Mit zehn mittel- und osteuropäischen Ländern (MOEL) sowie Zypern hat die Europäische Union (EU) Ende März ihre Osterweiterung eingeleitet. Ein grosser Teil der Beitrittsverhandlungen, die sich voraussichtlich über viele Jahre erstrecken werden, wird dabei zwangsläufig der Landwirtschaft gewidmet sein. Dies nicht nur, weil der Agrarsektor rund die Hälfte des gesamten EU-Haushalts und des von den Neumitgliedern zu übernehmenden "Acquis communautaire" (der EU-Gesetzgebung) beansprucht, sondern auch, weil einige der Beitrittskandidaten ein beachtliches landwirtschaftliches Potential in die "Ehe" einbringen. Werden alle elf Kandidatenländer aufgenommen, wächst die landwirtschaftliche Nutzfläche der EU von heute rund 130 Mio. Hektar um fast die Hälfte auf gegen 190 Mio. ha.
Ängste im Westen
Diese Aussichten lösen im westlichen Teil Europas nicht nur Freude, sondern zunächst vor allem Ängste aus. Und dies nicht ohne Grund: Weil das Preisniveau in fast allen MOEL erheblich tiefer liegt, dürfte die Öffnung der Grenzen die Agrarpreise auch im Westen nach unten nivellieren. Für den Subventionsbedarf der beitretenden Länder werden die westeuropäischen Bauern ausserdem – sei es durch höhere Beiträge an den EU-Haushalt oder (wie die EU-Kommission dies im Rahmen der "Agenda 2000" vorschlägt) durch einen Abbau der Marktstützungen - schmerzliche Opfer bringen müssen. Und wenn die Kandidaten ihre zum Teil maroden Landwirtschaften erst einmal auf Vordermann gebracht haben, könnten in Europa neue Überschussprobleme entstehen.
Vorläufig keine Importflut aus dem Osten
Allerdings hat das Scheitern der kommunistischen Planwirtschaft fast überall zu einem markanten Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion geführt, von dem die betroffenen Länder sich erst langsam erholen. Die Modernisierung der veralteten Strukturen wird nach Ansicht der EU-Kommission zum Teil noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erfordern. Eine Überflutung der westeuropäischen Märkte mit Produkten aus dem Osten erscheint vor diesem Hintergrund bis auf weiteres als utopisch; vielmehr wird die EU noch auf längere Sicht einen Agrar-Handels-bilanzüberschuss gegenüber den MOEL aufweisen. 1995 beispielsweise exportierte die EU für umgerechnet 5,6 Mrd. Franken Agrarprodukte in die MOEL, importierte aus diesen umgekehrt aber nur für 3,6 Mrd. Franken.
Ausserdem hat die EU ihre Osterweiterung etappiert. So hat sie konkrete Beitrittsverhandlungen vorerst nur mit Zypern (das mehr politische denn wirtschaftliche Probleme stellt und hier nicht berücksichtigt wird) und fünf MOEL aufgenommen, nämlich mit Estland, Polen, Tschechien, Ungarn und Slowenien. Davon verfügen nur Polen und in bescheidenerem Ausmass Ungarn über ein international bedeutendes landwirtschaftliches Potential.
Grosse Agrarländer wie Bulgarien und Rumänien bleiben vorerst auf der Wartebank. Überdies werden die Verhandlungen mit jedem Land separat geführt und abgeschlossen, weshalb die Beitritte nicht unbedingt gleichzeitig erfolgen dürften. Die ersten Beitritte werden frühestens im Jahr 2002 erwartet.
Viele Gemeinsamkeiten der Kandidaten
Einen grossen Brocken stellt die Gruppe der ersten fünf MOEL dennoch allemal dar. Insgesamt bewirtschaften deren Bauern eine landwirtschaftliche Nutzfläche (LN) von rund 31 Mio. ha, was nahezu einem Viertel der LN in der heutigen EU entspricht. Allerdings produzieren sie auf dieser Fläche nur knapp ein Zehntel (9,83%) dessen, was die Bauern der 15 heutigen EU-Mitgliedstaaten auf die Märkte bringen – ein Indiz für das in den Kandidatenländern vorhandene Steigerungspotential.
Alle fünf Länder befinden sich noch im Transformationsprozess von planwirtschaftlichen zu marktwirtschaftlichen Strukturen, wobei die Privatisierung unterschiedlich weit fortgeschritten ist. In allen Ländern sind die öffentlichen Agrarausgaben gemessen an EU-Massstäben gering; der Anteil der Subventionen am "Gesamterlös" der Landwirtschaft (Produzentensubventionswert PSE) liegt überall deutlich unter dem EU-Niveau. Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten ist überall höher als der EU-Durchschnitt von 5,1 Prozent der Erwerbstätigen. Verschiedene wichtige EU-Instrumentarien zur Ordnung der Märkte sind in allen fünf Kandidatenländern unbekannt: So etwa Milchquoten, Kulturpflanzenregelung, Programme zur Entwicklung des ländlichen Raums oder zur Strukturförderung. Systeme zur Verwaltung solcher Massnahmen wären wegen der grossen Zahl von Kleinbauern relativ kompliziert und müssten erst noch aufgebaut werden; funktionierende Grundbuch- und Tierkennzeichnungssysteme etwa sind praktisch inexistent. In allen fünf Ländern sind zudem die nachgelagerten Stufen der Nahrungsmittelindustrie durch zum Teil veraltete und ineffiziente Strukturen gekennzeichnet. Ausser Ungarn sind alle Kandidaten Netto-Importeure von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln, wobei die EU-Kommission vor allem Polen das Potential attestiert, mittelfristig zu einem Netto-Exporteur zu werden.
