Noch nie wurde in der Schweiz so viel Milch produziert wie in den letzten Monaten. Und noch nie gab es so viele Kühe. Ende März wurden schweizweit 722'000 Kühe registriert, 609'000 davon sind Milchkühe. Viele Milchbauern melken noch Tiere, die ihren Zenith überschritten haben und die unter anderen Umständen schon längst auf der Schlachtbank gelandet wären.
Die Umstände aber sind eben so, dass in zwei Wochen die staatliche Kontingentierung im Milchmarkt aufgehoben wird. Jeder Milchbauer möchte sich mit einer möglichst grossen Milchmenge eine möglichst gute Position für den liberalisierten Milchmarkt verschaffen.
Es braucht weniger Milch
Klar ist aber auch, dass dieser Milchüberfluss irgendwann ein Ende haben muss. Der Milchpreis sinkt seit November 2008, und neben den Milchbauern, die auf Teufel komm raus melken, gibt es auch immer mehr, die ihre Kuhbestände langsam abbauen. Das zeigen die Zahlen der Kuhschlachtungen der letzten Monate. Im Februar 2009 wurden 12'600 Kühe geschlachtet, fast ein Fünftel mehr als im Februar 2008, im Januar waren es 15'700, knapp 12 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.
Dazu kommt, dass der Milchmarkt jetzt mit radikalen Massnahmen bereinigt werden soll: Die Schweizer Milchproduzenten und die Verarbeiter haben sich darauf geeinigt, dass zwischen dem 1. April und dem 30. Juni aus fünf Prozent der eingelieferten Milchmenge Vollmilchpulver für den Export produziert werden soll. Die Milchbauern werden für diese Milch gerade noch 23 Rappen pro Kilogramm erhalten, einen Preis, der die Produktionskosten nicht mehr deckt. Einige grosse Milchhandelsorganisationen haben ferner beschlossen, auf Anfang Mai keine Mehrmengen über die vertraglichen Basismengen hinaus mehr zu verteilen.
Es braucht weniger Kühe
Möglicherweise kommt deshalb nach der Milchkrise die Fleischkrise. Wenn die Milchbauern im grossen Stil ihre überschüssigen Kühe ausmerzen, ergibt sich bei den Schlachtkühen ein Überangebot, das zu sinkenden Preisen führt und das sich auch auf den restlichen Rindfleischmarkt auswirkt. Der Mechanismus, der vor knapp zwei Jahren angesichts steigender Milchpreise zu Rekordpreisen bei den Milchkühen führte, könnte nun genau umgekehrt wirken.
Der Landwirt und SVP-Nationalrat Andreas Aebi sieht deshalb schwarz. Für ihn ist klar, dass die überzählig werdenden Kühe die Schlachtvieh- und Nutzviehmärkte stark belasten werden. "Möglicherweise sind die Preise schon bald so tief, dass wieder eine Bundesintervention nach Artikel 13 nötig ist", sagt er. Erst im Februar sprang der Bund im Rahmen dieses "Notartikels" im Landwirtschaftsgesetz mit 14 Millionen Franken für die Stützung des Milchmarktes ein.
"Wenn ein Milchbauer betriebswirtschaftlich denkt, dann produziert er fünf Prozent weniger und lässt eine von zwanzig Kühen schlachten", sagt Christoph Grosjean-Sommer, Sprecher der Schweizer Milchproduzenten (SMP). Es sei aber auch schwierig zu prognostizieren, ob die Milchbauern so klar und rasch auf die Signale des Marktes reagierten. Dies umso mehr, als sie den massiven Preisrückgang verspätet im Portemonnaie spüren: Die Milchgeldabrechnung mit der tieferen Auszahlung vom April erhalten die Milchbauern erst Mitte Juni. Zudem würden vielleicht im Sommer etwas mehr Kühe auf die Alp geführt, sagt Grosjean-Sommer. Alpkäse gebe es tendenziell zu wenig.
Derzeit ist der Markt für Schlachtkühe noch im Gleichgewicht, wie Heiri Bucher, der Direktor der Branchenorganisation Proviande, erklärt. "Verarbeitungsfleisch von Schlachtkühen ist derzeit gesucht, es werden viele Würste für die Grillsaison produziert.“ Die Zahl der Schlachtungen sei zwar verglichen mit dem Vorjahr viel höher, damals seien aber unterdurchschnittlich viele Kühe geschlachtet worden, unter anderem wegen dem hohen Milchpreis. ZudemA könnten die Importe von Schlachtkuhhälften noch weiter reduziert werden. Bucher glaubt auch, dass kein Problem entstehen sollte, wenn nur die "Mehrmengenkühe" geschlachtet werden, die Tiere also, die unmittelbar zu viel sind. "Wenn ein allfälliger Bestandesabbau für fünf Prozent der Milchmenge über mehrere Monate verteilt erfolgt, sollte das Inlandangebot bei den Schlachtkühen die Nachfrage nicht übersteigen", sagt Bucher. "Wenn noch mehr Kühe geschlachtet werden und die Tiere innert einer kurzen Periode anfallen, dann wird der Preis entsprechend sinken."
Besorgte Rindermäster
Von einem Überangebot bei den Schlachtkühen wären auch die Rindermäster betroffen. Wenn die Milchproduktion weniger attraktiv werde, dann würden nicht nur mehr Kühe geschlachtet, sondern auch zwei- bis dreijährige Rinder, sagt Conrad Schär, Präsident des Rindermästerverbandes Swiss Beef. "Deren Fleisch verdrängt dann das Fleisch von Qualitätsbankvieh." Zusätzliche Konkurrenz entsteht den Rindermästern aber auch, wenn Bauern von der Milchproduktion auf Mutterkuhhaltung umstellen und in die Rindfleischproduktion einsteigen.
Daneben gibt es aber für die Milchbauern eine Möglichkeit, weniger Milch abzuliefern und den Kuhbestand beizubehalten: Indem sie die Milch an die Kälber verfüttern und Kälber selber ausmästen. Auch dies erfreut die Rindermäster nicht, wie Schär sagt: "So werden die Tränkekälber knapper und teurer, für die Mäster steigen somit die Kosten. Am besten wäre für uns, wenn die Milchbauern so viel melken würden wie möglich", meint Schär. Genau dies haben die Milchbauern in den letzten Monaten getan – mit katastrophalen Folgen.
Siehe auch: "Tanz um die goldenen Milchkühe" im LID-Mediendienst Nr. 2834 vom 31. August 2007.
