Naschen ohne schlechtes Gewissen, ohne Figurprobleme und Schaden für die Zähne. Das geht: Das Zaubermittel heisst Stevia. Steviol Glykoside und Rebaudiosid A sollen in Zukunft dafür sorgen, dass Süsses nicht mehr aus des Teufels Küche kommt. Diese technisch klingenden Namen bedürfen keiner Chemie um hergestellt zu werden, sondern können aus der südamerikanischen Pflanze Stevia Rebaudiana extrahiert werden. Die Vorteile: Kalorienbilanz praktisch gleich Null. Und weder Zähne noch der Blutzuckerspiegel werden gemäss Studien in Mitleidenschaft gezogen. Das klingt nach einer Revolution auf dem Süsswarenmarkt. Warum also ist der Stevia-Süssstoff nicht schon lange überall drin, wo es Zucker braucht? Weil nicht jedermann an die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Stevia glaubt.
In der EU verboten
So zum Beispiel die Europäische Union. Deren Zweifel begründen sich auf zwei Studien. Bei der einen bekamen einige der Versuchsratten Blasenkrebs und bei der anderen kam es zu Fruchtbarkeitsstörungen. Beide Studien und die angewandten Methoden sind jedoch in weiten Kreisen umstritten. Doch solange nicht eindeutig das Gegenteil bewiesen wird, sind Stevia und die daraus gewonnen Produkte in der EU verbotenes Gut. Da hilft auch nicht, dass die gemeinsame Bewertungsgruppe für Lebensmittel und Lebensmittelzusatzstoffe (JEFCA) der Vereinten Nationen im Juli 2008 zum Schluss kam, dass ein zu 95 Prozent reiner und standardisierter Stevia-Extrakt sicher ist.
In Japan schon lange etabliert
Nicht alle Länder sind so zurückhaltend wie die EU. In Japan etwa ist Stevia seit 30 Jahren salonfähig. Der Anteil der ursprünglich aus Paraguay stammenden Pflanze am Süssmittelmarkt beträgt in dem fernöstlichen Land rund einen Viertel. Und auch in China oder Israel sind die Steviaextrakte weit verbreitet. In Frankreich haben die Behörde Ende August 2008 ebenfalls grünes Licht für den Gebrauch von Rebaudiosid A gegeben. Und während in den anderen umliegenden Ländern Stevia nur illegal erworben werden kann, steht in der Schweiz sogar die offizielle Gesundheitsaufsichtsbehörde, das Bundesamt für Gesundheit, hinter dem Pflänzchen. Genauer gesagt hinter "bestimmten Stevia-Extrakten zur Verwendung in Lebensmitteln", wie die BAG-Sprecherin Sabina Helfer erklärt.
Firmen, die Produkte mit Stevia süssen wollen, müssen beim BAG eine Bewilligung einholen. Das Bundesamt legt auch die erlaubte Höchstmenge des Stevia-Süssstoffes fest. Bis Mitte Dezember 2009 haben neun Firmen für insgesamt 18 Produkte eine Bewilligung des BAG erhalten. Als erstes durfte der Murtener Kultgetränkehersteller Storms ein Produkt mit dem Pflanzenextrakt süssen. "Wir wollten unsere Getränke weder mit Kristallzucker noch mit Chemie süssen. Auf der Suche nach einer gangbaren Alternative sind wir dann auf Stevia gestossen", sagt Tino Schütz, zuständig für den Bereich Marketing bei Storms.
Sorgen sind fehl am Platz
Der Sorge, der Konsum von Stevia sei allenfalls nicht ganz unbedenklich, kann Schütz nichts abgewinnen. "Stevia wird in Lateinamerika schon sehr, sehr lange und häufig konsumiert. Gesundheitliche Schäden, die auf den Verbrauch von Stevia zurückzuführen wären, konnten aber noch nie beobachtet werden." Auch das Argument, der Stevia-Süssstoff hinterlasse einen Nachgeschmack auf der Zunge, lässt er nicht gelten. Dies hänge sehr von der Qualität der benutzten Extrakte ab. Und bei Getränken sei es möglich, die Rezeptur so zusammenzustellen, dass der Nachgeschmack vermieden werden könne. Für ihn ist klar: Stevia ist die Zukunft der Süssstoffe. "In den USA gibt es einen riesigen Run auf die Extrakte seit der Legalisierung vor ein paar Monaten. Und auch hierzulande sind ganz grosse Firmen an der Pflanze interessiert. Da der EU-Markt zurzeit aber noch dicht ist, wird mit der Lancierung von Produkten noch abgewartet." Für Storms hat sich die Tüftlerei mit Stevia gelohnt. Das Warenhaus Manor hat den Storms Nice Tea anfangs Dezember 2009 in sein Sortiment aufgenommen. Und auch andere Detailhändler sind daran interessiert.
Keine Angst bei den Zuckerfabriken
Einer, der sich ebenfalls für die Entwicklung in Sachen Stevia interessiert, ist Josef Arnold, Direktor der inländischen Zuckerfabriken. "Bisher hat noch nichts den Zucker weggefegt, doch natürlich ist eine gewisse Verdrängung durch Stevia oder auch andere Süssstoffe möglich." Der Vorteil von Zucker sei sicherlich, dass er unverwechselbar in seinem Geschmack sei und den Produkten nicht nur zu mehr Süsse verhelfe, sondern beispielsweise auch die Backeigenschaft oder die Haltbarkeit positiv beeinflusse. "Angst haben wir keine. Wir sind ja seit längerem aktiv und lancieren alternative Produkte zum herkömmlichen Kristallzucker." Trotzdem versteht Arnold nicht, warum ausgerechnet die Schweiz in Sachen Stevia "vorgeprescht ist". "Es gab ja überhaupt keine Notwendigkeit, Stevia zu bewilligen."
Stevia statt Assugrin
Eine Firma, die die Nase in Sachen Süssen mit Stevia ganz vorne hat, ist die Hermes AG, Herstellerin des künstlichen Süssstoffes Assugrin. Während Firmen wie beispielsweise Ricola, Reizel oder Coca-Cola beim BAG eine Bewilligung einholten, mit der Lancierung von mit Stevia gesüssten Produkten aber noch zuwarten, ist man bei Assugrin schon viel weiter: "Im Frühjahr 2010 werden wir das Süssungsmittel Assugrin Stevia Sweet auf den Markt bringen", verrät Operationsmanagerin Petra Vögele. "Das ist aber ganz bestimmt nicht das Ende der künstlichen Süssstoffe. Denn geschmacklich unterscheidet sich Assugrin Stevia Sweet von unseren herkömmlichen Produkten. Was man lieber mag, ist Geschmackssache." Warum aber nimmt ausgerechnet die Hermes AG Stevia in ihre Produktpalette auf? "Weil die Kunden eine natürliche Alternative zum künstlichen Süssstoff wünschen, ohne dabei auf Kristallzucker zurückgreifen zu müssen."
