
Von Marjolein van Woerkom
Der Taxifahrer navigiert durch die engen Strassen Japans. Eng aufeinander gepackte Häuserkomplexe soweit das Auge reicht. Menschen drängen sich auf Fahrrädern vorbei. Es ist kaum zu glauben, dass eine Milch-Farm hier Platz findet. Plötzlich stoppt das Taxi an einem der wenigen freien Plätze zwischen den Häusern. An der Auffahrt steht ein Schild in Form einer Kuh. Unser Ziel ist erreicht. Eine Frau auf einem Fahrrad mit zwei Kindern kommt auf uns zu. Weiter hinten auf dem Weg wacht eine Mutter über ihr Kind, das Kälber beobachtet. „Viele Menschen besuchen unseren Bauernhof”, wird uns der Milchbauer Masanori Isonuma (64) später erzählen. „Wir verschliessen uns gegenüber der Öffentlichkeit nicht. Das ist unsere Stärke”.
Inmitten von 13,5 Millionen Menschen
Isonumas Bauernhof liegt in der Mitte der Provinz Tokio, umgeben von 13,5 Millionen Menschen. Es ist das am dichtesten besiedelte Gebiet Japans. Der Bauer ist einer der letzten 14, die hier noch übrig sind. Das versucht er zu seinem Vorteil zu nutzen. „Heutzutage sind viele Leute an lokalem Essen und lokalen Höfen interessiert. Sie wollen zur Natur zurückkehren und die Verbindung zu Tieren wiederherstellen. Diesen Prozess möchten wir unterstützen. Wir wollen Schüler und Familien über die Landwirtschaft aufklären. Wir führen Leute auf dem Hof herum und produzieren unsere eigene Milch, Eiscreme und Jogurt.” Die Produkte werden vor Ort und in einem Laden in der Tokioter Innenstadt verkauft.
Es ist jedoch nicht einfach, Bauer in Tokio zu sein. Die Regierung arbeite gegen ihn, meint Isonuma. „In der Vision der Beamten von einer idealen Stadt voller Beton und ein paar grünen Flecken hat ein Milchbetrieb keinen Platz. Der Konsument hingegen mag den Hof. Er ist es, der mich rettet.”
Als Bodenbelag benutzt Isonuma im Kuhstall Kaffeesatz. Da er weder Stroh, noch Sägemehl noch ein anderes Bodenmaterial verwendet, riecht es nicht nach Mist auf seinem Hof, sondern nach Kaffee. So kann er seine Nachbarn und Besucher zufrieden stellen. „Das ist nicht günstig”, sagt er. „Der Kaffee kostet mich rund 200‘000 Yen pro Monat (Anm.: ca. 1‘916 Franken). Wenn ich ihn aber mit Mist mische, kann ich ihn als Dünger für 780 Yen pro Kilo (7,50 Fr.) verkaufen. Dadurch kann ich meine Besucher glücklich machen und selber ein bisschen dazu verdienen. Um den Hof am Leben zu erhalten, muss ich mehr tun, als Kühe zu halten. Der Konsument ist meine „Lizenz zum Produzieren”.

Wachstum
Als sein Vater vor 64 Jahren den Bauernhof aufbaute, war der japanische Milch-Sektor komplett anders. Nach dem 2. Weltkrieg litt das Land an Nahrungsknappheit. Bauern waren sehr willkommen, insbesondere Milchbauern. Die Nachfrage nach Protein war gross. Obwohl Milch vor dem Krieg keine wichtige Rolle in der japanischen Ernährung gespielt hatte, pries die Regierung sie nun als günstig und nahrhaft an.
Viele Bauern, die ursprünglich Gemüse und Reis angebaut hatten, begannen Kühe zu kaufen. Sie entdeckten, dass Milch sie mit einem festen Einkommen versorgen konnte. Gemüse und Reis waren aufgrund des Wetters und der klimatischen Bedingungen äusserst unsichere Anlagen. Milch hingegen sorgte jeden Monat für Einkommen. Mit durchschnittlich zwei bis drei Kühen pro Bauernhof waren die Milchbetriebe relativ klein. Trotzdem war dies der Startschuss für einen immer grösser werdenden Milchmarkt.
Westlicher Einfluss veränderte den Markt
Auch der westliche Einfluss spielte eine nicht zu verkennende Rolle. Nach 1955 wurde Japan für sein ökonomisches Wachstum bekannt. Westliche Unternehmen flogen auf die asiatische Insel, um ihre Produkte zu bewerben und beeinflussten dadurch den japanischen Lebensmittelmarkt. Die Nachfrage nach europäischem und amerikanischem Essen, wie Milch, Butter, Käse, Fleisch und Eier, stieg drastisch an. Europäische Restaurants und amerikanische Hamburger wurden ab den 1970ern ein gewöhnlicher Anblick im täglichen Leben Japans.
Zusätzlich führten die japanischen Behörden in den 1980ern Schulmilch in allen Primarschulen Japans ein. Dadurch stieg der Milchkonsum weiter. 1965 belief sich er sich auf 38 Kilo pro Kopf. 2010 lag er bereits bei 86 Kilo.
Staatlich ernanntes Milchgebiet
Um diesen Trend zu unterstützen, erklärte die Regierung die verlassene Halbinsel Hokkaido zum Milchgebiet. Grosse Milchbetriebe wurden errichtet. Damit die Wirtschaft in ländlichen Gebieten auf dem Festland dennoch in Gang blieb, beschloss die Regierung den Milch-Sektor zu subventionieren. Das Gentlemen‘s Agreement war geboren und lebt bis heute weiter (siehe Textbox).
