Ab dem 1. Mai 2004 wird die Europäische Union zehn neue Mitgliedländer haben. Für die Gemeinsame Agrarpolitik der EU beginnt damit eine historische Belastungsprobe, für die Länder im Osten die Chance, an die europäischen Märkte andocken und davon profitieren zu können.
Der Vorteil der mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) sind tiefe Produktionskosten, weil Land und Personal billiger ist. Für die neuen Mitgliedländer bestünden deshalb vor allem Chancen beim preisgünstigen Anbau von Futtergetreide, Raps und nachwachsenden Rohstoffen, erklärte EU-Kommissar Franz Fischler kürzlich im belgischen Leuven. Die MOEL wachsen rund doppelt so schnell (4,5 Prozent pro Jahr) wie die "alten" EU-Ländern. Damit werden die Qualitätsansprüche eines Teils der Bevölkerung an Lebensmittel rascher steigen, als sie von der einheimischen Produktion befriedigt werden können. Diese neuen Marktchancen würden vor allem von den Landwirten und der Lebensmittelindustrie der bisherigen EU-Länder genutzt, sagte Fischler.
Die Zeit drängt
Bis die Beitrittsländern ihre neuen Chancen nutzen können, bleibt ihnen noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen, wie die jüngsten Zwischenberichte der Kommission von Anfang November gezeigt haben. Der Anreiz, vorwärts zu machen, ist gross, denn wenn die EU-Standards nicht erfüllt werden, dann fliessen auch die EU-Gelder nicht. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind gross: Während Estland, Litauen und Slowenien relativ gut dastehen, haben Tschechien, Ungarn, Polen, Lettland und die Slowakei Pendenzen, die die EU-Kommission kennzeichnet mit: "bieten Anlass zu ernsthaften Bedenken, es sind unverzüglich entschiedene Massnahmen zu ergreifen". Dabei geht es um Dinge wie Standards in der Lebensmittelsicherheit und Hygiene, im Tier- und Pflanzenschutz, Massnahmen gegen BSE und ähnliche Krankheiten.¨
Stark im Verzug: Polen
wy. Besonders herausgefordert im Anpassungsprozess an die EU ist Polen. Stark verzögert hat sich der Aufbau des Systems für die Verteilung der Direktzahlungen, das Integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem (Invekos). Am Versuch, die dafür zuständige staatliche Agentur zu reformieren und den Aufbau voranzubringen, war im Juni der polnische Agrarminister Adam Tanski gescheitert und nach nur vier Monaten im Amt zurückgetreten.
Polen hat bisher nur ungenügende Verwaltungsstrukturen und Projekte, um die EU-Gelder für den ländlichen Raum abzuholen. Seit dem Start des so genannten SAPARD-Programms vor eineinhalb Jahren hat Polen etwas über 40 Millionen Euro erhalten, ein Bruchteil der 170 Millionen, die allein pro Jahr für das Land zur Verfügung stehen.
Extrem sind in Polen auch die ländlichen Strukturen. Von 2,4 Millionen registrierten Bauernbetrieben produzieren 2 Millionen auf einer Fläche von höchstens fünf Hektaren, nur gerade 680,000 Betriebe produzieren für den Markt.
Ein weiteres Problem sind schliesslich die hygienischen Standards. Die landwirtschaftlichen Produkte dürfen künftig auch in Polen selber nur noch vermarktet werden, wenn sie den europäischen Anforderungen an die Gesundheit von Tieren und Pflanzen und an tier- und umweltschützerische Standards genügen. Andernfalls sind sie nur noch für den Eigenbedarf oder für den Export in Nicht-EU-Länder erlaubt – ohne Preisgarantie und ohne Exportstützung.
Preisdruck, aber auch neue Absatzchancen
Was bedeutet die Osterweiterung für die Schweiz? "Mehr Preisdruck, aber auch neue Absatzchancen" heisst die ziemlich allgemeine Formel, die oft zu hören ist. Massgeblich sind die bilateralen Verträge mit der EU, die unverändert auf die neuen Mitgliedländer ausgedehnt werden, mit Ausnahme des Personenfreizügigkeitsabkommens, über dessen Anpassung noch verhandelt wird.
