Am Schluss ging es einfach nicht mehr. Die Familie, der Nebenerwerb – er als Sanitärinstallateur, sie als Geologin –, dazu der Bauernbetrieb mit 20 Milchkühen. Zu gross war die Belastung geworden. Fabiola und Adolf Koller, die im luzernischen Willisau einen 12-Hektaren Betrieb bewirtschaften, waren an einem Punkt angelangt, wo sie wussten: So geht es nicht weiter. Dabei hatten sie fest auf die Milchproduktion gesetzt, als sie im Jahr 2000 den Hof von Adolf Kollers Eltern übernahmen. Dem allgemeinen Trend folgend, haben sie das gemacht, was alle Bauern, landauf, landab, machen: wachsen, wachsen, wachsen. Mittels Zukauf von Lieferrechten konnten die Kollers die Milchproduktion mehr als verdoppeln. Möglichst viel wollten sie aus ihren Hochleistungskühen herausholen. In dem Masse, wie die Kollers ihren Betrieb ausgebaut haben, sank aber der Milchpreis. "Solange wir 80 Rappen pro Kilo erhielten, ging alles gut", erklärt Fabiola Koller. Am Schluss zahlten ihnen die Verarbeiter gerade noch 60 Rappen für ein Kilo Milch. Zu wenig. Die geringeren Einnahmen, versuchten sie mit einer weiteren Steigerung der Produktion zu kompensieren. Es war ein Kampf gegen Windmühlen, den die Kollers nicht gewinnen konnten. Denn die Kosten für den Zukauf von Futter stiegen schneller als die Einnahmen. "Das Verhältnis zwischen Ertrag und Aufwand stimmte einfach nicht mehr", sagt Fabiola Koller. Dazu kam, dass der in den 1970er Jahren errichtete Stall nicht mehr den heutigen Tierschutzanforderungen entsprach und deshalb hätte umgebaut werden müssen. Eine Investition, welche die Kosten nochmals in die Höhe getrieben hätte.
Steigende Milchmenge drückt auf Preise
Der Milchmarkt ist nach dem Ende der Kontingentierung aus den Fugen geraten: Die Bauern begannen, ihre Produktion fortwährend auszudehnen. 2011 haben sie mit 3,47 Mio. Tonnen so viel gemolken wie noch nie und weit mehr, als nachgefragt wird. Aus der überschüssigen Milch wird primär Butter produziert, die ins Ausland exportiert werden muss. Ein Verlustgeschäft. Im letzten Jahr wurden über 9'000 Tonnen Butter verramscht. Der Dachverband der Schweizer Milchproduzenten (SMP) fordert seit langem ein Instrument zur Mengensteuerung, mit dem sich Angebot und Nachfrage in Einklang bringen lassen – bislang allerdings ohne Erfolg. Derweil dreht sich die Preisspirale weiter nach unten. Mit jedem Rappen, den die Verarbeiter den Bauern weniger bezahlen für ihre Milch, wandern schweizweit 34 Mio. Franken weniger in die Taschen der Landwirte, hat die Organisation "Bäuerliche Interessen-Gruppe für Marktkampf" (Big-M) ausgerechnet. Seit 2008 sei der Milchpreis um 17 Rappen gesunken, womit den Bauern eine halbe Milliarde Franken entgingen – pro Jahr.
Mutter- statt Milchkühe
Die Kollers hielten Ausschau nach Alternativen zur Milchproduktion. Adolf Koller, der in der Freizeit auf die Jagd geht, wollte zunächst Hirsche züchten. Eine Beratung durch das Berufsbildungszentrum Natur und Ernährung des Kantons Luzern ergab eine Lösung, die mehr Sinn machte: Mutterkühe. Dann ging alles ganz schnell. Ein Viehhändler kam auf den Hof, schätzte jede Milchkuh einzeln ein und holte sie dann Stück für Stück ab. Ende April 2011 verliess das letzte Tier den Hof der Familie Koller. Auf dem Hof Bleicheweid ging damit ein Kapitel zu Ende: Rund 100 Jahre haben Kollers Milchwirtschaft betrieben. "Ich habe zuerst gedacht, dass dieser Moment extrem emotional werden wird. Am Schluss war ich einfach nur froh. Ich habe mich auf die Mutterkühe gefreut", sagt ein lachender Adolf Koller. Diese kamen dann einen Tag, nachdem der Viehhändler die letzte Milchkuh abtransportiert hatte.
