Saftig-grün sind die Wiesen rund um den Hof von Jörg Speiser im basellandschaftlichen Sissach. Seine 35 Milchkühe scheinen den Auslauf und das frische Gras zu geniessen. Als der Landwirt die Weide betritt, um Gloria für ein Foto zu holen, kommt kurz Hektik auf in der Herde. Gloria steht derweil ungerührt da. Denn mit Posieren hat die Swiss Fleckvieh-Kuh Erfahrung. An diversen regionalen und nationalen Viehschauen hat sie sich auf dem Laufsteg präsentiert – und mehrere Titel abgeräumt. Den grössten Triumph konnte sie 2007 feiern, als sie in Thun zur "Vize-Miss-Schöneuter" gewählt wurde. Dass Gloria erneut im Rampenlicht steht, hat aber einen anderen Grund: Sie ist mittlerweile über 13 Jahre alt. Damit hat Gloria für eine Kuh ein biblisches Alter erreicht, denn ihre Artgenossen werden im Durchschnitt nur knapp sieben Jahre alt. Vor allem aber hat Gloria bisher viel Milch gegeben, aussergewöhnlich viel Milch: Über 100'000 Kilo waren es in den letzten zehn Jahren, mehr als dreimal so viel wie eine Swiss Fleckvieh-Kuh im Durchschnitt gibt. Im Oktober 2011 hatte Gloria die magische Grenze überschritten. Ein spezieller Moment sei es gewesen, erklärt Landwirt Jörg Speiser strahlend. "Nach den vielen Erfolgen an Viehschauen war dies das i-Tüpfelchen; ein Erfolg, von dem alle Züchter träumen." Als Anerkennung erhielt Speiser vom kantonalen Fleckviehverband einen Zinnteller und eine Glocke von Swissherdbook, dem grössten Schweizer Rindviehzuchtverband.
So produktiv wie junge Kühe
Das Licht der Welt erblickte Gloria am 2. Dezember 1998 auf Speisers Hof Letten. Zehn Kälber hat sie seither geboren und dann jeweils während rund 300 Tagen Milch geliefert, in den besten Zeiten rund 11'800 kg pro Jahr. Und selbst heute gibt sie noch täglich knapp 40 kg, erklärt Landwirt Jörg Speiser stolz. Damit könne sie noch immer mit den jüngeren Kühen mithalten. Auch das Melken gestaltet sich unkompliziert, was für ein Tier in ihrem Alter eher die Ausnahme sei. Die herausragenden Zuchtwerte blieben auch den Experten von Swissgenetics, dem führenden Anbieter von Rindergenetik, nicht verborgen. Diese nahmen Gloria gleich als Stierenmutter unter Vertrag. Will heissen: Gebärt Gloria ein Stierenkalb, darf Swissgenetics dieses zur Zucht nutzen.
Immer mehr 100'000er Kühe
Gloria ist eine Ausnahme-Kuh, aber kein Einzelfall. "Die Anzahl 100'000er Kühe nimmt von Jahr zu Jahr zu", erklärt Andreas Bigler von Swissherdbook. Der Rindviehzuchtverband hat 1972 erstmals eine Kuh verzeichnet, die in ihrem Leben mehr als 100'000 kg Milch gegeben hat (siehe Grafik). Seither haben insgesamt 2'408 Tiere diese Marke geknackt. Im letzten Jahr waren es 270 Kühe – ein neuer Rekord. Vor allem Red Holstein- und Swiss Fleckvieh-Kühe stellen die Mehrheit der 100'000er Kühe. Für Bauern sind Kühe, die über viele Jahre eine konstant hohe Menge Milch geben, ein Glücksfall. Denn können Kühe nur kurze Zeit genutzt werden, müssen ständig neue Tiere herangezüchtet werden – ein grosser Kostenfaktor. Dass es immer mehr Kühe wie Gloria gibt, hat viele Gründe. Heute geben Kühe mehr Milch pro Jahr, so dass die Marke von 100'000 kg Lebensleistung schneller erreicht werde, so Bigler. Fortschritte erzielte die Tierzucht zudem bei den Eutern. Denn früher hätte man Kühe nach einer gewissen Nutzungsdauer kaum mehr melken können. Entscheidend ist auch die Fütterung. Eine ausgewogene Ernährung sei wichtig, damit die Tiere ihre Milchleistung erbringen können und sie nicht in eine Mangelsituation geraten, die dann zu Klauenproblemen oder Fruchtbarkeitsstörungen führen kann. Dennoch: Obwohl die Anzahl 100'000er Kühe in den letzten Jahren zugenommen hat, die durchschnittliche Nutzungsdauer der Schweizer Milchkühe hat sich dennoch nicht erhöht. Swiss Fleckvieh-Kühe stehen beispielsweise durchschnittlich sieben Jahre im Stall, kalbern zwischen vier und fünf Mal und geben rund knapp 30'000 Kilo Milch. Danach werden sie ausgemustert – weil zunehmend Krankheiten auftreten, Fruchtbarkeit oder Milchqualität abnehmen.
Gloria gibt weiter Milch
Von alldem blieb Kuh Gloria verschont. "Entscheidend ist eben auch der Faktor Glück", ist sich Landwirt Speiser bewusst. Zwar sei vor einem Jahr Glorias Euter entzündet gewesen. Sie habe sich aber bald wieder erholt. Heute grast sie wieder friedlich auf den saftig-grünen Wiesen. In zwei Wochen werde sie wieder besamt, so Speiser. Dann wird sie wieder knapp 300 Tage Milch geben.
