Tausende von Menschen verbringen jährlich ihre Ferien in der Schweiz. Aushängeschild Nummer eins für die Schweizer Tourismusbranche ist die unvergleichliche Schweizer Landschaft – ganz besonders jene im Alpenraum. Allein der Schweizer Nationalpark verzeichnet jährlich 150,000 Besucher. Nun will die Eidgenössische Nationalparkkommission (EBPK) den Park um rund 330 Quadratkilometer erweitern. Bei dem Grossprojekt geht es um zwei verschiedene Ziele: einerseits um die Erweiterung der Schutzzone an sich – und andererseits um die Schaffung einer sogenannten Umgebungszone, einer Vorstufe zur Schutzzone sozusagen. Die heute 169 km2 umfassende Parkfläche soll um 30 km2 erweitert werden und in dem zukünftigen Nationalpark die Kernzone bilden. Auf diesem Gebiet soll die Natur vollständig sich selber überlassen werden, jegliche menschliche Nutzung ist untersagt. "Hier läuft alles nach den Grundregeln der Natur ab", erklärt Heinrich Haller, Wildbiologe und seit drei Jahren Direktor des einzigen Nationalparks der Schweiz. Geschützt würden in dieser Zone die natürlichen Abläufe, die Wildnis also.
Alpwirtschaft künftig integriert
Neu geschaffen werden soll nun aber auch eine sogenannte Umgebungszone von 300 km2. In dieser Zone soll, so erklärt Haller, die sogenannte Kulturlandschaft geschützt werden. Jene Landschaft also, die Wandertouristen und Bergler schon heute als die Bündner Alpweiden wahrnehmen, die Jahr für Jahr von den Bündner Bergbauern genutzt, gepflegt und instandgestellt werden. Jeweils im Sommer treiben die Älpler das Vieh aus den Tälern im Unterengadin auf die Alpweiden, wo es den Sommer verbringt. Diese landwirtschaftliche Kulturlandschaft soll neu in den Nationalpark integriert werden und dessen eigentliche Kernzone umgeben. Wie sie allerdings bewirtschaftet werden soll, darüber herrschten zu Beginn der Planungsphase äusserst unterschiedliche Ansichten zwischen den betroffenen Bergbauern und der Eidgenössischen Nationalparkkommission. Alsbald wurde deshalb eine projektbegleitende Kommission, bestehend aus politischen Entscheidungsträgern, Landnutzern, Fachvertretern und Nationalparkverantwortlichen eingesetzt.
Bundesrat gibt grünes Licht
LID. Anfang Mai hat der Bundesrat für die Erweiterung des Nationalparks grünes Licht gegeben. Zur Zeit sind Verhandlungen mit den Gemeinden im Gange. Bis Mitte 2000 will das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) die Botschaft für die Änderung des Nationalparkgesetzes vorbereiten.
Der Schweizerische Nationalpark entspreche nicht mehr den heutigen internationalen Standards, heisst es in einer Mitteilung. Die wichtigsten Mängel seien der abrupte Übergang vom Totalreservat zum bewirtschafteten Gebiet und die Tatsache, dass wichtige Lebensraumtypen der Region wie Seen und Auenwälder vom Park nicht abgedeckt werden. Ausserdem seien die Parkgrenzen zum Teil unnatürlich.
Für die einmaligen Kosten der Erweiterung ist ein Kostendach von 7 Millionen Franken festgelegt worden. Rund 5 Millionen werden für die Sanierung des Nationalparkhauses und für die Erstellung eines neuen Informa-tionszentrums mit einer Ausstellung in Zernez benötigt. Ein Teil der Investitionskosten soll durch Sponsoring erbracht werden. Die jährlichen Mehrkosten für den Betrieb des Parks werden auf 2 Millionen Franken geschätzt.