Bauernfamilien sind gefährdet
Die Familie Koller ist kein Einzelfall. Mit ihr haben im Jahr 2011 weitere 873 Bauern den Melkstuhl endgültig an den Nagel gehängt. Seit Jahrzehnten nimmt die Anzahl Milchbauern ab. Und auch die Produzentenpreise entwickeln sich – mit Ausnahme von 2008 – seit Jahren nur in eine Richtung: nach unten. Erhielt ein Bauer 1992 noch rund einen Franken pro kg Milch, waren es im Mai 2012 gerade noch 55 Rappen (Molkereimilch). Seit 40 Jahren seien die Produzentenpreise nicht mehr so tief gewesen, rechnete die Berner Bauernorganisation LOBAG vor. Doch die Talsohle scheint noch nicht erreicht zu sein. Vor wenigen Tagen haben die beiden Milchverarbeiter Emmi und Hochdorf eine weitere Preissenkung angekündigt. Der Schweizerische Bauernverband (SBV) zeigte sich alarmiert: Immer mehr Milchbauern befänden sich in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage, denn bei den aktuellen Preisen könne kein Bauer kostendeckend Milch produzieren.
Nur bei Gruyère-Milch sind Preise nicht im Keller
Der Leidensdruck unter den Bauern ist unterschiedlich. Denn je nach Abnehmer und Verwendung der Milch werden andere Preise gezahlt. Am meisten unter Druck sind Landwirte, die konventionelle Molkereimilch (wird etwa zur Herstellung von Trinkmilch oder Joghurt gebraucht) produzieren. Pro Kilo erhielten sie im letzten Mai lediglich 56 Rappen (Bio-Milch 70 Rp.). Besser haben es Bauern, deren Milch zu Käse verarbeitet wird. Allerdings ist hier das Spektrum gross: Während Produzenten von Gruyère-Milch im Mai knapp 80 Rappen bezahlt wurde, erhielten Bauern, aus deren Milch Emmentaler Käse hergestellt wird, nur rund 60 Rappen. Anders ausgedrückt: Bei einer Einlieferung von 132'000 kg Milch (entspricht der durchschnittlichen Produktion eines Bauern im Jahr 2011) erhielt ein Produzent von Gruyère-Milch 26'400 Franken mehr als ein Emmentaler-Lieferant. Gross ist der Druck sowohl bei kleinen als auch bei grossen Betrieben. Denn alleine mit einer grossen Milchmenge lassen sich die tiefen Preise nicht wettmachen. Das zeigt die Auswertung der Vollkostenrechnungen von 116 Talbetrieben mit weniger als 65 Rp. Milchpreis für die Jahre 2008-2010. So kamen diejenigen 25 Prozent der Bauern mit der höchsten Milchmenge (knapp 400'000 kg) auf einen Stundenlohn von 12 Franken, während diejenigen Betriebe mit der tiefsten Milchmenge (113'000 kg) einen Arbeitsverdienst von 11 Franken erwirtschafteten. Entscheidender sind aber die Kosten: Gerade Wachstumsbetriebe, die Futter zukaufen müssten, in Maschinen und Gebäude investiert haben oder Lieferrechte zugekauft hätten und deren Fremdkosten deshalb hoch seien, litten am meisten unter sinkenden Preisen, erklärt Thomas Haas vom Luzerner Berufsbildungszentrum Natur und Ernährung, der die Vollkostenrechnung im Auftrag der Agridea analysiert hat.
