten ursprünglich einer Vielzahl von Pflanzen und Tieren einen Lebensraum. Durch die Intensivierung des Rebbaus werden Tierarten wie die Smaragdeidechse, die Weinhähnchen, die Weinbergschnecke oder das Glühwürmchen immer mehr verdrängt.
Die Ausstellung ist noch bis zum 1. Oktober geöffnet.
www.biodiversitaet.ch
Quadratur des Kreises
Gleichzeitig ist klar, dass mehr Biodiversität in Zeiten der Liberalisierung und der sich öffnenden Agrarmärkte einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Was gut ist für die Natur, ist häufig schlecht fürs bäuerliche Portemonnaie. Angesichts des Druckes, der mit WTO und der Marktöffnung gegenüber der EU auf die Bauern zu kommt, scheinen es da die Feldlerchen, die Feldhasen oder die Rebhühner schwer zu haben.
Letztlich liegt es an den Konsumenten und Stimmbürgern, zu entscheiden, wie viel ihnen Biodiversität wert ist und wie wichtig billige Nahrungsmittel sind. Darauf weist auch die Ausstellung in Bern hin: "Die Intensivierung der Landwirtschaft ist bei uns eine der wichtigsten Ursachen für den rapiden Schwund an naturnahen Lebensräumen. Man sollte sich jedoch hüten, die Schuld einseitig den Bauern zuzuschieben: Unsere Ernährungsgewohnheiten sind es, die zur Intensivierung in der Landwirtschaft geführt haben."
www.biodiversity.ch; www.birdlife.ch; www.reckenholz.ch
Siehe auch: "Das Kreuz der Bauern mit der Biodiversität" im LID-Mediendienst Nr 2754 vom 2 Februar 2006, "Artenvielfalt im Acker: Wunsch und Widerspruch zugleich" im LID-Mediendienst Nr. 2683 vom 9. September 2004, "Artenvielfalt müsste zum Verkaufsargument werden" und "Gehen der Schweiz die Milchkühe aus?" im LID-Mediendienst Nr. 2635 vom 25. September 2003, "Freier Welthandel untergräbt die Biodiversität" im LID-Mediendienst Nr. 2570 vom 13. Juni 2002 und "Der Bund bezahlt für mehr Leben in den Wiesen" im LID-Mediendienst Nr. 2507 vom 15. März 2001