Weichen stellen, umdenken, Kurswechsel. Diese Worte waren an der vom Hilfswerk Swissaid organisierten Podiumsveranstaltung "Grüne Ökonomie – Chancen und Risiken für die Landwirtschaft" an der ETH Zürich häufig zu hören. Zwanzig Jahre nach der wegweisenden UNO-Konferenz zu Nachhaltiger Entwicklung in Rio de Janeiro trifft sich die Staatengemeinschaft im Juni erneut in der brasilianischen Metropole.
Der Fokus der Rio+20-Konferenz liegt auf der so genannten "Grünen Ökonomie" und auf "Grünen Technologien", die helfen sollen, die Wirtschaft in Ländern des Südens anzukurbeln und Armut und Hunger zu bekämpfen. Der Begriff "Grüne Ökonomie" ist vage. Grüne Energiegewinnung, grüne Industrie? Dies lässt bei vielen Entwicklungsexperten die Befürchtung aufkommen, dass die soziale und die ökologische Dimension einer Entwicklung im ländlichen Raum nicht gebührend berücksichtigt werden.
Nachhaltigkeit im Zentrum: Rio+20
ji. Die "Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung", kurz Rio+20, findet vom 20. bis 22. Juni in Rio de Janeiro statt. An der Konferenz werden Staats- und Regierungschefs aus aller Welt erwartet. Der Name Rio+20 bezieht sich auf die UN-Konferenz, die vor 20 Jahren ebenfalls in Rio stattgefunden hat und als Meilenstein in Sachen Umwelt und Entwicklung gilt. www.uncsd2012.org
Dass Fragen zur grundsätzlichen Ausrichtung der Landwirtschaft und der Entwicklung ländlicher Regionen gerade jetzt wieder aufs Tapet kommen, liegt nicht nur am Fahrplan der internationalen Kongressdiplomatie. Urs Wiesmann, Professor an der Universität Bern und Leiter der Abteilung integrative Geographie konnte aufzeigen, dass seit den 70er-Jahren sowohl die Lebensmittelproduktion pro Kopf gesteigert und die Anzahl Unterernährter gesenkt werden konnte, sich nun aber seit der Jahrtausendwende eine Wende zum Negativen abzeichnet. China schickt sich an, westliche Konsummuster zu kopieren, was mit erhöhtem Verzehr von Fleisch- und Milchprodukten einhergeht und den Bedarf an Futtergetreide ansteigen lässt. Hohe Preisausschläge im vergangenen Jahrzehnt sind auch Ausdruck knapper werdender Vorräte bei Grundnahrungsmitteln.
Überalterung auf dem Land
Mit dem Zustand der globalen Landwirtschaft steht es – zwanzig Jahre nach Rio – auch strukturell nicht zum Besten. Die Konzentration wirtschaftlicher Entwicklung im urbanen Raum führt dazu, dass die ländlichen Gebiete für die junge Generation immer unpopulärer werden. Peter Bieler, Leiter des Programms Ernährungssicherheit bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), erläuterte dies am ETH-Podium an einem Beispiel: "Das Alter aktiver Bäuerinnen auf den Philippinen beträgt mittlerweile 58 Jahre. Wir müssen zur Entwicklung im ländlichen Raum Verbindlichkeiten schaffen, damit dieser attraktiv bleibt."
Nicht nur bleibt die Landwirtschaft in Ländern des Südens unter ihren produktiven Möglichkeiten. Auch vernichten massive Nachernteverluste 20 Prozent, mancherorts gar 50 Prozent, der Produktion. Der Verderb von Nahrungsmitteln könnte durch angepasste Investitionen in Lagerung und Transport weitgehend verhindert werden, ohne dass die Produktion mit fragwürdigen Mitteln massiv intensiviert werden müsste.
