LID: Herr Rieder, die Agrarpolitik der letzten Jahrzehnte wurde stark mitgeprägt von Ihnen. Sehen Sie sich selber als Vater der Agrarreform oder als einer der Väter?
Peter Rieder: Wir waren mehrere, Hans W. Popp als stellvertretender Direktor des Bundesamtes für Landwirtschaft, Professor Hans Christoph Binswanger von der Hochschule St.Gallen und ich an der ETH Zürich. Popp hatte eine gute ökonomische Sicht der Dinge und hat damals auf eine sehr rationale und gescheite Art getan, was er als Chefbeamter tun konnte. Wir haben uns 1972 in der Kommission für Direktzahlungen ökonomisch und rational damit auseinander gesetzt, wie sich die Summe aller Bauern verhält, wie das Angebots- und das Konsumverhalten aussieht. Mein Beitrag war vor allem, dass ich mit Modellen und quantitativen Simulationen Varianten berechnet habe, und gleichzeitig haben wir in Vorträgen viel Überzeugungsarbeit geleistet. Wir arbeiteten mit ökonomischer Rationalität, die dem romantischen, idealistischen Bauernbild nicht immer ganz entsprach, das andere Leute hatten, und die auch nicht immer der bäuerlichen Interessenvertretung entsprach. Deshalb war ich bei der Bauernschaft nicht immer beliebt.
"Ich war bei der Bauernschaft nicht immer beliebt."
LID: Sie haben 2000 in einem Interview mit dem LID gesagt, die AP 2002 erfülle im Grossen und Ganzen die Anforderungen an die Nachhaltigkeit, also an ein Gleichgewicht von Ökologie, Ökonomie und Sozialem. Wie beurteilen Sie die aktuelle Agrarpolitik?
Rieder: Die Veränderung, die jetzt erfolgt mit der Agrarpolitik 2007 und später mit der Agrarpolitik 2011, ist keine Systemänderung mehr, sondern eine Akzentverschiebung. Das System ist 1992 geändert worden. Was die Nachhaltigkeit angeht: Ökologisch haben wir im Grossen und Ganzen unsere Ziele im Laufe der Neunzigerjahre erreicht. Abgesehen von ein paar "Hot spots" wie dem Sempacher- oder Baldeggersee…
LID: Es gibt aber auch Studien, wo die Situation recht düster dargestellt wird: Es gebe immer noch zu viele Tierarten, die verschwinden. Nehmen Sie das nicht ernst?
Rieder: Die Frage ist, wie stark ist hier die Landwirtschaft schuld? Man kann nicht gleichzeitig produzieren und die Natur unberührt lassen. Wenn heute Vögel verschwinden, dann nicht immer wegen dem, was heute passiert, sondern auch wegen anderen intensiven Nutzungen unserer Umwelt, die schon lange da sind, wie etwa der Verkehr, Überbauungen und andere Dinge.
Peter Rieder
wy. Peter Rieder ist 1940 in Vals GR geboren. Nach der Matura studierte er Agrarwissenschaften an der ETH Zürich. Es folgten drei Jahre am Wirtschaftswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich sowie weitere drei Jahre in der Operations Research Abteilung der FIDES-Treuhandvereinigung. Anschliessend war er während zehn Jahren Oberassistent und wissenschaftlicher Adjunkt an der ETH, unterbrochen durch ein Jahr (1973/74) als Visiting Professor an der Michigan State University in East Lansing. 1968 beendete er die Dissertation und 1973 die Habilitation. 1980 wurde er als Professor für Agrarwirtschaft an die ETH Zürich berufen. Im Auftrag der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit führte Rieder in vielen Ländern Studien durch (Peru, Sri Lanka, Honduras, China, Bhutan und andere). Mit seinen Mitarbeitern ist er auch für schweizerische Bundesämter, für Kantone und Organisationen tätig.
LID: Der Schweizerische Bauernverband sagt, die Agrarpolitik sei nicht mehr nachhaltig, weil die ökonomische Seite für die Betriebe nicht mehr stimme.
Rieder: Das kann man schon so sehen. Aber was die Bauernvertreter heute sagen, haben sie schon vor vierzig Jahren gesagt. "Farmers are never poor, but always underpaid", hat ein amerikanischer Agrarökonom gesagt. Das charakterisiert die Situation eines abnehmenden Bauernstandes in allen Industrieländern. Wenn sich die übrige Wirtschaft entwickelt und der Strukturwandel in der Landwirtschaft etwas langsamer geht, weil die Abwanderung aus der Bauernschaft zum grossen Teil über den Generationenwechsel erfolgt, gibt es ein ständiges Spannungsfeld. Die Einkommen liegen deshalb im Schnitt immer bei 80 bis 90 Prozent der Einkommen anderer Branchen. Das wird man in wachsenden Volkswirtschaften nie aufholen. Das gilt in den USA, in der EU, es galt auch schon in den Sechzigerjahren.