Erste Vorschläge unakzeptabel
"Die ersten Vorschläge, was in dieser Übergangszone für die Landwirte noch erlaubt beziehungsweise verboten werden sollte, konnten wir Landwirte nicht akzeptieren", erklärt Men Luppi, Vertreter der Landwirtschaft in der Begleitkommission. So sollte aufgrund erster Entwürfe der biologische Landbau in der gesamten Übergangszone Grundbedingung für die landwirtschaftliche Bewirtschaftung aller Alpweiden werden. "Das hätte bedeutet, dass alle Tiere, die heute auf Engadiner Alpen sömmern, künftig aus Biobetrieben hätten stammen müssen", erklärt Luppi. Nicht alle betroffenen Landwirte hätten aber die Möglichkeit, ihre Betriebe auf den biologischen Landbau umzustellen. Die Auflage hätte damit den Verlust der traditionellen Zusammenarbeit zwischen Berg- und Talbauern im Engadin bedeutet.
Als weitere Auflage sollte die Anzahl Tiere verringert werden, die pro Alp sömmern dürfen. Für die Bauern hätte dies einen grossen Einkommensverlust bedeutet. Rund 18,000 Stück Vieh kommen jedes Jahr vom Unterland auf die Alpen. Alleine im Engadin sind es zirka 5,000 Tiere. "Das bringt den Alpwirten 100 Franken pro Stück," erklärt Luppi. Die Sömmerung der Tiere sei die Existenzgrundlage für die Engadiner Bauern. Doch dazu müssten auch die Weiden instandgehalten werden, es brauche Unterhaltsarbeiten, die Wege müssten ausgebessert werden. Die neuen Vorschriften hätten nun aber auch vorgesehen, solche Arbeiten nicht mehr zuzulassen.
Für die Landwirte geht es bei der Umgebungszone um grosse Gebiete. "Die Vorschriften müssen deshalb so sein, dass wir damit leben können", verlangt Luppi. 99 Prozent der Auflagen würden die Alpwirtschaft betreffen, und genau diese habe in Graubünden und gerade im Engadin einen enormen Stellenwert. Diese Tatsache stellt Nationalparkdirektor Haller nicht in Abrede. "Wir wollen natürlich nicht, dass die Alpwirtschaft zusammenbricht," erklärt er. In der Umgebungszone solle vor allem die Artenvielfalt gezielt erhalten und gefördert werden. Hierfür habe sich die naturnahe land- und forstwirtschaftliche Nutzung bewährt, ist auch Haller überzeugt. Es gehe denn auch nicht in erster Linie darum zu verbieten, sondern darum, die naturnahe, extensive Nutzung zu fördern.
Pro Natura noch dabei
ug. Die Erweiterung des Nationalparks wird auch vom Schweizerischen Bund für Naturschutz Pro Natura unterstützt. Allerdings dürften die Anforderungen an die Umgebungszone nun nicht mehr weiter gelockert werden, betont Pro Natura-Präsident Martin Bösch. Die Naturschutzorganisation hat dabei vor allem die künftige Entwicklung der Alpwirtschaft im Auge. Am aktuellen Zustand der betroffenen Alpweiden übt Pro Natura denn auch keine Kritik, will aber eine künftige Intensivierung der Alpwirtschaft ausschliessen. Ausserdem sei ein besserer Schutz der Feuchtbiotope notwendig, diese dürften in Zukunft nicht mehr beweidet werden. Pro Natura schlägt vor, dass die betroffenen Bauern sich mit der Erhaltung alter Rassen wie beispielsweise dem Rhätischen Grauvieh im Alpenraum befassen könnten. Auf eine entsprechende Diskussion hätten sich die Bauern aber gar nicht erst eingelassen, bedauert Bösch. Der Kanton Graubünden sei ein Pionierkanton in Sachen Bio-Landbau. "Eine solche Aufbruchstimmung sähen wir gerne auch beim Nationalpark-Projekt", sagt Martin Bösch.
Ob Pro Natura die Erweiterung des Nationalparks auch nach Abschluss der Verhandlungen noch mitträgt, dürfte entscheidend dafür sein, ob das Projekt auch im Parlament Unterstützung findet.