Immer häufiger konkurrieren Grossinvestoren (aus China, Südafrika usw.) mit einheimischen Landwirten um das knappe Land und um Wasserressourcen. Konflikte sind unausweichlich, wenn hierbei Gewohnheitsrechte von Kleinbauern tangiert werden. Solche transnationale Landnahmen sind als Phänomen komplex; diese werden nun in einer internationalen Datenbank von Forschungsinstituten – darunter die Universität Bern – dokumentiert. Die Fakten: Ein Viertel der Landerwerbe betrifft bewaldetes Gebiet. Zwei Drittel aller internationalen Landinvestitionen werden in Ländern getätigt, deren Bevölkerung unterernährt ist. Knapp die Hälfte aller grossflächigen Landnahmen findet in Gebieten kleinräumiger Agrarstrukturen statt. In Lateinamerika müssen sich landlose Bauern zu schlechten Bedingungen als Landarbeiter in Grossplantagen verdingen. Fatal ist es auch, wenn Grossbetriebe für die Herstellung von Agrartreibstoffen entstehen; Land, das für die Produktion von Nahrungsmitteln fehlt.
Kleinbetriebe - kein Auslaufmodell
Auch wenn weltweit Grossfarmen rund die Hälfte allen Getreides für eine global stark anwachsende urbane Bevölkerung liefern, bleiben sie Ausdruck des westlichen Agrarsonderwegs: Steigerung der Flächenproduktivität bei gleichzeitiger Mechanisierung und hohem Einsatz von – meist fossiler – Fremdenergie. Der Fokus der Entwicklungsexperten liegt nun auf den rund 525 Millionen kleinbäuerlichen Betriebe, die rund sieben Zehntel der Nahrungsmittel weltweit bereit stellen. Dazu Wiesmann: "Lange Zeit galt die Annahme, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft ein verschwindendes Phänomen sei. Inzwischen ist klar geworden, dass die ländliche Bevölkerung auch bei anhaltendem Urbanisierungstrend in absoluten Zahlen gleich bleiben wird." Nebst Klimavariabilität, Wasserkonflikten und drohender Bodendegradation kämpfen Kleinbauern mit Markt- und Preisunsicherheiten und limitierter Arbeitskraft. Die Kunst sei es, Risiken in Chancen umzuwandeln. Dies kann gelingen: Bauern aus Laos nahe an der Grenze zu Thailand gelegen, nutzen die Gunst der guten Lage und beliefern das reichere Nachbarland mit Lebensmitteln; damit verbessern sie ihre eigene wirtschaftliche Lage markant. Und Bauern im südlichen Afrika umgehen die Zwischenhändler, indem sie Marktpreise in städtischen Märkten übers Mobiltelefon abfragen.
Privatwirtschaft oder Staat?
Der Konsens an der ETH-Tagung: Der Handlungsspielraum kleinbäuerlicher Familienbetriebe soll durch Mehrwissen erhöht, die Rechte der Frauen im ländlichen Milieu gestärkt werden. Der Dissens: Coop-Exponentin Sybil Anwander Phan-Huy plädierte für eine Zusammenarbeit von Privatwirtschaft – Abnehmer wie Saatgutanbieter – und Staat, um die Agrarforschung wieder anzukurbeln. Hans Herren, Präsident der Stiftung Biovision, will diese in der Verantwortung des Staates belassen. Die Hälfte der Agrarzuschüsse reicher Staaten in der Höhe von über 300 Milliarden Dollar soll zudem gestrichen und das verbleibende Geld weltweit für den Umbau in eine nachhaltigere Landwirtschaft umgeleitet werden.
Die Schweiz gehört zu denjenigen Staaten, welche an der Rio+20-Konferenz die Bedeutung von Landwirtschaft, Ernährungssicherheit und dezentraler Besiedlung hervorheben wollen, bekräftigten DEZA-Direktor Martin Dahinden und Alessandra Silauri vom Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Dazu gehört beispielsweise, dass im Vorfeld zur Konferenz Schweizer Experten an Richtlinien zum bäuerlichen Bodenrecht mitarbeiteten. Mit der Fokussierung auf die Stärkung agrarischer Kleinstrukturen im Hinterland der Megametropolen sei, so Peter Bieler von der DEZA, zumindest eines gewonnen: "Der abgelutschte Begriff Nachhaltigkeit gewinnt so mehr Verbindlichkeit und konkrete Form."
