"Ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt in Berggebieten. Diese nehmen ein Viertel der Landflächen der Erde ein und versorgen die Hälfte der Weltbevölkerung mit Wasser." Was Bundesrat Pascal Couchepin am 16. Juni in seiner Begrüssungsansprache sagte, wurde an der Internationalen Konferenz über nachhaltige Landwirtschaft und ländliche Entwicklung in Bergregionen in Adelboden mehrfach wiederholt. Im gleichen Atemzug wurde jeweils auch darauf hingewiesen, dass die Berggebiete vielfältig bedroht sind. Die Ökosysteme in den Bergen wurden als Frühwarnsysteme bezeichnet, weil sie besonders fragil sind und deshalb sensibel auf den Klimawandel reagieren. Fakt ist auch, dass in Bergregionen überdurchschnittlich viele Menschen Hunger leiden.
Die Absicht ist klar: Die Berge sind zu schützen
Das UNO-Jahr der Berge bietet einen willkommenen Anlass, Chancen und Risiken der Berggebiete zu thematisieren. Das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) hat zusammen mit der Organisation für Landwirtschaft und Ernährung der UNO (FAO) im Berner Oberland vom 16. bis 20. Juni Menschen zusammengebracht, denen Berge und nachhaltige Landwirtschaft ein Anliegen sind. 200 Teilnehmer aus 50 Ländern von Aserbeidschan über Mexiko bis Südkorea kamen. "Die nachhaltige Entwicklung der Berge ist ein wichtiger Punkt für die Arbeit der FAO", sagte Vize-Generaldirektor Jacques Eckebil bei der Eröffnung. Die FAO sei fest entschlossen, die Berge zu schützen – auch über das UNO Jahr hinaus, versprach er in Adelboden.
Das Gemeinsame aller Bergregionen der Welt stellte Claude Martin, Generaldirektor von WWF International, zu Beginn seines Beitrages jedoch gleich in Frage. "‘Berg‘ ist ein Begriff aus der Topografie: Reicht er für Gemeinsames?", fragte er die Zuhörer am Montag Morgen. Seine Antwort fiel differenziert aus. Gemeinsamkeiten seien schon vorhanden: Die Bergregionen seien klimatisch verletzlich, die Böden fragil, die Infrastruktur teuer und die Bevölkerung ein Stück weit isoliert. Martin wies aber auch auf die Unterschiede bei den politischen Rahmenbedingungen, beim Zugang zum Transport und bei alternativen Erwerbsmöglichkeiten.
Fehlendes Verständnis behindert den Schutz
Das grösste Hindernis ist für Martin aber, dass Berggebiete ungenügend verstanden werden. Die Schutz der Meere, der tropischen Wälder und selbst der Seen, Flüsse und Bäche habe höhere Priorität als der Schutz der Berge. Dass sei dramatisch, weil der weltweite Klimawandel die Berggebiete besonders bedrohe und dieser Klimawandel ferner die Folge von Übernutzung an anderen Orten sei. Und während im Tiefland die Übernutzung die Artenvielfalt gefährde, führe in den Bergen die Unternutzung zum Verlust von Biodiversität und Kultur.
"Wir müssen mehr und besser kommunizieren, wenn wir die Probleme lösen möchten", betonte der WWF-Direktor. Denn dass die lebenswichtige Funktion der Bergregionen als Wasserschlösser und als wichtiges Reservoir für viele Pflanzen und Tiere kaum anerkannt werde, behindere ihren Schutz. Die Vielfalt der Bergflora untermauerte Martin mit Zahlen: Allein in den Alpen sind rund 4,500 Arten von Gräsern, Farnen, Blumen und Bäumen (so genannte Gefässpflanzen) beheimatet, ein Zehntel von ihnen kommt nur dort vor. Je nach Boden, Lage und Nährstoffangebot gruppiere sich diese in rund 900 verschiedene Pflanzengemeinschaften, von denen ein Viertel von traditioneller Landnutzung abhängig ist. Eine Tatsache, die Bundesrat Couchepin zu verkennen scheint. Im Gespräch mit dem LID gab er sich sicher, dass die von ihm vorgeschlagene Aufhebung der Milchkontingentierung die Landschaft in den Schweizer Bergen nicht verändern werde. Dass die Milchproduktion ohne Kontingentierung ins Tal abwandert, ist für ihn eine leere Behauptung der Talbauern. "Die Bergbauern sind mit der Agrarpolitik zufrieden", gab er sich überzeugt.
