Das Puschlav? Ja doch, irgendwo hinter den sieben Bergen, und vor allem weit, weit entfernt von Zürich, Bern oder Basel. Schon halb in Italien. Terra incognita für die meisten Schweizer. Das Puschlav? In kaum einem anderen Tal unseres Landes kann man den Übergang von der submediterranen zur hochalpinen Vegetation besser beobachten als hier. 3‘905 Meter misst der höchste Punkt, der Ostgipfel des Piz Palü, die Talebene an der Grenze bei Tirano hingegen liegt unter 500 Metern. Dazu ein eigenes Idiom, das pusc,ciavin, dieser lombardischen Dialekt mit romanischen Ausdrücken, der von den Protestanten anders ausgesprochen wird als von den Katholiken: „Al Pra“ (die Wiese) und „sfazzà“ (frech) sagen die Reformierten, „al pru“ und „sfaciù“ die Katholiken.
Das Puschlav, dieses wunderschöne, fast archaische Nord-Süd-Tal mit seinen 5‘000 Bewohnern kämpft seit jeher ums wirtschaftliche Überleben. Wenn das Mittelland hustet, hat das Puschlav die Grippe. Und wenn die Jockey-Unterwäsche-Fabrik ihre Produktion in ein Billiglohnland verlagert und 120 Arbeitsplätze verschwinden, dann ist das eine Katastrophe. Auch eine Reissverschlussproduktion baute 25 Stellen ab, die RhB und die Kraftwerke haben rationalisiert... „Die Einwohnerzahl hat zwar in jüngster Zeit nicht mehr abgenommen“, sagt Romeo Lardi, der Gemeinderat von Poschiavo. „Doch die Überalterung ist furchterregend.“
Sich selber zu Markte tragen
All das und noch viel mehr ging dem Gastronom Plinio Lardi vom Hotel Romantica in Le Prese durch den Kopf, als er vor drei Jahren an einem dunklen Novembertag in seinem Büro sass. „Hinter mir lag die kurze Sommersaison, vor mir die nichtexistente Wintersaison. Sollten wir wie die meisten Betriebe im Puschlav wieder mehrere Monate den Betrieb schliessen? Ein wirtschaftlicher Irrsinn.“ Lardi hatte einen ganz Sack voll vager Pläne. Ihm war aber klar, dass sich nur etwas realisieren liess, wenn die Talbewohner, vor allem die Bauern und Handwerker, mitmachen. Als Lardi dann durch die leeren Säle seines Hotels lief, kam ihm die zündende Idee: „Ich sprach mit den Bauern, den Kleingewerblern und Kunsthandwerkern im Tal, denen ging es im Winter ja nicht besser als mir - keine Gäste, keine Kunden, kein Umsatz.“ Rund 40 Betriebe folgten Lardis Aufruf, stellten auf den 1. Februar hin ihre Stände Im Hotel Romantica auf und harrten der Dinge, die da kommen sollten. „Das erste Jahr war nicht schlecht, doch wir merkten, dass wir noch einiges verbessern mussten“, erzählt Agnese Iseppi, die Direktorin der Ente turistico Valposchiavo, des Verkehrsvereins Puschlav. „Auf das zweite Jahr hin legten wir Flyer an diversen Bahnhöfen auf und luden gezielt einige Medien zur Eröffnung des Marktes ein.“ Der Erfolg war sensationell. Neben dem Tessiner Fernsehen und den Bündner Medien kam etwa auch die „Schweizer Familie“. „Das brachte während der acht Marktwochen 4‘500 Gäste ins Tal. Diese Gäste kauften nicht nur ein, sondern blieben teilweise auch mehrere Tage. Davon haben alle Beteiligten profitiert.“
Echtheit ist wichtig
Kein Wunder, dass der Markt inzwischen zu einer festen Einrichtung geworden ist. Seit dem 1. Februar ist es wieder soweit: Gegen 40 Produzenten und Produzentinnen präsentieren Spezialitäten, die ebenso gluschtig wie ausserhalb des Tales meist unbekannt sind. Wer hat schon von Formagin da Cion (Schweinefleisch-Pastete) gehört? Oder von Pesce in Carpione, in Essig, Olivenöl, Kräutern und Gemüse marinierte Forellenfilets? Wer hat schon diesseits des Alpenkamms von Brascedela, diesem mit Anis verfeinerten Ringbrot gekostet? Und wohl nur hier gibt es Costini (Brustspitzen) als Eintopfgericht. Sehr speziell sind auch die Wurstwaren mit Wildfleisch und die luftgetrockneten Schinken.