Eduard Hofer, Vizedirektor des Bundesamtes für Landwirtschaft, präzisiert aus seiner Sicht die Formel: "Kurzfristig überwiegen die Chancen, langfristig der Druck". Der Appetit einer kleinen und reichen Oberschicht auf teure Qualitätsprodukte sei für die Schweizer Agrar- und Ernährungswirtschaft durchaus eine Chance. "Diese Länder werden aber auch bei der Qualität aufholen, und es entsteht erneut ein Preisdruck", sagt Hofer. In Österreich, wo man sich bereits seit längerem intensiv mit den MOEL befasst, geht eine Studie davon aus, dass die Qualitätsstandards in den MOEL innerhalb von einer Generation dem westeuropäischen Niveau entsprechen werden.
Einiges werde noch mit der EU zu verhandeln sein, erklärt Hofer. Beispielsweise bestehen bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und verschiedenen MOEL, die mit deren EU-Mitgliedschaft hinfällig werden. Damit fallen Präferenzzölle auf Exporte von Fleisch, Getreide und Gemüse in die Schweiz weg. Die EU könnte wahrscheinlich auf die Idee kommen, als Kompensation dafür erhöhte Zollfreikontingente zu fordern. Weil es sich um einseitige Konzessionen der Schweiz handelt, wird diese voraussichtlich solche Forderungen ablehnen. Die Schweiz wird auch versuchen, in den Verhandlungen um die gegenseitige Anerkennung der geschützten geografischen Angaben (AOC) möglichst den Emmentaler zu schützen. Die Ergebnisse dieses "krämerischen Pokers", wie es Hofer nennt, sind noch völlig offen, zumal die Schweiz in bilateralen Abkommen mit MOEL bereits einzelne AOC anerkannt hat, insbesondere das Pilsner Bier gegen den Emmentaler mit Tschechien.
Jacques Bourgeois, Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes, erwartet kurzfristig keine Änderungen. Das Thema werde vor allem ab 2007 relevant, wenn der gegenseitige volle Marktzutritt beim Käse im Rahmen der bilateralen Verträge Realität sei. Man müsse die mittel- und osteuropäischen Märkte noch genau studieren, das sei einer der Punkte im Tätigkeitsprogramm des Bauernverbandes für das nächste Jahr. Und es sei klar, dass mit den neuen EU-Ländern, die noch tiefere Agrarpreise haben als die EU, der Druck auf die Schweizer Landwirtschaft noch einmal zunehmen werde. Bourgeois sieht wie Hofer neue Chancen. Besonders beim Bereich Milchprodukte und allenfalls beim Obst sei es deshalb wichtig, die Produkte auf diesen Märkten gut zu platzieren.
Grössere Chancen für Milchprodukte als für Obst
Markus Füglister von der Früchtehandelsfirma Füglister in Dietikon sieht dagegen wenig Grund zum Optimismus. "Wir haben jetzt schon Mühe im Export, mit den neuen EU-Mitgliedländern wird das Preisniveau noch einmal tiefer, und für uns wird es noch schwieriger." Man könne im Sinne der Bauern nur hoffen, dass mittelfristig die Grenzen einigermassen dicht blieben, sagt Füglister. Das Preisniveau in den MOEL-Ländern sei weit unter dem Existenzminimum der Schweizer Bauern. Ein Lichtblick ist für die Firma Füglister dagegen das Personenfreizügigkeitsabkommen, das der Firma neu erlauben wird, billigere Arbeitskräfte aus den mittel- und osteuropäsichen Ländern zu rekrutieren.
Bei Emmi betrachtet man die Osterweiterung als "grundsäztlich positiv". Es sei ein neuer Absatzmarkt für Spezialitäten, wie sie auch in Deutschland Fuss gefasst hätten, Käsespezialitäten oder Frischprodukte. Das Vorgehen bezeichnet Emmi-Sprecherin Ingrid Schmid als "abwartend bis proaktiv". Man besuche diese Märkte und beobachte sie. Schmid stellt aber auch klar, dass diese Märkte im Vergleich zu Deutschland immer noch eine Nische sind. Klar negativ zu verbuchen ist für Emmi, dass mit den neuen EU-Ländern mehr Milch auf den EU-Markt kommt und das Preisniveau noch einmal sinken wird. Damit werde auch die Differenz zum Schweizer Preisniveau noch einmal grösser.
Siehe auch: "EU-Osterweiterung: Die Kandidaten habens eilig, die EU gar nicht" im LID-Mediendienst Nr. 2642 vom 24. August 2000 und das LID-Dossier Nr. 378 vom 15. August 2000 "Europäische Landwirtschaft und Osterweiterung der EU"