Polen würde drittgrösstes Agrarland der EU
Neben Gemeinsamkeiten weisen die fünf Länder auch markante Unterschiede auf. So erweist sich nur gerade Polen als eigentliche "Agrarmacht" von internationalem Gewicht. Dessen landwirtschaftliche Nutzfläche macht mehr als die Hälfte (59,2 Prozent) aller fünf Länder aus; mit 18,4 Mio. ha übertrifft es die Nutzfläche Deutschlands (17 Mio. ha) und würde bei einem Beitritt hinter Frankreich (28,6 Mio. ha) und Spanien (24,5 Mio. ha) flächenmässig zum drittgrössten Agrarland der EU. Auch produziert Polens Landwirtschaft mehr als die Bauern der übrigen vier Kandidaten zusammen.
Während der Agrarsektor für Polens Wirtschaft eine zentrale und für Ungarn immerhin noch eine wichtige Bedeutung hat, nimmt er in den übrigen drei Ländern eine untergeordnete Stellung ein. In Polen und Ungarn beansprucht die landwirtschaftliche Nutzfläche rund zwei Drittel der jeweiligen Landesfläche, in Slowenien und Estland dagegen nur rund einen Drittel. Während in Polen mehr als jeder vierte Erwerbstätige (27%) in der Landwirtschaft beschäftigt ist, sind es in den übrigen vier Ländern jeweils nur zwischen 6,3 (Tschechien) und 8 Prozent (Ungarn), was im Bereich von EU-Ländern wie Italien und Österreich oder auch der Schweiz (6,4%) liegt.
Nicht mit der Grösse in Übereinstimmung ist dagegen die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Landwirtschaften. Ihr Beitrag zur Gesamtwirtschaft bewegt sich zwischen 4,3 Prozent (Slowenien) und 7,2 Prozent (Ungarn) des Brutto-Inlandprodukts (BIP). Das heisst, dass Polens Landwirtschaft mit ihren 27 Prozent Beschäftigten weniger zum BIP beiträgt als der ungarische Agrarsektor mit seinen 8 Prozent Beschäftigten, was die kleinbetrieblichen, veralteten und ineffizienten Strukturen zwischen Ostsee und Hoher Tatra widerspiegelt. Auch zum Aussenhandel trägt Ungarns Landwirtschaft deutlich mehr bei (21 Prozent aller Exporte) als jene Polens (10 Prozent).
In vier der fünf Länder dominiert der Ackerbau, ausser im Alpenland Slowenien, wo der Ackeranteil nur knapp ein Drittel des Bauernlandes erreicht. Wichtigste Kultur ist überall Getreide; Polen ist aber mit einer Anbaufläche von über 1,3 Mio. ha auch ein wichtiges Kartoffelland, während in Ungarn und Tschechien Zuckerrüben eine wichtigere Stellung einnehmen als die stärkehaltige Knolle.
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Polnisches Obst, ungarischer Wein, estnischer Fisch
rp. Ausser Ungarn sind die fünf osteuropäischen Beitrittskandidaten Netto-Importeure von Agrarprodukten. Exportiert wird eine breite Palette.
Polen: Versorgt sich mit den wichtigsten Agrarprodukten selbst. 47 % der Agrarexporte gehen in die EU, 30 Prozent in die GUS-Staaten. Von den Importen stammen
46 % aus der EU, 4 % aus der GUS. Ausgeführt werden vor allem verarbeitetes Obst und Gemüse, Fleisch und Milchprodukte, frisches Obst und Gemüse. Die wichtigsten Importprodukte sind frisches und verarbeitetes Obst und Gemüse, Kaffee, Tabak, Spirituosen.
Ungarn: Netto-Exporteur von Agrarprodukten. Agrar-Handelsüberschuss 1995: 2,6 Mrd. Fr.. Je über 50 % der Ein- und Ausfuhren werden mit der EU abgewickelt, je rund 40% mit den anderen MOEL und der GUS. Ausgeführt werden Fleisch, Getreide, frisches und verarbeitetes Obst und Gemüse, Getränke sowie Wein. Eingeführt werden vor allem Futtermittel und tropische Produkte.
Tschechien: Netto-Importeur. Agrar-Handelsdefizit 1995: 781 Mio. Fr.. Wichtigste Exportmärkte sind die EU (36,4%), die Slowakei (27,3%), die GUS (14,9%) und die übrigen MOEL (9,7%). Importe hauptsächlich aus der EU (54,3%) und der Slowakei (8,9%). Ausgeführt werden Milchprodukte, Getränke, Bier, Vieh, Hopfen, Malz, Fleisch und Fleischprodukte; eingeführt werden Obst, Kaffee, Tee, Kakao, Gemüse, Sojakuchen und Getreide.
Slowenien: Netto-Importeur (Selbstversorgungsgrad: 84%). Handelsdefizit des Sektors: 573 Mio. Fr.. Wichtigste Exportmärkte: ehemaliges Jugoslawien (53%) und EU (30%). Die Importe stammen zu 55% aus der EU. Die wichtigsten Exportprodukte sind Wein, Hopfen, Geflügelfleisch und Milchprodukte.
Estland: Netto-Importeur. Agrar-Handelsdefizit gegenüber der EU 1995: 257 Mio. Fr.. Hauptexportmärkte: GUS (65%), EU (29%). Wichtigste Exportprodukte:
Fisch-, Fleisch- und Milchprodukte.