Das Nitrat im Gemüse ist nicht mehr, was es einmal war: Statt als Hauptverursacher von so gefürchteten Krankheiten wie Magenkrebs gilt es heute nur noch als einer von vielen Faktoren, der nur im Zusammenspiel mit diesen und nur in hohen Mengen zu solchen Erkrankungen beitragen kann. Demgegenüber ist heute wissenschaftlich erwiesen, dass der Konsum von Gemüse – und von Früchten – das Krebsrisiko erheblich verringern hilft. Und dies selbst dann, wenn das Gemüse mehr Nitrat enthält als heute in der Schweiz erlaubt ist.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist denn auch zu der neuen Erkenntnis gelangt, dass der gesundheitliche Nutzen des Gemüsekonsums viel grösser sei als die mit dem Nitrat verbundenen Risiken. Ab dem kommenden Sommer soll Gemüse deshalb mehr Nitrat enthalten dürfen als bisher: Das BAG schlägt dem Innendepartement von Bundesrätin Ruth Dreifuss vor, die entsprechenden strengen Toleranz- und Grenzwerte auf das in der EU geltende höhere Niveau anzuheben. In den Genuss der neuen Regelung kommen gemäss einer Publikation im jüngsten BAG-Bulletin jene Gemüsearten, für die in der EU harmonisierte Höchstkonzentrationen gelten, sowie einige Sorten, für die die wichtigsten Nachbarländer der Schweiz Regelungen getroffen haben. Konkret geht es um Blattsalate, Spinat, Knollenfenchel, Chinakohl und Kohlarten ausser Kohlrabi.
BAG: "Esst mehr Früchte und Gemüse"
Doch der Kurswechsel der Gesundheitsbehörde geht noch weiter: Statt vor erhöhten Nitratpegeln zu warnen, erwägt das BAG nun sogar, öffentlich für mehr Gemüse- und Früchtekonsum zu werben.
Das freut vor allem die Gemüseproduzenten. Seit 20 Jahren unternahmen sie zusammen mit Importeuren und Händlern grosse Anstrengungen, um den Nitratgehalt im Gemüse zu senken. Es gibt praxisbezogene Anleitungen, Checklisten und Empfehlungen, wie die technisch unvermeidbaren Nitratkonzentrationen auf ein Minimum beschränkt werden können. Die entsprechenden Massnahmen erhöhten die Produktionskosten und konnten dennoch die Verunsicherung bei der Konsumentenschaft nicht vollends ausräumen. Vor allem in den Wintermonaten nimmt der Gemüsekonsum in der Regel ab, denn Gemüse aus dem Glas- oder Treibhaus enthält mehr Nitrat als im Freiland geerntetes Gemüse. Fast noch mehr als über die vorgeschlagene Erhöhung der Nitrat-Toleranzwerte freuen die Produzenten sich denn auch über die vom BAG erwogenen Werbekampagnen zur Förderung des Gemüsekonsums. "Dies wäre mit Sicherheit eine gewisse Entschädigung für die durch das ‚Nitratgespenst’ erlittenen Einkommenseinbussen des Schweizer Gemüsebaus," schreibt der Verband schweizerischer Gemüseproduzenten in einer Stellungnahme.
Kaum mehr Krebs durch Nitrat...
Doch wie kam es zu dem Schwenker des BAG? – Zum einen haben verschiedene in den letzten Jahren publizierte wissenschaftliche Studien ein Umdenken bewirkt. So wies in den Neunzigerjahren eine Untersuchung nach, dass der menschliche Organisamus selbst Nitrat bildet, und zwar etwa gleich viel, wie der Mensch täglich durch die Nahrung aufnimmt. Gegen diese "endogene" Nitratbildung entwickle der Körper offenbar Schutzmechanismen, folgerten die Forscher. Aber auch exogen, also von aussen zugeführte Nitrate scheinen ihm direkt wenig anhaben zu können: Bei einer epidemiologischen Studie zeigte sich, dass Personen, die durch Trinkwasser, Gemüseverzehr oder berufliche Exposition via Dünger überdurchschnittlich viel Nitrat aufnahmen, nicht mehr Neigung zur Bildung von Tumoren – auch nicht von Magenkrebs – aufwiesen als die Angehörigen von Kontrollgruppen. Auch eine Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation WHO kaum 1996 zu dem Schluss, dass es für einen Zusammenhang zwischen Nitratexposition und Krebshäufigkeit nicht genügend Hinweise gebe. Einzig für mit der Flasche ernährte Säuglinge hielt die WHO an einem Höchstwert zur Verringerung gewisser Risiken fest.