Bauern haben einen "Sechser" verdient
"Diese Anforderung ist ja bereits erfüllt", betont Landwirt Luppi. Bei Kartierungsarbeiten hat sich gezeigt, dass die Bündner Alpen in sehr gutem Zustand sind. "Bis jetzt haben die Bauern also auch keinen Schaden angerichtet," schliesst Men Luppi daraus. Der Nationalpark könne überhaupt nur erweitert werden, weil die Bauern über Jahre hinweg gute Vorarbeit geleistet hätten. "Hier haben die Bauern einmal einen Sechser verdient," betont er. Auch Haller bezeichnet die Qualität der betroffenen Alpen als sehr gut. Dies sei bei dem wirtschaftlichen Druck, der heute auf den Landwirten laste, durchaus nicht selbstverständlich. Die Artenvielfalt der kartierten Alpweiden sei sehr hoch. Der aktuelle Vorschlag für die Nutzung der Umgebungszone stelle für die Landwirte denn auch kaum noch Einschränkungen dar. Dieses Fazit zieht auch Luppi: "Heute ist der Vorschlag soweit angepasst worden, dass er für die Landwirte annehmbar wird". Mit den Auflagen für die Umgebungszone können die Landwirte heute leben. Sie betreffen insbesondere den Moorschutz und Auflagen bei Alphütten und Alpwegen.
10 km2 der Landwirtschaft entzogen
Ein Problem stellt weiterhin die Erweiterung des Nationalparks an sich dar: In dieser Zone muss die Landwirtschaft vollständig aufgegeben werden. Es gelte zu bedenken, dass der Landwirtschaft Tag für Tag Boden verloren gehe, meint Luppi. "Viel Landwirtschaftsland wird zu Bauland, und jetzt sollen wir durch den Nationalpark noch einmal an Boden verlieren." Konkret geht es um zwei landwirtschaftlich genutzte Gebiete, die in die Kernzone des Nationalparks integriert werden sollen. Darunter befindet sich auch eine besonders produktive Alp. "Ich finde es wichtig, eine solche Alp miteinzubeziehen", erklärt Haller. Es solle an einem Beispiel gezeigt werden, wie eine regelmässig genutzte Fläche wieder der Natur übergeben werde. Diese Alp sei eine Ausnahme, es werde die einzige sein in der ganzen Schweiz. Bei der heutigen landwirtschaftlichen Überproduktion müsse es möglich sein, eine einzige Alp herzugeben, meint Haller. Beim betroffenen Gebiet handelt es sich um ein 5 bis 10 km2 grosses Seitental. "Der Ertragsausfall wird den Landwirten grosszügig abgegolten", sagt Haller. Doch Luppi weist dieses Argument weit von sich: "Dazu muss ich sagen, dass Geld für die Landwirte nie ein Thema war." Von Abfindungszahlungen habe nie ein betroffener Bauer gesprochen. "Wir brauchen nicht das Geld; wir brauchen das Land zum Leben", meint er. Trotzdem ist er überzeugt, dass von bäuerlicher Seite keine Opposition mehr zu erwarten ist, wenn die Auflagen nicht wieder verschärft werden.
Gemeinden haben das letzte Wort
ug. Ob die Erweiterung des Nationalparks zustande kommt, hängt letztendlich von den betroffenen Gemeinden ab. Diese müssen nämlich aufgrund der Gemeindeautonomie ihr Einverständnis zum Grossprojekt geben. Ist eine Gemeinde mit der Erweiterung einverstanden, wird sie spezielle Verträge mit dem Bund abschliessen. Bis anhin pachteten die Bauern die Alpen von den Gemeinden. Sollte die Umgebungszone Wirklichkeit werden, verpachten die Gemeinden ihr Land künftig dem Bund. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine Gemeinde bereit ist, ihr Land für 30 bis 50 Jahre zu verpachten und die entsprechenden Auflagen einzuhalten. Als erstes stimmen die Einwohnerinnen und Einwohner der Unter-engadiner Gemeinde Lavin am 25. Mai über die Nationalparkerweiterung ab. Ende 1997 hatte sich Lavin als Pilotgemeinde für das Projekt zur Verfügung gestellt. Auf ihrem Gebiet ist nicht nur Umgebungszone, sondern auch eine zusätzliche Kernzone geplant. Der Entscheid Lavins wird wegweisende Bedeutung haben. Der Ausgang der Abstimmung ist offen.