Von Adelboden nach Johannesburg und Bishkek
mo. Die Konferenz über nachhaltige Landwirtschaft und ländliche Entwicklung in Bergregionen (SARD-Mountains 2002) in Adelboden ist eine der Hauptveranstaltungen des Internationalen Jahres der Berge 2002. Eine Grundlage für das Jahr der Berge bildet die Agenda 21 – eine allgemeine Richtschnur für nachhaltige Entwicklung –, die 1992 in Rio verabschiedet wurde. Kapitel 13 ist den Bergen gewidmet, Kapitel 14 der Landwirtschaft. Diese zwei Kapitel standen im Mittelpunkt von SARD-Mountains 2002.
Die Deklaration, welche die 200 Konferenzteilnehmer von Adelboden am Donnerstag, 20. Juni verabschieden, soll in den Weltgipfel über Nachhaltige Entwicklung (Rio +10) einfliessen, der vom 26. August bis zum 4. September in Johannesburg stattfindet. Bei Redaktionsschluss lag der erste Entwurf der "Deklaration von Adelboden" vor. Darin wird betont, dass eine nachhaltige Entwicklung in Bergregionen mit anderen Kapiteln der Agenda 21 zusammenhänge, wie Armut, Gesundheit, Boden, Biodiversität und Wasser. Für mehr Nachhaltigkeit brauche es einen ganzheitlichen, integrativen und flexiblen Ansatz und die Bergbevölkerung müsse aktiv teilnehmen. Die Deklaration hält fest, dass die Landwirtschaft eine Schlüsselrolle für eine nachhaltige Entwicklung in Bergregionen spielt und dass dafür eine ebensolche Entwicklung in allen anderen Regionen braucht.
Neben der Deklaration soll die Konferenz konkrete Vorschläge für Projekte und Partnerschaften liefern. Ganz im Sinne von WWF-Generaldirektor Claude Martin. Er forderte die Kongressteilnehmer auf, nicht lokal oder international, sondern regional zu planen – und dabei die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekte zu berücksichtigen. "Innerhalb einer Region ist lernen möglich", sagte er. Abgeschlossen wird das Internationale Jahr der Berge mit einer Konferenz in Bishkek, Kirgistan vom 29. Oktober bis zum 1. November.
Von der Selbstversorgung zur Landschaftsgärtnerei
Dagegen zeigte der Historiker Peter Moser auf, dass seit der Staatsgründung 1848 die Macht zwischen industrialisierten Gebieten des Mittellandes und den landwirtschaftlich genutzten Bergregionen ungleich zu Ungunsten des Berggebietes verteilt ist. Auslöser war laut Moser, dass sich viele Bergregionen gegen die Staatsgründung gewehrt hatten. Die politischen Repräsentanten der Berggebiete seien deshalb von vielen als "eingefleischte Feinde des Gesamtvaterlandes" betrachtet worden, sagte er gemäss Redetext. Das Majorzsystem habe weiter dazu beigetragen, dass die Berggebietsvertreter wenig zu sagen hatten.
Erst Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts habe sich das Verhältnis gewandelt. Ein wichtiger Punkt war, dass die Talbauern wegen den billigen Getreideimporten von Getreidebau auf Viehwirtschaft umstellten. "Bauern und Käser bezogen zumindest einen Teil ihrer Kenntnisse über Viehzucht und Käseherstellung in den Berggebieten", sagte Moser. Zur Integration des Berggebietes trug auch die Nahrungsmittelindustrie bei. Sie warb für ihre vorwiegend im Mittelland hergestellte Milchschokolade und Kondensmilch mit Sennen und alpinen Landschaften.
Dennoch verloren die Berggebiete laut Moser bis heute an Bedeutung. Sie wurden zunehmend zu Spezialfällen und Problemgebieten, die Ratschlägen und Hilfe von aussen brauchten. Nach dem zweiten Weltkrieg driftete die ökonomischen Entwicklung zwischen Berggebieten und Mittelland weiter auseinander. Die Bergbauern konnte mit den enormen Produktivitätsfortschritten der Talbauern nicht mithalten. Zudem gab es in den Zentren eine grosse Nachfrage nach Arbeitskräften und die Agrarwissenschaft zeigte, dass den kleinen Bergbauern mit agrarpolitischen Massnahmen nicht zu helfen ist. Deshalb wurde die Politik in den 60er-Jahren geändert, so der Historiker: Aus Bergbauernpolitik wurde Berggebietspolitik. Dazu kam, dass die Berglandwirtschaft durch die touristische Entwicklung zur Dienstleistungsbranche wurde. Anstatt Selbstversorger wurden die Bergbauern Landschaftsgärtner. Moser bezweifelte in Adelboden, dass diese Strategie zukunftsträchtig ist. Was einzelbetrieblich eine gute Lösung sein könne, sei volkswirtschaftlich und ökologisch oft keineswegs sinnvoll. Zukunftsfähig wäre viel mehr, die Pflanzen, den Wald und die Tiere zu nutzen und Erdöl, Kohle und Metalle sparsam zu verbrauchen.