... aber sicher weniger Krebs dank Gemüse
Zum andern erachtet das BAG es heute als "vollumfänglich bestätigt", dass ein Zusammenhang besteht zwischen einem hohen Früchte- und Gemüsekonsum und geringeren Krebsrisiken. Welche Früchte und welche Gemüsearten für die Schutzwirkung verantwortlich sind und welche Inhaltsstoffe dabei eine Rolle spielen, sei allerdings bis heute nicht klar, schreibt das BAG in seinem Bulletin. Die Behörde empfiehlt der schweizerischen Bevölkerung deshalb, täglich mindestens drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Früchte zu konsumieren. Eine schweizerische Umfrage bei 15,000 Personen habe ergeben, dass rund 30 Prozent der Befragten zu wenig Früchte und 17 Prozent zu wenig Gemüse essen.
Schliesslich will das BAG seine Haltung gegenüber dem Nitrat aber auch aus aussenhandelspolitischen Gründen ändern. Denn die EU hat auf den 1. Januar 1998 die Toleranzwerte für Nitrat bei Salaten und Spinat harmonisert – das heisst, in allen 15 Mitgliedstaaten gelten die gleichen Werte. Mit der vorgesehenen Anpassung des schweizerischen Nitratregimes soll somit auch ein technisches Handelshemmnis beseitigt werden.
Selbst doppelter Gemüsekonsum wenig riskant
Falls das Departement des Innern (EDI) dem Vorschlag des BAG folgt und die Toleranzwerte erhöht, dürfte die mittlere Nitratkonzentration gesamtschweizerisch um 5 bis 10 Prozent steigen, schätzt das BAG. Weil die Schweizerinnen und Schweizer seit einigen Jahren immer weniger von dem nitratreichen Kopfsalat essen und diesen immer häufiger durch Eisberg, Batavia- und Krachsalat ersetzen, die von der Natur her zu tieferen Nitratkonzentrationen neigen, sei keine wesentliche Erhöhung der effektiven Nitratexposition der Bevölkerung zu erwarten. Und den gesundheitlichen Nutzen des Gemüsekonsums stuft das BAG inzwischen derart hoch ein, dass es das möglicherweise durch Nitrat verursachte Risiko als vernachlässigbar betrachtet – selbst dann, wenn die Schweizerinnen und Schweizer dereinst doppelt so viel Gemüse essen sollten wie heute.
Unerwünscht, aber im Gemüse unvermeidbar
LID. Nitrat ist ein natürlicher, besonders im Boden gebildeter Stoff. Er ist die wichtigste Stickstoffquelle für die Pflanzenernährung und ist deshalb im Gemüse unvermeidlich. Im Gegensatz zum menschlichen Organismus können Pflanzen und gewisse Mikroorganismen Nitrat zum Aufbau von Proteinen verwenden. Von Bedeutung für die Nitratexposition via Gemüse sind vor allem Blattgemüse (Salate, Nüsslersalat, Spinat), Randen, Kohl sowie Kohlrabi. Die Nitratkonzentrationen von Gemüse variieren sehr stark, auch innerhalb einer Gemüseart.
Von Einfluss auf die Nitratkonzentration im Gemüse sind neben den sortenspezifischen Eigenschaften unter anderem die Düngung, das Klima, die Bodeneigenschaften und die Art der Bodenbearbeitung.
Für den Menschen galt Nitrat bis vor kurzem als gefährlich, weil es in Nitrit umgewandelt werden kann und deshalb verdächtigt wurde, an der Bildung der krebserregenden Nitrosamine beteiligt zu sein. Der Mensch nimmt Nitrat hauptsächlich über Gemüse und Trinkwasser auf. Gemäss heutigem Wissensstand wird Nitrat allerdings auch im menschlichen Körper gebildet. Laut dem Bundesamt für Gesundheitswesen bleibt Nitrat zwar ein unerwünschter, jedoch unvermeidbarer pflanzlicher Inhaltsstoff. Bei "guter landwirtschaftlicher Praxis" könne der Nitratgehalt von Gemüse im allgemeinen niedrig gehalten werden. Im Trinkwasser sind hohe Nitratkonzentrationen grundsätzlich vermeidbar.