Fast das ganze Tal wirtschaftet nach biologischen Kriterien. Darum prangt auf den meisten Alp- und Bergkäsen die Knospe. Dasselbe gilt für die Teigwarenspezialitäten - etwa Kräuter- und Brennesselnudeln. Typisch für die Region sind aber die Pizzoccheri, das Gericht aus schwarzem Buchweizenmehl, für das jede Puschlaverin ihr eigenes, streng gehütetes Rezept hat. Als Haupt- oder Nebenverdienstquelle haben einige Bauern auch die Kunst des Einmachens wiederentdeckt. Sie halten Confiture aus Waldbeeren, in Öl eingelegte Pilze und Saucen feil.
Im Puschlav werden aber nicht nur die Gaumenfreuden gepflegt, auch das einheimische Schaffen, die traditionellen Handwerksberufe, sollen nicht einfach untergehen. Im Tal wird gewoben, gehäkelt, gedrechselt, geschnitzt und geküfert, gemalt und gebildhauert. Und alles wird im Hotel Romantica präsentiert.
Marktbummel der längeren Art
fb. Das zweitschönste am Puschlav ist die Anfahrt mit dem Bernina-Express über das Albulatal, das Engadin und das Berninagebiet. Die Fahrt Chur - Le Prese dauert mit der Rhätischen Bahn (RhB) rund vier Stunden, der Zug hält genau vor dem Hotel Romantica. Der Schlemmer- und Handwerkermarkt dauert bis zum 8. April und ist ausser Montag täglich geöffnet. Der Eintritt ist frei. Ebenfalls bis zum 8. April offeriert das Dreistern-Hotel Romantica eine Übernachtung mit Frühstück und Schlemmermenu für 78 Fr., zwei Übernachtungen inklusive Halbpension 150 Fr.
Weitere Infos: Tel. 081 844 03 83, www.laromantica.ch. Generelle Informationen über das Puschlav: Ente turistico Valposchiavo, Tel. 081 844 05 71, www.valposchiavo.ch.
Einheimischer Veltliner
Einer der Höhepunkt des Marktbesuches ist ein mehrgängiges Schlemmermahl. Das wird vom Romantica-Wirt Plinio Lardi gekocht, der selbstverständlich nur einheimische Zutaten von den Marktständen verwertet. Der Mensch lebt nicht von Costini, Würsten, Rauchfleisch, Gemüse und Pizzoccheri alleine. Es darf auch etwas Flüssiges sein und spätestens jetzt kommt auch das Veltlin ins Spiel. Einen Steinwurf talabwärts geht das Puschlav nahtlos ins Veltlin über, umarmen sich im unübersichtlichen Gelände die Schweiz und Italien. Noch bis vor einigen Jahrzehnten wurde der grösste Teil der Veltliner Reben zu einer Art flüssigem Kopfweh verarbeitet, heute gehören diese Weine zu den begehrtesten Europas. Und obwohl das Veltlin der Schweiz in den Bündner Wirren abhanden kam, besitzen die Puschlaver einige grössere und kleinere Weingüter jenseits der Grenze. Darum betrachten sie den Veltliner Wein als den ihrigen und kredenzen ihn selbstverständlich auch am Schlemmermarkt. Allein schon die Namen lassen träumen: Luna d’estate, Agnus, Divum..... . Wer nicht nur träumen will, lässt sich vom Romantica-Wirt am besten in die Bar Barrique entführen, welche eher ein Weinbaumuseum als eine Bar ist. Und wenn man viel Glück hat, greift Lardi zu einer ganz bestimmten Flasche, über deren Herkunft er schweigt. Sicher ist nur, dass man danach nie mehr einen anderen Grappa geniessen will.