Strukturwandel auch in Japan: von 418‘000 auf 20‘000
Nach all dem Wachstum folgte jedoch die Kehrseite. Aufgrund des ganzen ökonomischen Aufstiegs zogen viele junge Leute in die Stadt. Ihre Eltern liessen sie alleine, ohne Nachfolger auf ihren Höfen. Verdichten und vergrössern stand auf dem Programm. 1963 gab es in Japan 418‘000 Milchbetriebe. 1975 reduzierte sich diese Zahl auf 160‘000, 2012 gab‘s noch 20‘000. Der Tierbestand vergrösserte sich dennoch kontinuierlich. Heutzutage zählt der durchschnittliche profesionelle japanische Bauer 72 Milchkühe auf seiner Farm und produziert jährlich mehr als 8‘000 Kilo Milch pro Kuh. Mit den europäischen Standards kann mitgehalten werden.
Isonumas Produktion beläuft sich täglich auf rund 20 Liter pro Kuh. Er hat 45 Milchkühe. Die meisten sind Holstein-Friesian, auch Jersey und Wagyu-Kühe stehen in seinem Stall. 99 Prozent der japanischen Milchfarmen besitzen Holstein-Friesian, die zweitbeliebteste Rasse ist Jersey. Isonuma verkauft die weiblichen Kälber zur Zucht und die männlichen für die Fleischproduktion.
Milch-Facts Japan
Kühe: 1,2 Millionen
Milchbetriebe: 20‘000
Produktion: 8 Millionen Tonnen pro Jahr. 54 Prozent wird zu pasteurisierter Milch, 46 Prozent hauptsächlich zu Käse, Butter, entrahmtem Milchpulver und Eiscreme verarbeitet.
Verarbeiter: 655
Preis im Supermarkt: 2 Franken pro Liter
Nicht kostendeckender Produzentenpreis
Trotzdem kann der Stadtbauer kaum von seinem Betrieb leben. Die Milchfabrik zahlt ihm umgerechnet 97 Rappen pro Liter. Die Produktion eines Liters Milch kostet ihn jedoch über 1,40 Franken. Die Kosten sind hoch. Die Hälfte davon entfällt auf das Futter. „Der japanische Milch-Sektor ist abhängig vom Import von Tierfutter. Wir haben keine grossen Weideländer, auf denen wir unsere Kühe grasen lassen können. Es ist ein kleines, bergiges Land. Wir sind vom globalen Getreidemarkt und den Wechselkursen stark abhängig”, sagt Isonuma.
13 Franken für einen halben Liter
Durch Eigenverarbeitung von Milchprodukten versucht Isonuma mehr Wertschöpfung zu bei sich zu behalten. Er verkauft 90 Prozent der Milch an eine Genossenschaft, die restlichen 10 Prozent verarbeitet er zu Jogurt, Käse, Eiscreme und Butter. Um sich von anderen Milchproduzenten abzuheben, benutzt er die Milch einer spezifischen Jersey-Kuh, um Premium-Jogurt herzustellen. Der Konsument bezahlt 13 Franken für einen halben Liter. „Es ist teuer, aber der Konsument zahlt”, sagt er grinsend. In Zukunft will er sieben Premium-Jogurts von sieben verschieden Kuhrassen produzieren.
Isonuma hat idealistischere Ziele, als nur Geld zu verdienen. Er will Teil einer nachhaltigeren Gesellschaft sein. „Den Umsatz zu steigern, ist hier nicht die Lösung. Mein grösster Traum ist es, einen Erlebnisbauernhof zu besitzen, auf dem ich Bürger über die Landwirtschaft aufklären kann und eine Cowboy-Schule zu errichten, um Kinder zu unterrichten.”
Nächstes Jahr möchte er einen Melk-Roboter kaufen. Diese Investition wird zu 50% subventioniert. Die Milch-Produktion pro Kuh will er in den nächsten 5 Jahren steigern. „Ich mache, was mir am besten gefällt und was meiner Meinung nach das Beste ist. Ich bin sicher, das wird sich lohnen. Japanische Bauern werden nie aussterben.”
Gentlemen‘s Agreement
1966 wurde das Gesetz „Kompensation des Milchpreises für Produzenten, die die Industrie beliefern” verabschiedet. Es garantierte die Rohmilch-Produktion in Gebieten, in welchen mehr als 50 Prozent der Produkte von Milch-Fabriken verarbeitet wurden. Für die Milchbauern in Hokkaido bedeutete dies, dass sie von nun an vom Staat subventioniert wurden. Im Mai 2000 wurde das Gesetz redigiert und 2001 neu genehmigt. Jedes Jahr wird die Subvention zwischen den Genossenschaften und den Fabriken diskutiert. 2012 waren es umgerechnet 12 Rappen.
Durch dieses Übereinkommen versucht die Regierung den Markt auszubalancieren. Die grossen Betriebe beliefern Milch-Fabriken, die die Milch zu entrahmten Milchpulver und anderen Produkten für den Export verarbeiten. Die kleinen Betriebe auf dem Festland produzieren Milch für den inländischen Gebrauch.
Grosse Milchbetriebe werden unterstützt, damit sie auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig sind. Die kleinen nicht-subventionierten Betriebe können ihre Milch immer noch zu einem fairen Preis auf dem inländischen Markt verkaufen, da dieser nicht durch Produkte der grossen Milchbetriebe gesättigt wird.
Die Regierung führte zusätzlich eine Milch-Quote ein, um die inländische Produktion stabil zu halten. Jedes Jahr prognostiziert der japanische Milch-Rat Angebot und Nachfrage und legt eine Quote fest. Diese wird in den Provinzen Japans zwischen den einzelnen Bauern individuell aufgeteilt.












