Von Arosio, eine halbe Stunde Postautofahrt ab Lugano, führt der "Sentiero del Castagno" über Mugena den Hängen entlang an Vezio vorbei nach Fescoggia. Dort können müde gewordene Wanderer per Postauto an den Ausgangsort zurückfahren, und alle anderen, denen rund sechs Stunden Gesamtwanderzeit nicht zu viel ist, schliessen den Kreis zu Fuss. Sie folgen dem "Sentiero del Castagno" weiter durch die Kastanienhaine über Vezio, hinunter in die Caroggio-Ebene – eine Art natürliches Amphitheater – nach Mugena und zurück nach Arosio.
Beim Gang unter den grossen ausladenden Ästen über die verrottenden stachligen Schalen der letztjährigen Früchte hinweg, wird die Erinnerung an den Marroniduft im Winter wach. Die meisten dieser Marroni stammen jedoch nicht aus Schweizer Ernte, sondern kommen aus dem umliegenden Ausland. "Die Schweiz importiert für rund 15 Millionen Franken Kastanien und aus ihr gewonnene Produkte", weiss Giorgio Moretti, Präsident des "Gruppo di lavoro sul castagno" und der "Associazione dei castanicoltori della Svizzera italiana" (siehe Kasten "Gruppen und Projekte"). "Der Kilopreis bewegt sich um die vier bis fünf Franken, und da kann man ausrechnen, dass die 35 Tonnen Tessiner Produktion im letzten Jahr nur ein Tropfen auf den heissen Stein sind." In der Schweiz werden auch im Wallis (Fully) sowie in den Südtälern Graubündens (Misox, Bergell, Puschlav) Edelkastanien kultiviert.
Im Zentrum steht klar die Qualität. "Mit der grossen italienischen Produktion ist es für einen Schweizer Abnehmer sehr einfach, bei Qualitätsmängeln auf Import ware umzusteigen", erklärt Giorgio Moretti. Bei fortlaufend guter Qualität liesse sich auch die Menge erhöhen, denn die Nachfrage nach einheimischen Edelkastanien und den aus ihnen hergestellten Produkten wie Mehl, Teigwaren, Honig oder Bier sei bedeutend höher als das Angebot. So konnte die Tessiner Produktion in den letzten vier, fünf Jahren von rund eineinhalb auf 35 Tonnen gesteigert werden.
LID-Sommerserie (7): Ausflugsziel Landwirtschaft
LID. Wer dieser Tage einen sommerlichen Ausflug mit einem Einblick in die Landwirtschaft kombinieren möchte, dem steht ein vielfältiges Angebot an Erlebnis- und Lehrpfaden oder Museen zur Verfügung. Einige dieser Ausflugs-Angebote stellt der LID im Lauf dieses Sommers in einer Serie vor. Bisher erschienen sind Beiträge über den Gemüsepfad im Seeland (LID Mediendienst vom 8.7.99), das Landwirtschaftsmuseum Burgrain (15.7.99), den Hopfenweg im Zürcher Weinland (22.7.99), die Kirschstrasse Schweiz (29.7.99), das Maison du blé et du pain in Echallens (5.8.99) und die Käsestrasse Bregenzerwald (12.8.99). In der nächsten Ausgabe schliesst ein Beitrag über den Obstlehrpfad in Altnau TG die Serie ab.
Die Edelkastanie
rd. Die Edelkastanie gewann in der Römerzeit an Bedeutung und bedeckte damals weite Gebiete der Alpensüdseite. Im Tessin kommt sie heute als Selve (hohe Fruchtbäume im Weideland) und als Kastanienwaldungen, in Form von busch- und hochstämmigem Weidewald, vor. Die Hälfte des Tessiner Bodens ist mit Wald bedeckt, wovon 20 bis 25 Prozent Kastanienwälder sind. Die einzelnen Bäume können bis zu 500 Jahre alt werden und wachsen in der Regel in eine Höhe von 25 bis 30 Meter. Die Edelkastanie gehört zu den Buchengewächsen und ist mit der ungeniessbaren Rosskastanie nicht verwandt. Zu ihren Feinden zählen der Kastanienrindenkrebs, die Tintenkrankheit (Verlichtung der Kronen) und Insekten, welche die Samen befallen.
Kastanien statt Kartoffeln, Mais oder Reis
Früher war die Edelkastanie im Tessin ein Hauptnahrungsmittel. Sie diente zur Selbstversorgung, ganz im Gegensatz beispielsweise zu Italien, wo der Kastanienbaum der Landwirtschaft zugeordnet wird und seine Früchte schon immer zum Verkauf und Export produziert wurden. Gebraten und gekocht, als Mehl zu Suppe, Brei oder Brot verarbeitet, deckte der Ertrag eines Baumes mehr als den täglichen Bedarf eines Erwachsenen während eines Winters. Neben der Nahrung spendete der Kastanienbaum mit seinen Blättern Streu fürs Vieh, getrocknet waren sie eine Hustenarznei. Seine Zweige dienten als Brenn-, der Stamm als Bauholz. Zudem wurde aus dem Holz der wichtige Gerbstoff Tannin gewonnen. Sogar die wurmstichigen Früchte fanden ihre Verwendung: als Futter für Schweine und Kaninchen. "Die Edelkastanie war die Migros des Tessins", pflegt Marco Marcozzi, Leiter des Regio-Plus-Projekts, zu sagen.