Wenn man in den nächsten zehn Jahren ökonomische Nachhaltigkeit will, braucht es einen Strukturwandel von zwei bis drei Prozent pro Jahr. Auch die Vertreter des Bauernverbandes sagen, dass der Strukturwandel vollzogen werden muss. Auch wenn er aus ihrer Sicht verständlicherweise nicht zu schnell ablaufen sollte.
Meine Analyse der FAT-Buchhaltungen zeigt, dass wir sehr gut ausgebildete, dynamische junge Bauern haben. Im Milchbereich ist die Durchschnittsgrösse der Milchkontingente innerhalb von wenigen Jahren von 60,000 auf fast 100,000 Kilogramm gestiegen. Man muss diesen Bauern vom Bund her bloss den richtigen ökonomischen Anreiz geben und soweit möglich mit Strukturhilfe unterstützen. Da bin ich sehr optimistisch. Die Bauern, die heute achtzig Prozent der Agrarproduktion liefern, sind nicht die Working poors, von denen man gelegentlich spricht, das sind Unternehmer und die verdienen auch anständig.
Das Soziale schliesslich ist nicht mehr eine Frage der Landwirtschaft. Es hängt eng mit der ökonomischen Frage zusammen. Wenn jemand verarmt, ist das ein individuelles Problem, nicht ein agrarpolitisches. Zweifellos kann man dann auch helfen.
LID: Wenn der Strukturwandel unvermindert weitergeht: Wann hört er denn auf? In Ostdeutschland gibt es Milchbetriebe, die sehr gross sind und wegen des tiefen Milchpreises trotzdem nicht kostendeckend produzieren können.
Rieder: Die Betriebsgrösse ist dort optimal, wo ein Betrieb so organisiert ist, dass es sich nicht mehr lohnt, Fremdarbeitskräfte zum normalen ausserlandwirtschaftlichen Lohn anzustellen. Wenn man die drei Produktionsfaktoren Boden, Realkapital und Arbeit optimal kombiniert, richtet sich die optimale Betriebsgrösse immer nach dem teuersten Faktor. Das teuerste sind immer die Fremdarbeitskräfte, Realkapital ist relativ gesehen immer billiger, daher wird mechanisiert soweit möglich, und so kann auch mehr Boden bewirtschaftet werden. Die Betriebe werden dadurch stets grösser. Die Tatsache, dass wir Fremdarbeiter auf unseren Gemüsebetrieben haben, erklärt sich durch die Fremdarbeiterregelungen. Deshalb ist der Familienbetrieb bei uns immer noch der Normalfall. Hier kommt letztlich die Flexibilität des Einsatzes der Familienarbeitskräfte zum Tragen, was eine naturabhängige Arbeit fordert.
Die Landwirtschaft ist bezüglich der Fremdarbeiter abhängig von der politischen Regelung. In der Westschweiz mit Ackerbau kann die optimale Betriebsgrösse irgendwann bei 100 oder 200 Hektaren sein, mit Milchproduktion sind es vielleicht 30 Hektaren. Mit Erdbeeren, Obst oder Wein reichen vielleicht sogar 5 Hektaren.
"Für die dezentrale Besiedlung ist nicht entscheidend, ob wir in den Seitentälern ein paar Bauern mehr oder weniger haben."
LID: Führt diese Sichtweise nicht zu Betriebsgrössen, wo man sagen muss: Hier ist plötzlich die dezentrale Besiedlung nicht mehr gewährleistet oder die Ökologie leidet?
Rieder: Wir haben in einer Studie für das Bundesamt für Landwirtschaft untersucht, was in den Siedlungen und Dörfern passieren würde, wenn es dort die Landwirtschaft nicht mehr gäbe. Es sind relativ wenige Dörfer, vorwiegend im Berggebiet, bei denen dies für die Dörfer existenzielle Auswirkungen hätte. Die Landwirtschaft spielt also bezüglich dezentraler Besiedlung bei den meisten Dörfern nur noch eine kleine Rolle. Für die dezentrale Besiedlung ist deshalb nicht entscheidend, ob man in den abgelegenen Tälern ein paar Bauern mehr oder weniger hat, sondern wichtig ist, dass in den Haupttälern die übrige Wirtschaft normal funktioniert. Im Wallis sind die Seitentäler belebt, weil die Leute im Rhonetal arbeiten können. Wenn dort die Fabriken schliessen würden, dann würden vor allem die Leute in den Seitentälern leiden. Selbstverständlich hat aber die Landwirtschaft die Kulturlandschaft zu bewirtschaften, wofür Flächenbeiträge ausgerichtet werden müssen.