Nutzung ist besser als Schutz
Hintergrund ist die von Moser immer wieder thematisierte Ressourcennutzung. Er unterscheidet zwischen biotischen Ressourcen wie Pflanzen und Tieren, die immer wieder genutzt werden können, und mineralischen Ressourcen wie Erdöl, Kohle und Metalle, die nur einmal verbraucht werden können. Heute werde auch in der Berglandwirtschaft ein Konflikt zwischen Nutzen und Schützen diagnostiziert – und daraus werde abgeleitet, dass jeder freiwillige Verzicht auf Nutzung durch die Landwirtschaft begrüssenswert sei. Zu dieser Haltung komme man nur, weil man den Verbrauch nicht thematisiere. So tendiere man dazu, Wald und Landschaft zu schützen, die man eigentlich nutzen könnte, und gleichzeitig Erdöl und Metallvorräte nicht zu schützen, obwohl man sie nur einmal verbrauchen könne.
Landwirtschaft ist wichtig, aber nicht alles
Die Rolle der Landwirtschaft thematisierte der Agrarwirtschafter Bernard Lehmann noch ausführlicher. "Die Landwirtschaft spielt in den Bergregionen der ganzen Welt eine Rolle, aber sie allein genügt nicht für eine nachhaltige Entwicklung", sagte der ETH-Professor. Er wies insbesondere darauf hin, dass die Rolle der Berglandwirtschaft regional sehr verschieden sein kann, je nach dem ob eine Region vor allem landwirtschaftlich oder touristisch geprägt ist und ob sie abgelegen ist oder nicht. Für alle Bergbauern gilt jedoch, dass auf ihren Feldern weniger wächst als im Flachland und sie deshalb auf den Agrarmärkten weniger wettbewerbsfähig sind, so lange sie dasselbe produzieren wie ihre Kollegen im Flachland. Bergbauern sind auch benachteiligt, weil sie an abgelegenen Orten wirtschaften – Distanzkosten heisst das in der Sprache der Ökonomen. Diese ungüstigeren Voraussetzungen drücken auf die Einkommen. Alles zusammen erhöht das Risiko der Abwanderung ins Flachland. "Je höher der ökonomische Wohlstand in urbanen Räumen ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Berglandwirtschaft über den Markt allein ihre Menschen genügend oder befriedigend zu entschädigen vermag", fasste Agrarökonom Lehmann die Situation der Bergler zusammen. Kommt dazu, dass die urbanen Regionen, mindestens in Industrieländern, immer attraktiver werden: Sie bieten bessere Ausbildungsmöglichkeiten, vielfältigere Arbeitsplätze und mehr Freizeitaktivitäten.
Selber aktiv werden
Wenn die Bergbauern am Markt nicht konkurrieren können, wird es wichtiger, dass ihre so genannt nicht-marktfähigen Leistungen wie der Schutz der Landschaft, des Wassers und der Biodiversität entsprechend bezahlt werden, wie das in der Schweiz mit den Direktzahlungen geschieht. Lehmann forderte die Bergbevölkerung aber auch auf, ihre eigenen Möglichkeiten zu nutzen: Sich spezialisieren, typische Produkte herstellen, mehr Wertschöpfung vor Ort erzielen waren Stichworte dazu.
Historiker Peter Moser wurde noch deutlicher: "Der weniger mächtige Partner muss nach neuen, kreativen Lösungen suchen." Wenn er die ihm offerierten Perspektiven einfach akzeptiere und nur selber ausgestalte, trage er in der Regel zu seiner Marginalisierung selber bei. "Hören sie auf die Bewohner der Berggebiete. Diese haben zwar nicht die Lösungen, aber die zentralen Fragen. Und die sind die Grundlage für tragfähige Lösungen", steht in Mosers Redetext zum Schluss.