Aus dem Wald für den Wald
Zu Beginn dieses Jahrhunderts bedeckten noch rund 8‘000 Hektaren gepflegte Kastanienwälder, sogenannte Selven, das Tessin. Heute sind es noch deren 1‘400 und ein grosser Teil davon ist immer noch vernachlässigt und mit schnellwachsenden Kulturen wie der Birke überwuchert. Ein Hauptziel des Engagements der verschiedenen Gruppierungen für die Kultur der Edelkastanie ist es demzufolge, einen Markt in der Schweiz zu schaffen, der die einheimische Produktion in dem Sinne unterstützt, dass Gewinne in die Wiederherstellung, Erhaltung und Pflege der Selven investiert werden.
Gruppen und Projekte
rd. Der "Gruppo di lavoro sul castagno" (zu deutsch "Arbeitsgruppe Kastanie") ist seit 1991 offiziell vom Kanton Tessin anerkannt. Er setzt sich mit Unterstützung von politischer Seite ein für die Koordination der Tätigkeiten aller an der Kastanienkultur interessierten Kreise wie Landwirtschaft, Forstämter, einzelne Regionen, Abnehmer und Produzenten.
In Zusammenarbeit mit der Vereinigung der Gemeinden der Region Malcantone ist es gelungen, die Ernte und den Verkauf sowie die weitere Verarbeitung der Edelkastanie auf der Alpensüdseite zu strukturieren und zentral zu organisieren. Weiter wurde die Möglichkeit wahrgenommen, im Rahmen eines Regio-Plus-Projekts langfristig (1997-2001) die Edelkastanie, deren Anbau, Bekanntheit und Verarbeitung zu fördern und die Möglichkeiten des Tessiner und Schweizer Markts auszuleuchten. Ziel ist es, nach Abschluss des Projekts die bestehenden Strukturen weiterhin zu nutzen und aufgenommene Tätigkeiten weiterzuführen. Zu diesem Zweck ist am 12. Februar dieses Jahres die "Associazione dei castanicoltori della Svizzera italiana" (etwa "Vereinigung der Kastanienproduzenten der italienischen Schweiz") gegründet worden.
Die Kultur der Edelkastanie erkunden
Die Selven sind typische Elemente der traditionellen Kulturlandschaft. Aus diesem Grund unterstützt der Fonds Landschaft Schweiz (FLS) die Rückführung der Selven im Alto Malcantone in ihren ursprünglichen Zustand. Der "Sentiero del Castagno" konnte aufgrund dieser Finanzhilfen errichtet werden. Dessen Grundgedanke ist es, den Besuchern Wesentliches über die Edelkastanie, das Holz und die Bewirtschaftung der Haine zu vermitteln; dies in einer ruhigen Atmosphäre, die zur selbständigen Entdeckung auffordert. "Der Wald ist nicht die Stadt", meint Marco Marcozzi. "Deshalb haben wir nicht einen Lehrpfad mit Tafeln geschaffen, sondern stellen einen Faltprospekt zur Verfügung, der mit seinen Hinweisen auf interessante Stellen auf dem Weg und mit Informationen zu Geschichte und Kultur als kleiner Führer dient." Auf das Jahr 2000 hin ist die Herausgabe eines Manuals über Theorie und Praxis des Kastanienanbaus für Landwirte geplant.
"Sentiero del Castagno"
rd. Der Start ist im Grotto Sgambada in Arosio. Von dort gilt es den gelben Wanderwegtafeln zu folgen, die mit dem Symbol einer Kastanie ergänzt wurden und den Besucher sicher durch die verschiedenen Formen von Kastanienbepflanzungen der vier Gemeinden Arosio, Mugena, Vezio und Fescoggia führen.
An- und Rückreise: Von Lugano per Postauto (Linie Lugano-Miglieglia, Haltestelle an der Via San Gottardo, vom SBB-Bahnhof rund 200 Meter in Richtung Bellinzona den Bahnschienen folgen), nach Arosio (Station Arosio Bassa). Für den Rückweg kann auch schon in Fescoggia, Mugena oder Vezio dem Postauto zugestiegen werden. Achtung: Fahrplan konsultieren! Es gibt nur wenige Verbindungen täglich.
Karten: Es lohnt sich beim Verkehrsverein des Malcantone den Faltprospekt zum "Sentiero del Castagno" zu bestellen. Er enthält einen Kartenausschnitt, auf dem der Weg markiert ist, und hilfreiche Hinweise auf interessante Stellen unterwegs. Weiter informiert er über die Kastanienkultur in Vergangenheit und Gegenwart.
Wanderzeit: Rund 6 Stunden.
Unterkunft: Ristorante e pensione San Michele, 6939 Arosio, Tel.: 091/609 19 38.
Kastanienprodukte: "Ditta" Lendi, Silvia und Peter Lendi, 6986 Curio, Tel.: 091/606 71 70.
Schreinerei, Bruno und Arno Involti, 6939 Arosio. Tel.: 091/609 17 50.
Museum: Museo del Malcantone, 6985 Curio, Tel.: 091/606 31 72.
Weitere Informationen: Verkehrsverein des Malcantone, Piazza Lago, 6987 Caslano, Tel.: 091/606 29 86, Fax: 091/606 52 00.
Bild Nr. 1: Auf dem "Sentiero del Castagno" kann wandernd die Welt der Edelkastanie entdeckt werden.
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Bild Nr. 2: Der gut beschilderte Weg führt durch die mustergültigen Kastanien-Selven der Gemeinden Arosio, Mugeno, Vezio und Fescoggia.
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Bild Nr. 3: Im Vordergrund ein Baum mit Nummer, die auf die Besitzerfamilie verweist. Dahinter eine Baumkrone voller reifender Früchte.
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