Der "Richtpreis für Molkereimilch" hat gute Chancen zum landwirtschaftlichen Unwort des Jahres gekürt zu werden. Er wird seinem Namen nicht gerecht, denn kaum jemand richtet sich danach. Im Gegenteil: Die Kluft zwischen dem, was die Bauern für ihre Milch erhalten und dem, was als Richtpreis definiert ist, wird laufend grösser. Für Daniel Gerber, den Geschäftsführer der Branchenorganisation Milch, BO Milch, ist der Richtpreis in erster Linie ein "unverbindlicher Orientierungswert." Dabei ist der Richtpreis keinesfalls reine Wunschvorstellung, sondern er basiert auf drei klar definierten Kriterien:
- dem Molkereimilchpreisindex des Bundesamtes für Landwirtschaft,
- dem Einkaufspreisindex für landwirtschaftliche Produktionsmittel
- und der prospektiven Markteinschätzung der BO Milch-Mitglieder.
Der Milchmarkt floriert
Der Molkereimilchpreisindex wird vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) jeden Monat neu berechnet. Dabei werden nicht nur die Preise an der einheimischen Ladenfront berücksichtigt, sondern auch die Preise von Importprodukten. Im Juli 2009 hat dieser Index die Talsohle erreicht, seither ist er kontinuierlich gestiegen, bis Ende Mai um mehr als 6 Prozent. Das zeigt, dass der Milchmarkt floriert. Die Molkereimilch der Bauern wäre nach den Berechnungen des BLW bereits im Mai dieses Jahres mehr als 66 Rappen wert gewesen – ausbezahlt wurden aber nur rund 56 Rappen.
Dabei sind die Produktionskosten keineswegs gesunken. Sie spielen bei der Berechnung des Richtpreises ebenfalls eine Rolle. Daniel Erdin, der Leiter der Abteilung Statistik vom Schweizerischen Bauernverband, stellt deshalb der BO Milch regelmässig die Preise der wichtigsten landwirtschaftlichen Produktionsmittel zusammen. Erdin: "Die Entwicklung verläuft etwa parallel zur allgemeinen Teuerung."
Den grössten Einfluss auf den Richtpreis hat ohnehin die "prospektive Markteinschätzung" der BO Milch-Mitglieder, obwohl Gerber zugibt, dass es sich dabei "nicht um eine systematische Marktbeurteilung" handelt. "Es liegt in der Natur der Sache, dass die Marktaussichten von den verschiedenen Akteuren unterschiedlich beurteilt werden." Laut Reglement der BO Milch müssen bei der prospektiven Markteinschätzung auch Faktoren wie Butterlager, Finanzierung über das Schoggigetz, der Absatz im Detailhandel und die Milchpreise im Ausland berücksichtigt werden. Also genau jene Faktoren, die jetzt von einzelnen BO-Milch-Vertretern als Argument dafür verwendet werden, dass sie die Richtpreiserhöhung NICHT umsetzen.
Dass die BO Milch am 18. Juni eine Richtpreiserhöhung um 3 auf 65 Rappen beschlossen hat, hatte mehrere handfeste Gründe. "Die Butter und Milchpulverpreise haben international stark angezogen", sagt Gerber. "Zudem entwickelte sich der Absatz der weissen Linie positiv." Im Gegensatz zur gelben Linie (der zu Käse verarbeiteten Milch), ist die weisse Linie (Trinkmilch, Joghurt, Rahm etc.) teilweise noch durch Zölle geschützt. In diesem Bereich richtet sich der Preis deshalb stärker nach dem Inlandmarkt und nach der Kaufkraft der Schweizer Bevölkerung.
Preise ohne Wert
Die Richtpreiserhöhung wird von den Milchabnehmer sehr unterschiedlich umgesetzt. Praktisch niemand bezahlt die ganzen 3 Rappen mehr. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall: Da wird zum Beispiel eine Preiserhöhung von 2 oder 2,5 Rappen auf dem Papier ausgewiesen, dafür aber die Milch stärker segmentiert, so dass der höhere Preis nur für eine kleine Menge gilt. Oder die Preiserhöhung wird durch diverse Abzüge für Butterentsorgung, Schoggigesetz, Interventionsfonds, Markterschliessungsbeiträge, Exportaufbaubeiträge und anderes nivelliert, ja teilweise sogar ins Gegenteil verkehrt.
Der Richtpreis ist nicht der einzige Preis, der in der BO-Milch nur auf dem Papier steht. Noch krasser sieht es bei der Abräumungsmilch aus. Laut Reglement der BO-Milch müsste nämlich alle Milch, die unter einer gewissen Preisschwelle gehandelt wird, ohne Stützungen auf dem Weltmarkt abgesetzt werden. Diese Schwelle hat die BO-Milch aktuell auf 58,8 Rappen festgelegt – das ist bereits mehr, als viele Bauern für ihre vertraglich gesicherte Milch erhalten. Ein grosser Teil der Schweizer Milch müsste also umgehend auf dem Weltmarkt verschachert werden. Und nicht nur das: All diejenigen, die sich nicht an das Reglement halten, könnten gemäss Statuten von der BO-Milch ausgeschlossen werden. Allerdings wäre dann die Gefahr gross, dass kaum noch jemand übrig bleibt...
Das Reglement wird überprüft
Saisonal bedingt ist Milch im Inland derzeit sehr gesucht. An der Milchbörse, wo Milch ohne Abnahmevertrag gehandelt wird, wird derzeit keine Milch angeboten. Auch nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage müsste der Milchpreis also steigen. Doch die Abnehmer verweisen weiterhin auf Überschüsse und drücken den Preis nach unten. Weil die Kluft zwischen dem, was im Reglement der BO-Milch steht und dem, was letzen Endes umgesetzt wird, laufend grösser wird, will die BO-Milch demnächst eine Grundsatzdiskussion führen. Gerber: "Man muss sich wirklich überlegen, in welchem Umfang das Modell der BO Milch überhaupt realisiert werden soll, wenn es auf derart grosse Widerstände stösst."
Hansjörg Walter, Präsident des Schweiezrischen Bauernverbandes und Gründungspräsident der BO Milch, begrüsst zwar, dass der Vorstand der BO Milch eine Grundsatzdiskussion führen will: "Offensichtlich haben die Mitglieder der BO Milch nicht die Kraft, ihre Beschlüsse umzusetzen." Allerdings macht er dabei eine Einschränkung: "Eine Aufweichung der Reglemente erachte ich als falsch. Die gültigen Reglemente wurden von der Wettbewerbskommission, gestützt auf das Landwirtschaftsgesetz, akzeptiert." Bei Karl Häcki, dem Co-Präsidenten von BIG-M, läuten indessen die Alarmglocken: "Wenn die BO Milch das Reglement jetzt auch noch aufweicht, brauchen wir die BO Milch überhaupt nicht mehr."
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