Zur Erhaltung der dezentralen Besiedlung müssten vermehrt auch nicht-landwirtschaftliche Massnahmen greifen. Denn die Abwanderung aus bedrohten Tälern findet wegen des Sogs der wirtschaftlich starken Zentren statt und nicht, weil die Betriebe Konkurs gehen. Hier setzt übrigens die Idee einer neuen Regionalpolitik an: bei einer Stärkung der übrigen Wirtschaft in den Haupttälern des Berggebiets.
LID: Die Diskussion um Randregionen ist voll im Gang. Die einen wollen alles tun, um die Leute im Berggebiet zu behalten. Avenir Suisse andererseits sagt, es sei egal, wenn ein paar Bergtäler verwildern. Wo stehen Sie?
Rieder: Avenir Suisse schaut nur aufgrund von Pendlerstatistiken, wo die Leute arbeiten; das ist eine zu einseitige Betrachtung des Problems. Wir haben die ganze Schweiz mit 22 Variabeln für jedes Dorf analysiert, um die Wirtschaftsstruktur zu sehen. Da sehe ich genau, wie die sozio-ökonomischen Zusammenhänge spielen. Unsere Untersuchungen zeigen auch, welche Branchen am sinnvollsten geschützt werden, um die Wertschöpfung zu steigern. Heute reicht es nicht mehr, Schulhäuser zu subventionieren und Strassen zu bauen. Man muss Wertschöpfung in die Dörfer bringen. Wir müssen auch nicht die Besiedlung jedes einzelnen Seitentales erhalten.
LID: Mit dem Druck von Seiten der WTO geraten unterschiedliche Produktionszweige unterschiedlich unter Druck. Soll der Bund über Direktzahlungen in Zukunft alles so stützen wie heute, oder sollte er gewichten und bestimmten Produktionszweigen den Vorrang geben?
Rieder: Die Marktstützung wird nach den Vorschlägen des BLW sowieso überall nach und nach abgebaut. Mit konstanten Direktzahlungen gibt das den Bauern die unternehmerische Freiheit, das zu produzieren, wozu jeder einzelne die besten Voraussetzungen hat. Das wird in vielen Fällen eine extensive Nutzung des Graslandes sein, in anderen Ackerbau oder Spezialprodukte. Ich würde also langfristig gesehen nicht empfehlen, die Stützung nach Produkten zu differenzieren. Jedoch kann man bei der Ausgestaltung von Direktzahlungen sehr wohl Differenzierungen vornehmen.
Aber: Auch wenn bei Fleisch oder Gemüse der Inlandschutz durch bilaterale Abkommen oder durch die WTO sinkt, dann mag das für einzelne Betriebe zwar existenziell sein, für Gemüse oder Fleisch als Ganzes ist es nicht existenziell.
LID: Würde es auch keine Rolle spielen, wenn es in der Schweiz künftig gar keine Getreideproduktion mehr gäbe?
Rieder: Persönlich finde ich, es spielt keine Rolle. Aber das ist eine politische Frage. Manche wollen autonomer bleiben, andere denken internationaler. Es wird in der Westschweiz aber sicher immer Produzenten geben, die auch Brotgetreide oder Futtergetreide anbauen.
LID: Sie sagen, Sie seien für die Schweizer Bauern sehr optimistisch. Immerhin hat das BLW berechnet, dass mit den WTO-Ergebnissen der Produktionswert der Landwirtschaft um bis zu einem Viertel sinken könnte. Die Bauern sind dadurch sehr beunruhigt.
Rieder: Wir haben solche Berechnungen schon vor 20 Jahren gemacht. Wenn man einfach die heutigen Preisdifferenzen mal die heutige Produktion rechnet, dann stimmt das im Zeitablauf nie mit der Realität überein. Das ist eine rein statistische Betrachtungsweise. Es gibt aber immer eine Dynamik, man muss den Strukturwandel antizipieren, die Zahl der Betriebe und der Betriebsgrössen mit neuen Kostenstrukturen.
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