Trotz tiefen Preisen steigen nicht mehr Bauern aus
Dennoch: "Die tiefen Milchpreise führen nicht zu einer beschleunigten Aufgabe der Milchproduktion", erklärt Christoph Grosjean-Sommer, Mediensprecher des Dachverbandes der Schweizer Milchproduzenten (SMP). Das zeigten die Zahlen der vergangenen Jahre. Die Gründe seien vielfältig. Bauern, die in den letzten Jahren in die Vergrösserung ihres Betriebes investiert hätten, könnten sich einen Ausstieg gar nicht leisten. Andere wiederum, die einen längst abbezahlten Hof besässen, würden weitermachen. Mit ein Grund, warum Bauern angesichts der Misere auf Milchmarkt nicht vermehrt ausstiegen, sei das Fehlen von Alternativen. Andere wiederum hielten sich mit einem Nebenerwerb über Wasser. Und für Betriebe mit hohen Direktzahlungen sei der Druck, das Melken aufzugeben, ohnehin geringer als für solche, die weitgehend vom Milchgeld leben würden. Und nicht zuletzt: "Bauer zu sein ist eben eine Lebenseinstellung – die Verbundenheit mit den Tieren und dem Hof, den eine Familie womöglich über Generationen bewirtschaftet hat, spielt eine wichtige Rolle", erklärt Grosjean-Sommer.
Nur ein Drittel ist gerüstet
Wichtigster Treiber des Strukturwandels ist hingegen der Generationenwechsel. In den nächsten 15 Jahren erreichen gemäss Grosjean-Sommer die Hälfte der heute rund 25'000 Milchbauern das Pensionsalter. Ob diese dann einen Nachfolger oder Nachfolgerin finden, hänge massgeblich vom erwartbaren Arbeitsverdienst ab. Betriebe, in welche nicht mehr investiert wurde, würden dann kaum weitergeführt werden. Grosjean-Sommer geht davon aus, dass lediglich ein Drittel der Betriebe in der Lage sind, ein akzeptables Einkommen zu erzielen, als auch die notwendigen Investitionen zu finanzieren. Bereits im nächsten Jahr könnte es zu einer Austritts-Welle kommen: Ab 1. September 2013 gelten neue Mindestmasse für die Haltung von Kühen. Bauern, deren Ställe den Vorschriften nicht genügen, müssen entweder umbauen, auf kleinere Kuhrassen umstellen – oder sich von der Milchproduktion verabschieden.
Glücklich mit Mutterkühen
Fabiola und Adolf Koller sind froh, diesen Schritt bereits gemacht zu haben. "Wir wollen nicht mehr zurück – nie mehr", sagt Adolf Koller. Und seine Frau ergänzt: "Heute haben wir wieder Freude am Bauern." Weil die Mutterkuh-Haltung weniger arbeitsintensiv ist als diejenige von Milchkühen, habe sich ihre Lebensqualität entscheidend verbessert. Ihren Nebenerwerb haben Fabiola und Adolf Koller beibehalten. An die einstige Milchproduktion erinnert nur noch etwas – eine Milchkanne. Diese habe man behalten wollen, erklärt Adolf Koller.
Vom übersättigten Milch- zum wachsenden Fleischmarkt
Der Wechsel von der Milch- zur Fleischproduktion ist gleichzeitig ein Wechsel von einem Überschuss- zu einem Wachstumsmarkt. Denn hochwertiges Fleisch aus Mutterkuhhaltung ist gefragt: "Egal ob Natura Beef, Natura Veal oder SwissPrimBeef: Die Nachfrage ist grösser als das Angebot", erklärt Urs Vogt, Geschäftsführer von Mutterkuh Schweiz. Naturnah produziertes Fleisch, das von Tieren stammt, die viel Auslauf haben und nur hofeigenes Grünfutter fressen, käme bei den Konsumenten an. Kollers wird's freuen.