Italien ist nah, Italien ist fern
Zwischen zwei Kunden erzählt der Ziegenbauer Luca Compagnoni, warum er am Markt mitmacht: „Meine Produkte sind zwar eine Spezialität und eigentlich begehrt, aber das Tal selber hat zu wenig Konsumenten, um den Käse von 120 Ziegen abzusetzen. Ganz zu schweigen vom Ziegenfleisch oder den lebenden Tieren. Darum ist das hier für mich eine riesige Chance.“ Erstens läuft der Direktverkauf sehr gut, zweitens kann der junge Bauer sich den Kunden aus dem Rest der Schweiz präsentieren und neue Absatzkanäle öffnen. Zwar könnte er den grössten Teil seiner Produktion ins nahe Italien exportieren, aber der bürokratische Wahnsinn feiert Urständ: Anstatt beim in Sichtweite liegenden Zoll bei Campocologno müsste Compagnoni seine Exporte in Chiasso deklarieren. „Das bedeutet einen Transportumweg von ein paar hundert Kilometern, ein Umweg, der den ganzen Gewinn auffrisst.“ Auch wegen der fast täglich ändernden Zollbestimmungen sei derzeit an eine geregelte Ausfuhr ins Nachbarland nicht zu denken. So ist der Ziegenbauer mit 25 Hektaren in der Bergzone drei und vier auf die Kunden aus dem Norden und den Direktverkauf angewiesen.
Erfolgsfaktor Kundenbindung
Etwas anders präsentiert sich die Situation für die Bio-Käserei in San Carlo, welche jährlich rund 70 Tonnen Puschlaver Bergkäse und weitere Spezialitäten herstellt. „Der Markt im Romantica ist für uns ein Schaufenster. Dabei zählt nicht einmal so sehr der direkte Verkauf. Viel wichtiger für uns ist die Präsenz“, sagt Paolo Contesi. Den grössten Teil seiner Produktion setzt er in Coop- und Volg-Läden in der ganzen Schweiz ab. „Während des Marktes haben wir die Chance, die bestehende Kundschaft zu pflegen und neue Kontakte zu knüpfen“, sagt Contesi. Einmal zurück im Norden würden die Marktbesucher viel eher zum Käse aus San Carlo greifen, ist er überzeugt. „Wer einmal gesehen hat, wo „sein“ Käse herkommt und wer ihn produziert, hat danach eine ganz andere, emotionale Bindung dazu.“ Ganz direkt abhängig vom Markt sind die Handwerkerinnen und Künstler, oft Bäuerinnen und Bauern, welche im Nebenerwerb traditionelle Körbe flechten, Marmor verarbeiten oder Honig verkaufen. „Für mich“, so eine der Bäuerinnen, „ist das die einzige Chance, während des Winters ein gewisses Einkommen zu erzielen.“
Der Markt in Le Prese ist für mindestens vierzig Bauern- und Handwerksbetriebe nicht mehr wegzudenken. „Wenn wir weiterhin Erfolg haben wollen“, meint der Initiant Lardi, „müssen wir uns immer wieder ein neues Rahmenprogramm einfallen lassen. Dieses Jahr sind es uralte und wunderschön renovierte Eisenbahnwagen der Rhätischen Bahn sowie die Bilder eines lokalen Künstlers.“ Das Allerwichtigste aber, betont der Gastronom, sei die Echtheit. „Alles, was auf den Ständen feilgeboten wird, alles, was wir den Gästen servieren, kommt aus dem Tal. Dazu kommt, dass fast alle Bauern auf Bio umgestellt haben. Die Knospe erweist sich immer häufiger als starkes Verkaufsargument. Damit heben wir uns ab. Ich würde nie Hand bieten für einen Ramschmarkt mit dubiosen Produkten, das wäre das Ende des Erfolgs.“
Bilder aus dem Puschlav können über die Ente turistico, Tel. 081 844 05 71, bezogen werden. Marktbilder sind erhältlich bei Franz Bamert, Tel. 081 771 28 57 oder f.bamert@bluewin.ch